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In many imperfect ways (Filmreihe)

Ein Punkt im Leben, an dem Entscheidungen und Auseinandersetzungen gefragt sind, wo der eige­ne Lebensentwurf in Frage gestellt wird und eine Verortung statt­fin­den muss, oder eine plötz­li­che Erkenntnis bis­he­ri­ge Sicherheiten umwirft – genau hier sind die aus­ge­such­ten Filme die­ser klei­nen, fei­nen Reihe ange­sie­delt. Der Weg von hier führt über Unsicherheiten und Verletzungen, ohne Schrammen kommt da kei­ne so leicht durch.

Auch die Filme des Programms hat­ten bis­her in Berlin nur ein unvoll­kom­me­nes Kinoleben, man­chen wird der ein oder ande­re Titel geläu­fig sein, da die dazu­ge­hö­ri­gen Werke für Einzelvorstellungen bespro­chen wur­den, sei es für Mongay, L‑Filmnächte oder als regu­lä­rer Start mit nur weni­gen ein­zel­nen Vorstellungen. Wir fin­den, dass sie so sehens­wert sind, dass sie eine 2. Chance ver­die­nen, haben sie des­halb gebün­delt und bie­ten sie als klei­nes Paket vom 1.- 8. August im fsk-Kino an.

Außerhalb einer per­fek­ten Komfortzone befin­den sich unse­re fünf Protagonistinnen ebenfalls.

  • Rebecca, genannt Becks, wird von ihrer Freundin betro­gen und zieht, ganz klas­sisch, zurück zur Mutter. Sich dort auf die Couch zu legen und zu bemit­lei­den ist aber auf Dauer sicher kei­ne gute Idee, zumal sie aus­ge­zeich­net mit der Gitarre umzu­ge­hen weiß. [Becks]
  • Die jun­ge Romni Lola weiß, was sie will (Comics zeich­nen), und auch wen sie will (Carmen, die Braut ihres Cousins). Allerdings ist in ihrem Umfeld die Toleranzgrenze sexu­el­ler Normabweichung betref­fend eher nied­rig. [Carmen y Lola]
  • Französischlehrerin Nina sucht ver­zwei­felt eine Leihmutter, die sie nicht fin­det, bis ihr Auto mit Magdas zusam­men­kracht. Des geplan­ten Kindes Vater ist nicht ent­zückt von der Frau, die ihr Baby aus­tra­gen soll, erst recht nicht, als sich sei­ne Frau in sie ver­liebt. [Nina]
  • Benny hat als Tochter eines streng­gläu­bi­gen jüdi­schen Gelehrten ähn­li­che Probleme wie Lola. Nur, dass sie dazu noch Verantwortung für eine Kalb und damit für die Erlösung tra­gen soll. [Red Cow – Das Mädchen mit den roten Haaren]
  • Dem anstren­gen­den Alltag mit ihrem depres­si­ven Vater ent­flieht die 16-jäh­ri­ge Cyd, indem sie im Sommer zu ihrer Autoren-Tante nach Chicago zieht. Dort könn­te sie dann den gan­zen Tag faul in der Sonne lie­gen, kreuz­te nicht eine toug­he Kellnerin namens Katie ihren Weg. [Princess Cyd]
  • Im laut L‑Mag „klei­nem Wunderwerk” füh­ren Eva und Kat auf ihrem Londoner Hausboot ein unbe­schwer­tes Leben abseits aller sons­ti­gen Bindungen. Doch bei Eva gibt es die­sen laten­ten Kinderwunsch, der von ihrer Mutter unter­stützt wird, nicht aber von ihrer Partnerin. Als Kats bes­ter Freund Roger die bei­den besucht und als Samenspender in Frage kommt, ist es soweit – Kat muss sich ent­schei­den. [Anker der Liebe]

Aufmerksam Lesenden dürf­te es nicht ent­ge­hen, dass es bei der Auswahl stets um les­bi­sche Frauen geht – wobei man­che dar­un­ter dies erst im Lauf des Films erfah­ren. Aber über Genderfrage und mög­li­che kul­tu­rel­le Unterschiede hin­aus – wir befin­den uns in den USA, Spanien, Israel und Polen – ver­spre­chen die ange­spro­che­nen Topics der Reihe für alle, die sich mit Beziehungen im wei­tes­ten und auch per­sön­li­chen Sinne befas­sen, ein Kinoerlebnis.

