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Monster im Kopf

Ein Film von Christina Ebelt. 

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Hochschwanger sitzt Sandra im Gefängnis und kämpft ener­gisch dar­um, dass ihr Kind auch nach der Geburt bei ihr bleibt. Doch die Sozialarbeiterin und das Jugendamt sind skep­tisch, ob sie ihr das zutrau­en. Sie befürch­ten, wenn Sandra unter Druck gerät, fällt sie in alte Muster zurück und hat sich nicht im Griff. Erst durch geschickt in die Erzählung ein­ge­wo­be­ne Rückblenden erfah­ren wir, wie es über­haupt so weit kom­men konn­te.” (Filmfest München)
Das Impulsive, die Unberechenbarkeit und die Gewaltausbrüche der Hauptfigur machen es nicht leicht, einen Zugang zur Hauptperson zu fin­den, was aber genau die Intention des Films ist: Nicht durch eili­ge Schuldzuweisungen die Ambiguität der Protagonistin zu unter­lau­fen. Eine Figur voll­stän­dig ver­ste­hen zu kön­nen, viel­leicht auch beu­gen zu wol­len, wird in den bes­ten Momenten zurecht wider­spro­chen. So bleibt immer ein Rest in der Schwebe und wir dür­fen uns nur ein wenig nähern, was aber aus­reicht, um letzt­lich ein gro­ßes Mitgefühl zu erzeugen. 

Credits:

DE 2023, 94 Min.
Regie: Christina Ebelt
Kamera: Bernhard Keller
Schnitt: Florian Riedel
mit Franziska Hartmann, Slavko Popadić, Martina Eitner-Acheampong

Trailer:
MONSTER IM KOPF – Offizieller Trailer
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Totem

Tótem

Ein Film von Lila Avilés. 

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

In ihrem zwei­ten Film ver­lässt Lila Avilés die engen Hotelzimmer ihres Debüts „The Chambermaid”, aber der Zusammenhang zwi­schen mensch­li­chen Beziehungen und Innenräumen bleibt Thema. Schauplatz ist ein gro­ßes Haus, in dem Familie und Freund*innen ein zwei­fa­ches Ritual bege­hen: Der Maler und jun­ge Vater Tona hat Geburtstag, und da es wohl sein letz­ter ist, wird zugleich Abschied gefei­ert. Entsprechend hat auch der Film zwei Seelen: Hinter der Hektik und Spontaneität beim Vorbereiten und Feiern tut sich jene archa­isch-spi­ri­tu­el­le Tiefendimension auf, die im Titel anklingt. Tonas geschwäch­ter Körper bleibt zunächst unsicht­bar. Im schüt­zen­den Zimmer sam­melt er Kraft für die Zeremonie, bei der er die gan­ze Liebe und Zuneigung erfährt, die er für sei­ne letz­te Reise braucht. So sorg­sam wie der Patriarch sei­ne gelieb­ten Bonsaibäumchen gestal­tet Avilés ihre fil­mi­sche Miniatur, hilft Handlungslinien und Gefühlen auf den rich­ti­gen Weg, schnei­det Nebensächliches und Überflüssiges weg. Der Film berei­tet den Weggang eines Menschen vor, ist aber vol­ler Lebenszeichen und ‑for­men: Tiere, Insekten, Pflanzen und ein Defilee wun­der­ba­rer Menschen, ver­eint in der Kraft des Miteinanders.

Wie der Betrachter auf den ver­schie­de­nen Elementen und Details eines gro­ßen Gemäldes aus frü­he­ren Zeiten ver­weilt und dann den Blick wei­ter­zie­hen lässt, so erfasst auch der Film auf ruhi­ge und bedäch­ti­ge Weise die­se Familie in ihrer unge­wöhn­li­chen Situation, stellt mal den einen, mal die ande­re in den Mittelpunkt und wech­selt dann in den Nebenraum, nimmt eine ande­re Perspektive ein. Das gelingt. Ist span­nend und kurz­wei­lig. Denn als Zuschauer:in zeich­net man die­ses Familienportrait im Kopf nach, macht sich nach und nach ein Bild von jedem Einzelnen und der Familie als Ganzem. Dabei schweift der fil­mi­sche Blick auch ab und ent­wirft ganz neben­bei ganz unge­wöhn­li­che, aber groß­ar­ti­ge Kinobilder, die er durch das zurück­ge­nom­me­ne Sounddesign ein­mal mehr wir­ken lässt. ..” Verena Schmöller | kino-zeit.de

