Tori & Lokita

Ein Film von Luc und Jean-Pierre Dardenne.

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Großaufnahme von Lokita (Joely Mbundu): Die 16-jäh­ri­ge aus Benin mit den kur­zen, jun­gen­haf­ten Haaren hat Angst. Trauer füllt ihre Augen, ganz leicht zuckt ihre Nase. Ansonsten blickt sie reg­los an der Kamera vor­bei, in die Enge gedrängt wie ein gefan­ge­nes Tier. Zu hören ist die Stimme einer Frau. Sie schießt Fragen ab wie Pfeile, knapp und mes­ser­scharf, als wäre dies ein Kreuzverhör vor Gericht. Aber Lokita sitzt nicht vor einem Ankläger. Sondern in einer Behörde, die berech­tig­te Anliegen sach­lich prü­fen soll. Das Mädchen braucht eine Aufenthaltsgenehmigung in Belgien. Dafür muss sie lügen, anders als Tori (Pablo Schils), ihr elf­jäh­ri­ger Kompagnon, den sie bei der Flucht übers Meer ken­nen gelernt und ins Herz geschlos­sen hat. Tori darf blei­ben, weil er unter 14 ist. Wäre Lokita Toris älte­re Schwester, bekä­me sie eben­falls einen Schutz vor Abschiebung, des­halb sagt sie die Unwahrheit. Die Frau in der Behörde scheint sol­che Strategien zu ken­nen. Sie bohrt nach, bleibt uner­bitt­lich, ver­langt schließ­lich einen DNA-Test. Als Lokita wie­der drau­ßen ist, bricht sie wei­nend zusammen.

Von der Frau in der Behörde ist nur die Stimme zu hören. Mit gutem Grund ver­wei­gern die Regisseure Luc und Jean-Pierre Dardenne, die auch gemein­sam das Drehbuch geschrie­ben haben, den Blick auf die Sachbearbeiterin. Ihnen geht es nicht um indi­vi­du­el­les Fehlverhalten, nicht um mög­li­cher­wei­se sadis­ti­sche Neigungen oder auch nur um ver­bor­ge­ne Vorurteile. Es geht um uns alle hier in Europa, die wir weg­schau­en vor dem unvor­stell­ba­ren Leid, das min­der­jäh­ri­gen Geflüchteten zuge­fügt wird, bis hin zu Sklaverei, sexu­el­lem Missbrauch oder gar Mord. Die Brüder Dardenne beschäf­tig­ten sich schon län­ger mit dem Thema, auch in ihrem vor­letz­ten Film „Das unbe­kann­te Mädchen“ (2016) spiel­te es eine Rolle. Den Anstoß zu „Tori und Lokita“, so erzäh­len sie es in einem Interview, gab dann ein Artikel dar­über, wie vie­le Jungen und Mädchen spur­los aus Notunterkünften und Wohngruppen ver­schwin­den. Es sol­len geschätzt 15 bis 20 Prozent der Aufgenommenen sein.

Bevor Lokita voll­ends in die Hände von Drogen- und Menschenhändlern gerät, ler­nen wir sie und Tori in knap­pen, berüh­ren­den Alltagssituationen ken­nen. Vor dem Schlafengehen albern sie mit­ein­an­der her­um wie ech­te Geschwister, kuscheln sich ins Bett, hel­fen ein­an­der mit einem Lied aus der Heimat in den Schlaf. Ihre Sangeskünste tra­gen sie auch in der Pizzeria vor, in der sie für einen Hungerlohn arbei­ten – ein ergrei­fen­der Moment. Ohne dass der Film es aus­spre­chen muss, machen die Bilder klar, wie innig die­se Freundschaft ist, die die bei­den alle Härten der Flucht hat über­ste­hen las­sen. Was auch immer die feind­li­che Umwelt den „Geschwistern“ antut – solan­ge sie ein­an­der haben, blei­ben sie bewun­derns­wert stark im Kampf um die nack­te Existenz. Die enge Bindung ist wich­ti­ger als alles, was man sonst zum Überleben braucht. Darauf zu ver­zich­ten, wird den bei­den zum Verhängnis, als sich Lokita dar­auf ein­lässt, als Gegenleistung für einen gefälsch­ten Pass für drei Monate eine gehei­me Cannabis-Plantage zu pfle­gen, wie in einem Gefängnis, ohne Ausgang, ein­ge­sperrt Tag und Nacht, selbst ohne Handy-Empfang.

Als der jüngs­te Film der Altmeister im Wettbewerb von Cannes 2022 Premiere hat­te, war­fen ihm Teile der Kritik vor, er tra­ge zum Werk der Brüder nichts Neues bei. Daran ist rich­tig, dass sich die inzwi­schen 71- und 74-Jährigen nicht neu erfin­den. Aber der Vorwurf über­sieht, wie bril­lant die Filmemacher inzwi­schen das Genre des Sozialrealismus beherr­schen, wie kon­zen­triert, öko­no­misch und straff ihr zwölf­ter Spielfilm die Handlung vor­an­treibt. Und vor allem, wie sie ihre cine­as­ti­sche Kunstfertigkeit dazu nut­zen, das Publikum teil­ha­ben zu las­sen an dem Schicksal der bei­den Geflüchteten. Dem Sog die­ser Bilder kann man sich nicht ent­zie­hen, Wegschauen wird ersetzt durch Empathie. Sich der Wahrheit stel­len zu müs­sen, mag nicht immer ange­nehm ein. Aber es wird zumin­dest gelin­dert durch die inten­si­ve Darstellung der bei­den Laienschauspieler.

Peter Gutting | programmkino.de

Credits:

BE/FR 2022, 88 Min., frz. OmU
Regie & Buch: Luc und Jean-Pierre Dardenne
Kamera: Benoît Dervaux
Schnitt: Marie-Hélène Dozo, Valène Leroy
mit: Pablo Schils, Joely Mbundu, Marc Zinga, Nadège Ouedraogo, Charlotte De Bruyne

Trailer:
TORI & LOKITA (2022) – Trailer 1
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