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Ich war zuhause, aber …

Ein Film von Angela Schanelec.

[Credits] [Termine] [Trailer]

Eine Woche war Astrids drei­zehn­jäh­ri­ger Sohn Phillip ver­schwun­den. Nun kehrt er wie­der nach Hause zurück, wort­los, ohne Erklärungen, mit ver­letz­tem Fuß. Über die Gründe sei­nes Verschwindens kön­nen Astrid und Phillips Lehrer nur mut­ma­ßen. Was hat er gesucht, ein Ausgeliefertsein an die Natur, eine Annäherung an den Tod, aus­ge­löst durch den Tod sei­nes Vaters?
Langsam setzt die Normalität des täg­li­chen Lebens sich wie­der in Gang. Phillip probt mit sei­ner Klasse ein Stück von Shakespeare, Hamlet. Astrid geht ihrem Beruf im Berliner Kunstbetrieb nach, sie kauft ein Fahrrad, sie küm­mert sich um Phillip und sei­ne klei­ne Schwester. Doch sie trägt schwer an der Einsicht, dass ihr Sohn ein eige­nes Leben führt, dass ihr Einfluss begrenzt ist. Als sich Philipps Wunde ent­zün­det und er mit einer Blutvergiftung ins Krankenhaus kommt, lie­gen bei Astrid die Nerven blank. Aber die Kinder wen­den sich nicht ab. Das Gefüge der Familie zer­fällt, um sich neu zu bilden.

Verzeihen Sie mir bit­te, aber kei­ner möch­te mit sei­ner Wahrheit allein sein. Man möch­te sie gern tei­len, die Wahrheit. Außerdem ist das Quatsch, eine Meinung kann man tei­len, aber eine Meinung ist ja noch kei­ne Wahrheit.“ Filmzitat

Dieser Film erklärt nichts. Er erzählt das Leben auf eine wun­der­ba­re Weise. Angela Schanelec insze­niert eine Schule des Sehens, die, statt Sinn zu stif­ten, den Zuschauer in sei­ne Sinnlichkeit zwingt. Maren Eggert – als Mutter von zwei Kindern – ist das Gravitationszentrum des Films, der vie­le Facetten, Räume, Rätsel hat – und einen Angriff gegen das Falsche. (…) Dieser Film schwebt hei­ter, still, ver­we­gen, zor­nig, betrübt. Es ist ein Glück, dass es die­sen Film gibt.“ ARD TAGESSCHAU 24

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Credits:

DE 2019, 105 Min., 
Regie, Schnitt & Buch: Angela Schanelec
Kamera: Ivan Marković
mit: Maren Eggert Jakob Lassalle, Clara Möller, Franz Rogowski, Lilith Stangenberg, Alan Williams, Jirka Zett

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Trailer (Ausschnitt):

 

 

 

Der unverhoffte Charme des Geldes

Ein Film von Denys Arcand.