Credits:

MX DK FR 2023 95 Minuten
spa­ni­sche OmU (deut­sche und eng­li­sche Untertitel)
Regie, Buch: Lila Avilés
Kamera: Diego Tenorio
Schnitt: Omar Guzmán
mit: Naíma Sentíes
Monserrat Marañon
Marisol Gasé
Saori Gurza
Teresita Sánchez

Trailer:
TÓTEM – offi­zi­el­ler Kinotrailer – ab 09.11. im Kino
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Notes on a Summer

Ein Film von Diego Llorente.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Die „Kurzen Notizen eines Sommers“ – es wird viel per SMS kom­mu­ni­ziert – han­deln von der Mitt-Zwanzigerin Marta, Universitätsangestellte in Madrid. Sie gera­de mit ihrem Freund Leo zusam­men­ge­zo­gen und fährt anschlie­ßend für einen kur­zen Urlaub zurück in ihren Heimatort an die Atlantikküste im Norden Spaniens. So schön die Gegend dort ist, so abge­hängt ist sie öko­no­misch. Während die Hauptstadt für einen siche­ren Arbeitsplatz und eine sta­bi­le Beziehung steht, erscheint der jun­gen Frau Asturien als eine Art ver­lo­re­nes Paradies, wo sie sich zusam­men mit den Freundinnen zurück in die Teenager-Zeit bea­men kann. Dazu kommt dann noch die Begegnung mit mit ihrem Exfreund Pablo, dem sie einst den Laufpass gab. Das mög­li­che Abenteuer mit ihm reizt sie, und so wird die Beziehung, unver­bind­lich natür­lich, reak­ti­viert. Aber zur Hochzeit von Martas Freundin ist auch Leo ein­ge­la­den.
Es ist eine ein­fa­che, uni­ver­sel­le Geschichte, die uns Diego Llorente hier in klei­nen Alltagsvignetten anbie­tet, unauf­ge­regt mit Rohmerschem Touch und bewun­derns­wert natür­lich erzählt und gespielt.
Ein som­mer­li­cher Film über Lust und Liebe und Entscheidungen, die man tref­fen
muss (oder auch nicht).

Credits:

ES 2023, 83 Min., span. OmU
Regie: Diego Llorente
Kamera: Adrián Hernandez
Schnitt: Diego Llorente
mit: Katia Borlado, Antonio Araque, Álvaro Quintana, Rocío Suáre

Trailer:
Notes on a Summer (Trailer in HD)
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Das Versprechen – Architekt BV Doshi

Ein Film von Jan Schmidt-Garre.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Balkrishna Doshi ist 1927 gebo­ren, aber er war der jüngs­te Architekt der Welt. Alles, wor­über jun­ge Architekten heu­te dis­ku­tie­ren, setz­te er schon vor Jahrzehnten um.

Seit den 60er Jahren bau­te er nach­hal­tig: mit loka­len Materialien, ener­gie­spa­rend, mit natür­li­cher Klimatisierung.

Seit den 80er Jahren bau­te er sozi­al: kos­ten­güns­ti­ge Siedlungen, die von den Slum-Bewohnern der indi­schen Großstädte wei­ter­ent­wi­ckelt wur­den und ihnen den sozia­len Aufstieg ermöglichten.

2018 erhielt er dafür den Nobelpreis der Architektur, den Pritzker Architecture Prize.

Im Januar 2023 ver­starb BV Doshi hoch­be­tagt „als ein glück­li­cher Mensch“, wie Regisseur Jan Schmidt-Garre schreibt.

Ein ein­fühl­sa­mes Portrait eines gro­ßen Architekten, das die inni­ge Verbindung von Mensch und gebau­ter Umwelt beleuch­tet, die im Zentrum von Doshis Schaffen steht. Keiner der übli­chen Starchitecture-Filme, son­dern ein Blick auf den Menschen und auf das Indien, die Doshis Bauten geprägt haben.“

Credits:

Das Versprechen – Architekt BV Doshi
D 2023, 90 Min., engl. OmU
Regie: Jan Schmidt-Garre
Kamera: Diethard Prengel
Schnitt: Sarah. J. Levine

Trailer:
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Anatomie eines Falls

Ein Film von Justine Triet. 

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Cannes: Palme d’or 2023

Sie muss erst etwas erle­ben, bevor sie schrei­ben kann, sagt die Schriftstellerin Sandra (Sandra Hüller) zu der jun­gen Studentin, die sie für ihre Doktorarbeit inter­viewt. In einem abge­le­gen Chalet in den fran­zö­si­schen Alpen wohnt Sandra, die eigent­lich aus Deutschland stammt, wegen ihres Mannes aber nach Frankreich gezo­gen ist und die Sprache gut beherrscht. Doch in der Ehe mit Samuel (Samuel Theis) scheint es zu kri­seln, offen­bar um das Interview zu stö­ren lässt Samuel lau­te Musik laufen.

Kurz nach­dem die Studentin das Haus ver­las­sen hat wird Samuel tot auf­ge­fun­den, augen­schein­lich aus der drit­ten Etage des Chalets gestürzt, ob durch Selbstmord oder Fremdeinwirkung bleibt offen. Die Ermittlungen der Polizei geben kein kla­res Bild, das Fehlen von ein­deu­ti­gen Beweisen lässt auch Sandra als Tatverdächtige mög­lich wer­den. Zusammen mit ihrem Anwalt Vincent (Swann Arlaud) berei­tet sie sich auf eine mög­li­che Anklage vor und so kommt es auch: Die Autorin steht wegen Mord vor Gericht und auch ihr Sohn Daniel (Milo Machado-Graner) muss als Zeuge aussagen.

Weite Teile von Justine Triets „Anatomy of a Fall“ spie­len vor Gericht, minu­ti­ös wird die lang­wie­ri­ge Verhandlung geschil­dert, die Aussagen von Sandra, Daniel und ande­ren Zeugen. Doch auch wenn der Titel deut­lich auf Otto Premingers Klassiker „Anatomy of a Murder“ anspielt hat Triet ande­res im Sinn als einen blo­ßen Gerichtsfilm. Sie erzählt von der schwie­ri­gen, oft nicht zu beant­wor­ten­den Suche nach der Wahrheit, nach Fakten, vom meist zum schei­tern ver­ur­teil­ten Versuch, sich anhand von weni­gen Indizien, ver­spreng­ten Aussagen, Tonbandaufzeichnungen und ande­ren Hinweisen, ein kla­res Bild zu machen.

Unweigerlich muss man hier an #metoo den­ken, an die unzäh­li­gen Fälle, in denen in den letz­ten Jahren ein Mensch unter Verdacht geriet und schnell auf Grund weni­ger Hinweise, ein­zel­nen Zeugenaussagen von der öffent­li­chen Meinung ver­ur­teilt wur­de, mal zu recht, mal aber auch zu unrecht.