[Credits] [Termine] [Trailer]

Pierre-Paul ist Mitte 30, hat einen Doktor in Philosophie und arbei­tet als Kurierfahrer. Nicht unge­wöhn­lich, könn­te man den­ken, wer kann mit einem Dr. Phil. schon was anfan­gen? Doch Pierre-Paul könn­te Karriere machen, will nur nicht. Finanzieller und geschäft­li­cher Erfolg, so ist ihm sehr rich­tig bewusst, hat immer mit Schweinereien zu tun. Aber genau dort gerät der freund­li­che Kapitalismusgegner plötz­lich hin­ein: eine miss­glück­te Geldübergabe hin­ter­lässt vie­le Tote und säcke­wei­se Scheine, die der zufäl­lig anwe­sen­de Pierre-Paul, ohne groß nach­zu­den­ken, in sei­nen Wagen lädt. Schnell ist ihm klar, dass er die aus Verbrechen stam­men­de Ladung für sei­ne eige­nen altru­is­ti­schen Zwecke nut­zen könn­te und dafür Hilfe braucht.
Seine ers­te Partnerin ist Aspasie, selb­stän­di­ge Escort-Lady mit bes­ten Kontakten, die nicht zufäl­lig den Namen der ers­ten bekann­ten Philosophin trägt. Dazu wird Sylvain, der wäh­rend sei­ner Knastzeit Ökonomie stu­dier­te, um sich ganz legal berei­chern zu kön­nen, aus­ge­sucht, sowie Jacmel, ein­zi­ger Überlebende des Überfalls, der des­halb von allen Seiten schwer bedrängt wird und allen Grund hat, sich zu ver­ste­cken. Schließlich benö­ti­gen sie den win­di­gen Offshore Banker Wilbrod Taschereau, um das Geld zu lega­li­sie­ren. Alle sind zunächst rein am Geld inter­es­siert und müs­sen noch von der Notwendigkeit, Gutes zu tun, über­zeugt wer­den. Das weit­aus grö­ße­re, eben­falls von Pierre-Paul weit­ge­hend erfolg­reich igno­rier­te Problem, sind die bei­den skru­pel­lo­sen Gangs, die hin­ter der Beute her sind, und die Polizei, die sich an sei­ne Fersen heftet.

Es ist nicht eigent­lich ent­schei­dend, ob das Ziel, eine letzt­lich lega­le Stiftung zu grün­den, erreicht wird, son­dern wie. Das Austricksen des Systems durch Jonglieren mit Gepflogenheiten der Finanzwelt lässt einen schwin­deln, die Angst vor der Skrupellosigkeit der Gangs schau­dern, die Umpolung der Helfer lachen. „Der unver­hoff­te Charme des Geldes“ ist eine Satire mit real­po­li­ti­schem Hintergund, zwar auch mal zynisch-bru­tal, meist jedoch ver­spielt und dazu rüh­rend-sym­pa­thisch in sei­nem Engagement gegen Armut und Obdachlosigkeit.

 

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Credits:

La chu­te de l’empire américain
CA 2018, 128 Min., frz. OmU
Buch und Regie: Denys Arcand
Kamera: Van Royko
Schnitt: Arthur Tarnowski
mit: Alexandre Landry, Maripier Morin, Rémy Girard, Pierre Curzi, Louis Morissette

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Trailer:

 

 

La Flor

Ein Film von Mariano Llinás.

[indie­ki­no Club] [Credits] [Termine] [Trailer]