In „Anatomy of a Fall“ ist es nun inter­es­san­ter­wei­se eine Frau, deren Ambivalenzen sie ver­däch­tig macht, die aber vor allem eine kom­ple­xe Person ist, die nicht ein­fach auf einen kla­ren Nenner zu brin­gen ist. Allein die Sprache macht es schwie­rig: Als Deutsche in einem frem­den Land, gut Französisch spre­chend, aber vor Gericht dann doch auf das uni­ver­sel­le Englisch zurück­grei­fend, was aller­dings für kei­nen der Beteiligten die Muttersprache ist. Lost in Translation sozu­sa­gen, was erst recht für man­che Zeugenaussagen gilt, aber auch für schein­bar objek­ti­ve Tonbandaufnahmen. Einen Streit zwi­schen dem Paar hat­te Samuel ins­ge­heim auf­ge­nom­men, der nun als Beweis der Anklage dient. Doch wie ein­deu­tig ist das, was man da hört eigent­lich? Anfangs unter­legt Triet die Tonbandaufnahme noch mit den Bildern des Streites, spä­ter springt sie in den Gerichtssaal zurück, so dass man nur hört, aber kei­ne Bilder mehr sieht. Und wenn dann Geschirr zer­bricht, Dinge zu Boden fal­len muss man sich fra­gen, was denn da genau pas­siert ist und letzt­end­lich zum Schluss kom­men, dass man es nicht genau weiß.

Das mag unbe­frie­di­gend sein, gera­de vor Gericht, gera­de in der Realität, wenn es um #metoo-Vorwürfe geht, aber gera­de in sol­chen Fällen darf sich eine demo­kra­ti­sche Gesellschaft glück­lich schät­zen, dass die Unschuldsvermutung gilt. In die­sem Sinne ist es nur kon­se­quent, wie Justine Triet ihren Film enden lässt, wie sie sich einer kla­ren Antwort in Bezug auf Sandras Schuld ent­zieht. In der Rolle der undurch­schau­ba­ren Schriftstellerin bril­liert Sandra Hüller, die zum zwei­ten Mal mit Triet zusam­men­ar­bei­te­te und mit ihrer Darstellung stark dazu bei­getra­gen haben dürf­te, das ihre Regisseur als erst drit­te Frau nach Jane Campion und Julia Ducournau mit der Goldenen Palme aus­ge­zeich­net wurde.

Michael Meyns | programmkino.de

Credits:

Anatomie d’u­ne chu­te
FR 2023, 151 Min., frz. OmU
Regie: Justine Triet
Kamera: Simon Beaufils
Schnitt: Laurent Sénéchal
mit: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis, Jehnny Beth, Saadia Bentaïeb, Camille Rutherford

Trailer:
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Tori & Lokita

Ein Film von Luc und Jean-Pierre Dardenne.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Großaufnahme von Lokita (Joely Mbundu): Die 16-jäh­ri­ge aus Benin mit den kur­zen, jun­gen­haf­ten Haaren hat Angst. Trauer füllt ihre Augen, ganz leicht zuckt ihre Nase. Ansonsten blickt sie reg­los an der Kamera vor­bei, in die Enge gedrängt wie ein gefan­ge­nes Tier. Zu hören ist die Stimme einer Frau. Sie schießt Fragen ab wie Pfeile, knapp und mes­ser­scharf, als wäre dies ein Kreuzverhör vor Gericht. Aber Lokita sitzt nicht vor einem Ankläger. Sondern in einer Behörde, die berech­tig­te Anliegen sach­lich prü­fen soll. Das Mädchen braucht eine Aufenthaltsgenehmigung in Belgien. Dafür muss sie lügen, anders als Tori (Pablo Schils), ihr elf­jäh­ri­ger Kompagnon, den sie bei der Flucht übers Meer ken­nen gelernt und ins Herz geschlos­sen hat. Tori darf blei­ben, weil er unter 14 ist. Wäre Lokita Toris älte­re Schwester, bekä­me sie eben­falls einen Schutz vor Abschiebung, des­halb sagt sie die Unwahrheit. Die Frau in der Behörde scheint sol­che Strategien zu ken­nen. Sie bohrt nach, bleibt uner­bitt­lich, ver­langt schließ­lich einen DNA-Test. Als Lokita wie­der drau­ßen ist, bricht sie wei­nend zusammen.