LA FLOR ist ein her­aus­ra­gen­des Filmprojekt der Gegenwart: Ein Regisseur und sei­ne vier Darstellerinnen spie­len mit dem Kino, und ihr Spieltrieb kennt kei­ne Grenzen. Sie kre­ieren Fantasieräume, sche­ren sich nicht um Sinn, Logik, Dramaturgie – und sie ver­ges­sen die Zeit. Die Filmgeschichte ist ihr Abenteuerspielplatz, auf dem sie über zehn Jahre ver­brin­gen, um ein fast 14-stün­di­ges Werk fer­tig­zu­stel­len. Allerdings lässt sich wohl kaum von einer abge­schlos­se­nen Geschichte spre­chen. LA FLOR ist ein im bes­ten Sinne offe­nes Kunstwerk, ein Bildergewächs, das immer neue Blüten zum Vorschein bringt, ein Streifzug durch das Genrekino, ein­ge­teilt in drei Kapitel, sechs Episoden, acht Akte. Mariano Llinás vom Filmkollektiv El Pampero Cine und die Schauspielerinnentruppe Piel de Lava for­dern das Publikum auf, den ver­schlun­ge­nen Wegen ihrer Erzählungen zu fol­gen, die sich mal kreu­zen, dann wie­der Umwege neh­men oder schlicht ins Leere lau­fen. Ein B‑Movie muss nicht zwangs­läu­fig in einem laut­star­ken Showdown enden. Die unzäh­li­gen Off-Stimmen im Agententhriller wider­spre­chen ein­an­der, füh­ren bewusst in die Irre, wäh­rend die Bilder eine wei­te­re Version der Geschichte bereit­hal­ten. Musikalische Intermezzi erin­nern an klas­si­sche Vorführungen in den prunk­vol­len Kinopalästen der 30er und 40er Jahre. Zum Spiel gehört auch ein gewis­ser Ernst, den die Schauspielerinnen Elisa Carricajo, Pilar Gamboa, Valeria Correa und Laura Paredes mit schö­ner Hingabe bei gleich­zei­ti­ger Distanz dar­bie­ten. Dabei reflek­tie­ren sie sowohl ihre eige­ne Rolle als auch tra­dier­te Rollenbilder. Während sich das Werk und sei­ne Darstellerinnen per­ma­nent neu fin­den und erfin­den, sieht man sich selbst beim Schauen und Staunen zu. LA FLOR wur­de auf zahl­rei­chen Festivals enthu­si­as­tisch auf­ge­nom­men. (Arsenal Kino – Anke Leweke)

Die Vorfreude steigt, ganz ohne Cliffhanger“ Critic.de Teil I
„Ein for­mi­da­bles Frauenquartett“ Der Standard
„Überwältigend stark“ Critic.de Teil II
„Wer sich also jeden Morgen um halb neun in den­sel­ben Kinosaal setz­te, der sich von Tag zu Tag mehr füll­te, kam zuneh­mend aus dem Staunen nicht mehr her­aus.“ Der Standard
„Ich hat­te es mir so gewünscht, und es kam viel bes­ser: La Flor ist nicht nur ein spie­le­risch klu­ges Arrangement der Kinobezüge, son­dern ein form­voll­ende­tes Pastiche.“ Critic.de Teil III
La Flor ist sel­ten weni­ger als lus­tig und öfter mehr als span­nend, und wie bei vie­len ande­ren sehr lan­gen Filmen – wie z.B. Peter Watkins The Journey (14,5 Stunden), Jacques Rivetes Out 1 (fast 13) und Béla Tarrs Sátántangó (mage­re 7,5) ist es Teil der Erfahrung, mit dem Film über sei­ne Länge hin­aus zu leben und ihn dabei zu sehen, wie er sich andau­ernd neu erfin­det. “ Artforum

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Credits:

Teil 1 besteht aus Akt 1: 167 Min., Akt 2: 59 Min.
Teil 2. besteht aus Akt 3: 106 Min., Akt 4: 112 Min., Akt 5: 126 Min.
Teil 3 besteht aus: Akt 6: 99 Min., Akt 7: 117 Min., Akt 8: 107 Min.
AR 2018,  808 Min.,  Spanisch/Französisch/Englisch/Russisch/Deutsch/Schwedisch/Italienische OmU,
Regie: Mariano Llinás
Kamera: Agustín Mendilaharzu
Schnitt: Alejo Moguillansky, Agustín Rolandelli

mit Elisa Carricajo, Pilar Gamboa, Valeria Correa, Laura Paredes

Termine:

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Trailer:

In many imperfect ways: Becks

Ein Film von Elizabeth Rohrbaugh & Daniel Powell.