Von der Frau in der Behörde ist nur die Stimme zu hören. Mit gutem Grund ver­wei­gern die Regisseure Luc und Jean-Pierre Dardenne, die auch gemein­sam das Drehbuch geschrie­ben haben, den Blick auf die Sachbearbeiterin. Ihnen geht es nicht um indi­vi­du­el­les Fehlverhalten, nicht um mög­li­cher­wei­se sadis­ti­sche Neigungen oder auch nur um ver­bor­ge­ne Vorurteile. Es geht um uns alle hier in Europa, die wir weg­schau­en vor dem unvor­stell­ba­ren Leid, das min­der­jäh­ri­gen Geflüchteten zuge­fügt wird, bis hin zu Sklaverei, sexu­el­lem Missbrauch oder gar Mord. Die Brüder Dardenne beschäf­tig­ten sich schon län­ger mit dem Thema, auch in ihrem vor­letz­ten Film „Das unbe­kann­te Mädchen“ (2016) spiel­te es eine Rolle. Den Anstoß zu „Tori und Lokita“, so erzäh­len sie es in einem Interview, gab dann ein Artikel dar­über, wie vie­le Jungen und Mädchen spur­los aus Notunterkünften und Wohngruppen ver­schwin­den. Es sol­len geschätzt 15 bis 20 Prozent der Aufgenommenen sein.

Bevor Lokita voll­ends in die Hände von Drogen- und Menschenhändlern gerät, ler­nen wir sie und Tori in knap­pen, berüh­ren­den Alltagssituationen ken­nen. Vor dem Schlafengehen albern sie mit­ein­an­der her­um wie ech­te Geschwister, kuscheln sich ins Bett, hel­fen ein­an­der mit einem Lied aus der Heimat in den Schlaf. Ihre Sangeskünste tra­gen sie auch in der Pizzeria vor, in der sie für einen Hungerlohn arbei­ten – ein ergrei­fen­der Moment. Ohne dass der Film es aus­spre­chen muss, machen die Bilder klar, wie innig die­se Freundschaft ist, die die bei­den alle Härten der Flucht hat über­ste­hen las­sen. Was auch immer die feind­li­che Umwelt den „Geschwistern“ antut – solan­ge sie ein­an­der haben, blei­ben sie bewun­derns­wert stark im Kampf um die nack­te Existenz. Die enge Bindung ist wich­ti­ger als alles, was man sonst zum Überleben braucht. Darauf zu ver­zich­ten, wird den bei­den zum Verhängnis, als sich Lokita dar­auf ein­lässt, als Gegenleistung für einen gefälsch­ten Pass für drei Monate eine gehei­me Cannabis-Plantage zu pfle­gen, wie in einem Gefängnis, ohne Ausgang, ein­ge­sperrt Tag und Nacht, selbst ohne Handy-Empfang.

Als der jüngs­te Film der Altmeister im Wettbewerb von Cannes 2022 Premiere hat­te, war­fen ihm Teile der Kritik vor, er tra­ge zum Werk der Brüder nichts Neues bei. Daran ist rich­tig, dass sich die inzwi­schen 71- und 74-Jährigen nicht neu erfin­den. Aber der Vorwurf über­sieht, wie bril­lant die Filmemacher inzwi­schen das Genre des Sozialrealismus beherr­schen, wie kon­zen­triert, öko­no­misch und straff ihr zwölf­ter Spielfilm die Handlung vor­an­treibt. Und vor allem, wie sie ihre cine­as­ti­sche Kunstfertigkeit dazu nut­zen, das Publikum teil­ha­ben zu las­sen an dem Schicksal der bei­den Geflüchteten. Dem Sog die­ser Bilder kann man sich nicht ent­zie­hen, Wegschauen wird ersetzt durch Empathie. Sich der Wahrheit stel­len zu müs­sen, mag nicht immer ange­nehm ein. Aber es wird zumin­dest gelin­dert durch die inten­si­ve Darstellung der bei­den Laienschauspieler.

Peter Gutting | programmkino.de

Credits:

BE/FR 2022, 88 Min., frz. OmU
Regie & Buch: Luc und Jean-Pierre Dardenne
Kamera: Benoît Dervaux
Schnitt: Marie-Hélène Dozo, Valène Leroy
mit: Pablo Schils, Joely Mbundu, Marc Zinga, Nadège Ouedraogo, Charlotte De Bruyne

Trailer:
TORI & LOKITA (2022) – Trailer 1
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Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste

Ein Film von Margarethe von Trotta.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Sie ist Österreicherin, er Schweizer, sie Lyrikerin, er Dramatiker, sie drauf­gän­ge­risch und ver­wund­bar, er ver­we­gen und biss­chen Biedermann: Ingeborg Bachmann und Max Frisch sind bereits so etwas wie inter­na­tio­na­le Stars der Kulturszene, als sie sich im Sommer 1958 in Paris erst­mals begeg­nen. Die vier Jahre danach ver­su­chen sie sich in gro­ßer Liebe und offe­ner Beziehung zwi­schen Zürich, sei­ner Heimatstadt, und Rom, ihrer Wahlheimat. Frisch nei­det ihr den Ruhm; Bachmann nervt sein Schreibmaschinengeratter und sei­ne Eifersucht sowie­so. Sie ist eman­zi­piert, ver­suchs­wei­se frei, mobil, pro­duk­tiv; in Berlin schreibt sie die berühm­te Rede „Die Wahrheit ist dem Menschen zumut­bar“. Dass und vor allem wie sehr sie lei­det, erkennt sie erst hin­ter­her, mit Adolf Opel in der Wüste, bei Hans Werner Henze in Italien. Von Trotta ver­webt die Zeiten des Vor- und Nach-der-Katastrophe. Sie insze­niert direkt, nüch­tern und ele­gant. Ronald Zehrfeld als kor­pu­len­ter Pfeifenraucher und Vicky Krieps (nach der Sisi in einer wei­te­ren Kultfigur-Rolle): kon­ge­ni­al. Nicht vom fata­len Ende Bachmanns han­delt die­ser Film, son­dern von ihrem Hoffen auf Liebe und Respekt, in der Literatur wie im Leben.

Credits:

Schweiz / Österreich / Deutschland / Luxemburg 2023
Deutsch, Französisch, Italienisch OmU
Regie & Buch: Margarethe von Trotta
Kamera: Martin Gschlacht
Schnitt: Hansjörg Weißbrich
Mit: Vicky Krieps, Ronald Zehrfeld, Tobias Resch, Basil Eidenbenz, Luna Wedler, Marc Limpach, Roberto Carpentieri, Katharina Schmalenberg

Trailer:
INGEBORG BACHMANN | Trailer deutsch | Jetzt im Kino!
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baghdad messi