[Credits] [Termine] [Trailer]

Nach der schmerz­haf­ten Trennung von ihrer Freundin zieht die Folk-Musikerin Becks von Brooklyn zurück in ihre Heimatstadt St. Louis, um sich fern­ab vom New Yorker Künstler_innen-Trubel neu zu fin­den. Doch erst­mal ist sie damit beschäf­tigt, mit ihrer streng katho­li­schen Mutter die Fronten der sexu­el­len Freiheiten zu klä­ren und etwas Geld zu ver­die­nen. Da die Gesangsauftritte in der Bar ihres alten Kumpels Dave nur ein paar Dollar Trinkgeld abwer­fen, ent­schließt sie sich, Gi-tar­ren­un­ter­richt zu geben. Ihre ers­te Schülerin ist die schüch­ter­ne Elyse, die aus­ge­rech­net mit Becks altem High-School-Erzfeind Mitch ver­hei­ra­tet ist. Zwischen den bei­den Frauen ent­wi­ckelt sich rasch eine inni­ge Beziehung, die Elyses bis­he­ri­gen Lebensentwurf gehö­rig ins Wanken bringt …

Das Regie-Duo Elizabeth Rohrbaugh und Daniel Powell ließ sich für BECKS vom Leben der US-ame­ri­ka­ni­schen Singer/Songwriterin Alyssa Robbins inspi­rie­ren, von der auch die meis­ten der bit­ter­sü­ßen Lie-bes­lie­der im Film stam­men. Neben dem berüh­ren­den Soundtrack wird BECKS vor allem von sei­nem star­ken Darstellerinnen-Ensemble getra­gen: An der Seite von Newcomerin Lena Hall glän­zen „Chicago Hope“-Star Christine Lahti als Becks gläu­bi­ge, aber gut­her­zi­ge Mutter Ann und Mena Suvari („American Beauty“, „American Pie“) als jun­ge Ehefrau Elyse, die zwi­schen den Wänden ihrer rie­si­gen Vorort-Villa an Langeweile und Unlust zu ersti­cken droht. Ein berüh­ren­der Film über Heimkehr, alte Familienkonflikte und ein neu­es Begehren

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Credits:

US 2017, 92 Min., engl. OmU
Regie: Elizabeth Rohrbaugh & Daniel Powell
mit: Lena Hall, Mena Suvari, Christine Lahti u.a.

Termine:

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Trailer:

Becks (Trailer) from Salzgeber & Co. Medien GmbH on Vimeo.

 

 

Nuestro tiempo

Ein Film von Carlos Reygadas.

[Credits] [Termine] [Trailer]

Carlos Reygadas hat schon die Protagonisten in STELLET LICHT mit den Mühen und Quälereien einer Dreiecksbeziehung kon­fron­tiert. Den Gegensatz dazu bil­de­te die Weite der mexi­ka­ni­schen Landschaft, vom Licht beseelt. Ein äuße­res Licht, im ful­mi­nan­ten Sonnenuntergang am Ende des Films zum lang­sa­men Verglühen gebracht, dass dem Inneren ent­sprach. In NUESTRO TIEMPO nimmt Reygadas das Thema wie­der auf, unter ganz ande­ren Bedingungen, obwohl auch die­ser Film wie­der auf dem Land spielt, näm­lich auf einer Ranch. Ester und Juan züch­ten Bullen, jene leicht reiz­ba­ren, gefähr­lich star­ken Tiere, die einen mit ihren lan­gen Hörnern auf­spie­ßen kön­nen. Beide reflek­tie­ren ihr Zusammenleben und beson­ders ihre Gemeinschaft, zu der auch die gemein­sa­men Kinder gehö­ren. Besonders Juan legt Wert auf die Offenheit der Beziehung, um der Freiheit wil­len, auch der Freiheit der Liebe. Dieser Weg erweist sich aber als dor­nig und arbeits­reich. Denn Ester fängt tat­säch­lich ein Verhältnis an: mit Phil, dem breit­är­schi­gen Gringo, der gele­gent­lich für die bei­den arbei­tet. Die Dreierbahn rum­pelt also los, in unge­ahn­te Höhen und Tiefen. Kaleidoskopartig ent­fal­tet die Handlung ihren Sog, oft aus der Sicht von Juan, der vor­gibt, die Freiheit zu ver­tre­ten, aber ein­for­dert, stän­dig alles über Esters Affäre und ihre Gefühle offen­ge­legt zu bekom­men. Sie beharrt auf ihrer Privatsphäre und wehrt sich gegen sei­ne selbst­ge­mach­ten Spielregeln. Und läßt ihr schlech­tes Gewissen an ihm aus. Beide wol­len ehr­lich mit­ein­an­der sein, viel­leicht eine zu gro­ße Herausforderung. Die drit­te Hauptrolle spielt die epi­sche Landschaft bzw. das Licht, das sie strah­len läßt. Darin scheint das Leben trotz aller Plackerei einen Sinn zu machen. In vie­len Momenten von NUESTRO TIEMPO beweist Reygadas sein Gespür dafür, mit Bildern modu­lie­ren zu kön­nen, was unter der Oberfläche pocht, und das macht den Reichtum des Films aus.

Es ist ein­fach, die erwi­der­te Liebe zu defi­nie­ren, wie bei­spiels­wei­se die Liebe, die uns an den Wald oder an ein Tier bin­det. Die Liebe, die man für einen Ort oder einen Freund oder auch für sei­ne Kinder und Eltern emp­fin­det. Aber sobald man von der Liebe in einer Paarbeziehung spricht, scheint das Feld der Gefühle sehr viel kom­ple­xer, selbst wenn wir die heik­len Fragen, was die Liebe vom Besitzanspruch und die Treue von der Lauterkeit unter­schei­det, beant­wor­ten kön­nen. Müssen wir sexu­ell mono­gam leben? Dauert die Liebe ewig? Endet die Ehe, die ein Paar eint, immer einer Gewohnheit gleich? Die am sel­tens­ten gestell­te Frage, wel­che die erwähn­ten Überlegungen zusam­men­fasst, lau­tet: Wenn man sei­ne Frau liebt, stellt man dann ihr Wohl wirk­lich immer über alles ande­re? Oder bloß so weit, als dass es unser eige­nes Wohl nicht beein­träch­tigt? Kurz: Ist die Liebe gegenseitig?”

(Carlos Reygadas)

 

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Credits:

Nuestro tiem­po
MX/FR/DE/DK/SE 2018, 175 Min., spa­ni­sche OmU
Regie, Buch: Carlos Reygadas
Kamera: Diego Garcia
Schnitt: Natalia López
mit: Carlos Reygadas, Natalia López, Phil Burgers, Yago Martinez, Eleazar Reygadas, Rut Reygadas

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Trailer:

Nuestro Tiempo (offi­zi­el­ler deut­scher Trailer)

 

 

Eine moralische Entscheidung

Ein Film von Vahid Jalilvand,

[Credits] [Termine] [Trailer]