Kurdisches Filmfestival Berlin 2023

Beim Kurdischen Filmfest, der größ­ten Veranstaltung zum kur­di­schen Film in Europa, zei­gen wir fol­gen­de Auswahl:
Samstag, 07.10. Kinderprogramm: 13:00
Das dop­pel­te Lottchen [Tickets], DE 2007, 82 Min., Regie: Michael Schaak Als Luise und Lotte sich begeg­nen, stel­len sie schnell fest, dass sie Zwillinge sind, die nach der Geburt getrennt wur­den. Sie tau­schen ihre Identitäten.
Samstag 15:00 Kurzfilm Programm: [Tickets] 4 pm (12 min), The Apple (15 min), Khokoushten ba Shewazi Nietdchze (18 min), Recasted (5 min), Hooves Beat (13 min), Nachir (12min), Small Room (14), Total Screening Time: 89 Min.
Samstag, 18:00 Baghdad Messi [Tickets], BE/NL/IR 2021, 87 Min., Regie: Sahim Omar Kalifa Hamoudi (11) lebt für Fußball und träumt davon, genau­so her­aus­ra­gend zu sein wie sein Fußballheld Messi. Eines Tages, als er unab­sicht­lich in einen Angriff ver­wi­ckelt wird, wacht er im Krankenhaus auf und hat nur noch ein Bein. Während sei­ne Eltern alles tun, um die Familie sicher zu hal­ten, kämpft Hamoudi trotz allem dar­um, sei­nen Traum zu ver­wirk­li­chen.
Sonntag, 08.10., Kinderfilmprogramm: 13:00 Oskars Kleid [Tickets], DE 2022, 102 min, Regie: Hüseyin Tabak Seit Ben in Trennung lebt, fern­ab von sei­ner Ex-Frau Mira und den gemein­sa­men Kindern Oskar und Erna, ist er nur noch ein Schatten sei­ner selbst. Als die hoch­schwan­ge­re Mira vor­zei­tig ins Krankenhaus muss, zie­hen sei­ne Kinder wie­der bei ihm ein. Diese Chance will er unbe­dingt nut­zen und allen zei­gen, dass auch er der per­fek­te Vater sein kann.
Sonnatg 15:00–16:20, Kurzfilmprogramm 2: [Tickets] Trivet (14 min) , Suitcase (15 min), Music Beyond Borders (8 min), Killing Bagheera (13 min) , Russian Vodka (18 min), Paths (11 min ), Baby Ant (15 min )
SONNTAG, 08.10., 20.00: The Land of Legend [Tickets] IR/DE 2008, 72 Min. Nach dem Untergang der ira­ki­schen Regierung ent­schei­den sich kur­di­sche Opfer des Irak-Iran-Krieges von 1980 recht­li­che Schritte gegen die Politiker zu unter­neh­men. Einer von ihnen, ein behin­der­ter jun­ger Mann, reist durch die gesam­te Grenzregion. Er lässt ande­re Opfer eine Petition unter­schrei­ben, die er per­sön­lich nach Bagdad brin­gen will. Während sei­ner Reise begeg­net er einer ira­ni­schen Frau, auch ein Opfer des Krieges. Zusammen ver­su­chen sie die Grenze zum Irak zu pas­sie­ren.
MONTAG, 09.10. 20:00 Le Pacha, ma mère et moi [Tickets] BE 2023, 83 Min., Regie: Nevine Gerits. Le Pacha, ma mère et moi por­trä­tiert eine Konfrontation zwi­schen Mutter und Tochter und fokus­siert sich auf die Frage der Übertragung: Welches kul­tu­rel­le Erbe tra­gen wir in uns? Wie kön­nen wir uns von die­sem Erbe befrei­en, gleich­zei­tig aber unse­ren Wurzeln Bedeutung ver­lei­hen und zukünf­ti­gen Generationen hel­fen, ihre Identität auf­zu­bau­en?
DIENSTAG 10.10. 20:00 Escape (Kurzfilm) 15 Min., Mutter (SPIELFILM) [Tickets] 33 Min., Deniz Deman ist eine kur­di­sche Sängerin, Filmemacherin und Autorin. In einer Doppelvorstellung zeigt das Kurdische Film Festival Berlin ihren Kurzfilm ESCAPE und ihr Spielfilm Debüt MUTTER. „Ich wur­de Mutter von Millionen Menschen“ Eine 85 jäh­ri­ge kur­di­sche Frau, die sich der Unterdrückung des Mannes, des Staates und der Gesellschaft wider­setzt, der sie ihr Leben lang aus­ge­setzt war und ihr gesam­tes Leben der Frauenbewegung wid­met.
MITTWOCH: 18:00 Holy Bread [Tickets] IR 2021, 54 Min., Regie: Rahim Zabihi Holy Bread por­trä­tiert das har­te Leben der­je­ni­gen, die gezwun­gen sind, ille­ga­le Ware zu schmug­geln, da sie nur so ihre Familien ver­sor­gen kön­nen. Sie sind gezwun­gen, beschwer­li­che Berge zu erklim­men und müs­sen dabei ihr Leben aufs Spiel set­zen.
DONNERSTAG: 20:00, Eren, [Tickets] Regie: Maria Binder 

Allensworth

Allensworth

Ein Film von James Benning. 

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Die Jahreszahl 1908 mar­kiert einen Anfang, und in 12 Einstellungen, wie den Monaten fol­gend, zeigt uns Benning die­sen beson­de­ren Ort, Allensworth. Je fünf Minuten schau­en lang wir auf Gebäude, etwa Wohnhäuser in typi­scher Kleinstadt-Architektur, eine Kirche, eine Schule, eine Bibliothek, eine Scheune. In der Ferne macht sich manch­mal ein Zug bemerk­bar, eine Fahne flat­tert im Wind, ein Grabstein kommt ins Bild. Eine Schülerin in Uniform liest ein Gedicht von Lucille Clifton, wir hören einen Song von Nina Simone, und Huddie Ledbetter singt eine bekannn­te Mörderballade. Eine Spurensuche, die uns auf­zu­for­dern scheint, genau hin zuschau­en und die Geschichte hin­ter die­sen Bildern zu ent­de­cken.
Eigentlich erfah­ren wir erst am Ende, was es mit die­sem Ort auf sich hat: als ers­te von Afroamerikanern finan­zier­te und ver­wal­te­te Gemeinde Kaliforniens wur­de Allensworth 1908 gegrün­det, eine sich schnell ver­grö­ßern­de Stadt mit eige­nem Bahnhof an der Santa-Fe-Railway. Nachdem der Haltepunkt jedoch ver­legt und auch Wasserleitungen aus dem Ort weg gelei­tet wur­den, begann der lang­sa­me Niedergang. Heute bil­den die restau­rier­ten Gebäude mit dem Umland den Colonel Allensworth State Historic Park. Nach der Vorführung bei der Berlinale frag­te eine Zuschauerin James Benning, wann sei­ner Meinung nach der Rassismus über­wun­den wür­de, und sei­ne nüch­ter­ne Antwort lau­te­te sinn­ge­mäß: „Nie, solan­ge der Kapitalismus bestehe und den Rassismus gebrau­chen könne.“ 

Credits:

US 2022, 65 Min., ohne Dialog

Regie: James Benning

Trailer:
ALLENSWORTH” | Trailer | Berlinale 2023
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Total Trust

Total Trust

Ein Film von Jialing Zhang.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Ob man Blumen kauft, sein Kind zur Schule bringt oder nachts den Müll raus bringt, Big Data und digi­ta­le Technologien über­wa­chen alles. Der Film der in den USA leben­den chi­ne­si­schen Filmemacherin Jialing Zhang schärft das Bewusstsein für die Gefahren der Big-Data-Sammelwut. Persönlichkeitsprofile, Kontakte und Konsumverhalten kön­nen nicht nur, schlimm genug, pri­va­te Unternehmen, son­dern auch Behörden inter­es­sie­ren. Was pas­siert, wenn der Schutz unse­rer Privatsphäre miss­ach­tet wird? Wie umfas­send sind die aus Big Data gewon­nen Informationen über unse­re Aktivitäten und Überzeugungen, Abneigungen, Vorlieben und Gewohnheiten? Lässt sich sicher­stel­len, dass die­se Daten nicht in die fal­schen Hände gera­ten? Sind sie viel­leicht schon in den fal­schen Händen?
Total Trust ist ein zutiefst beun­ru­hi­gen­der und bewe­gen­der Film über die unheim­li­che Macht von Big Data und KI, über ihren Gebrauch und Missbrauch im öffent­li­chen wie im pri­va­ten Leben, über Zensur und Selbstzensur. Anhand ein­dring­li­cher Schicksale von Menschen in China, die über­wacht, ein­ge­schüch­tert und sogar gefol­tert wur­den, erzählt Total Trust von den Gefahren aktu­el­ler Technologien in den Händen einer unge­zü­gel­ten Macht. Mit China als Spiegel schlägt der Film Alarm: Der zuneh­men­de Einsatz von digi­ta­len Überwachungstools ist längst ein glo­ba­les Phänomen – auch in demo­kra­tisch geführ­ten Ländern. 

Credits:

DE/NL 2023, 97 Min., Mandarin OmU
Regie: Jialing Zhang
Kamera: Cuier (Anonymous), RCS (Anonymous), J.V. Chi (Anonymous)
Schnitt: Barbara Toennieshen, Claire Shen (Anonymous)

Trailer:
TOTAL TRUST – offi­zi­el­ler Kinotrailer – ab 05.10.2023 im Kino
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