Dr. Nariman muss auf der Straße aus­wei­chen und tou­chiert ein Motorrad, auf dem Moosa mit sei­ner Familie unter­wegs ist. Der Arzt ver­sucht, das alles ohne Polizei zu klä­ren, bie­tet dem Mann Geld an und will die Familie auch ins Krankenhaus brin­gen. Doch letz­te­res lehnt Moosa ab. Nariman arbei­tet in der Gerichtsmedizin und erfährt am nächs­ten Tag, dass ein Junge ein­ge­lie­fert wur­de: Moosas acht­jäh­ri­ger Sohn. Er ist in der Nacht ver­stor­ben. Die Todesursache scheint eine Fleischvergiftung gewe­sen zu sein. Aber das beru­higt Nariman nicht. Es könn­te auch der Unfall gewe­sen sein, der die direk­te Todesursache darstellt.
„Eine mora­li­sche Entscheidung“ ist ein beein­dru­cken­der Film, weil er eigent­lich eine sehr unschein­ba­re Geschichte erzählt. Eine, in die man sich hin­ein­ver­set­zen kann, denn im Kern geht es vor allem dar­um, dass jede Entscheidung zu Konsequenzen führt – und die sich immer dra­ma­ti­scher aus­wei­ten kön­nen. Es gibt eini­ge Momente in die­sem Film, in denen sich Menschen anders hät­ten ver­hal­ten kön­nen. Damit ein­her geht immer die Frage, ob der Ausgang bes­ser gewe­sen wäre, wenn eine ande­re Entscheidung getrof­fen wor­den wäre. Hätte das Kind über­lebt, wenn der Arzt dar­auf bestan­den hät­te, ins Krankenhaus zu fah­ren? Hätte der Vater es frü­her ins Krankenhaus brin­gen müs­sen, als er es getan hat? Hätte der Arzt mit dem Vater nach dem Tod des Kindes reden sol­len? Hätte das ver­hin­dert, dass er die Schuld bei dem Mann such­te, der ihm das ver­gam­mel­te Fleisch ver­kauft hat, durch das sich der Junge die Vergiftung zuge­zo­gen hat? Eine kon­kre­te Antwort gibt es auf all die­se Fragen nicht. Sie sind immer rei­ne Spekulation, aber sie quä­len die Hauptfigur.
Denn Dr. Nariman ist ein peni­bler, sehr kor­rek­ter Mann. Jemand, der den Dingen auf den Grund geht. Der ein­fach nicht locker­las­sen kann. Denn eigent­lich wäre er aus die­ser Angelegenheit fein her­aus­ge­kom­men, aber er selbst ist es, der die Untersuchung erneut begin­nen lässt. Weil der Zweifel dar­über, ob er es war, der am Tod des Jungen schul­dig ist, für ihn letz­ten Endes qual­vol­ler ist als jede kon­kre­te Erkenntnis, die kom­men könn­te, inklu­si­ve der Konsequenzen, die sich dar­aus ergeben.
Peter Osteried | programmkino.de

  • Beste Regie und bes­ter Hauptdarsteller – Venedig 2018

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Credits:

Bedoone tarikh, bedoo­ne emza 
IR 2017, 100 Min., Farsi OmU 
Regie: Vahid Jalilvand 
Kamera: Peyman Shadmanfar 
Schnitt: Vahid Jalilvand, Sepehr Vakili 
mit: Navid Mohammadzadeh, Amir Agha’ee, Hediyeh Tehrani, Zakiyeh Behbahani

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Trailer:

EINE MORALISCHE ENTSCHEIDUNG Trailer HD

Im Kino in Farsi mit deut­schen Untertitlen.

 

Dene wos guet geit

Ein Film von Cyril Schäublin.

[Credits] [Termine] [Trailer]

Können wir uns noch ohne Zahlen und Ziffern, Nummern, Codes oder Passworte ver­stän­di­gen und über­haupt durchs Leben kom­men? Im Zürich des Films geht da nichts mehr. Permanent wer­den end­lo­se Verschlüsselungen, Preise, PINs, GPS-Daten, Telefon- Policen- und Kontonummern oder ande­re Zahlenkolonnen hin- und her gereicht. Das funk­tio­niert rei­bungs­los, alle Beteiligten agie­ren höf­lich, gesit­tet, ob es sich um die Bewachung eines Gebäudes nach einer Bombendrohung, um Bankgeschäfte, Betrugsversuche oder deren Aufklärung han­delt. Nichts Persönliches kann die­se Welt trü­ben, denn beim kleins­ten Anflug ver­sagt das Gedächtnis ad hoc.

Dene wos guet geit – der Titel kann für nicht-schwei­ze­ri­sche Ohren schnell Assoziationen mit länd­li­chem Lustspiel oder Bauerntheater wecken. Völlig falsch – es han­delt es sich viel­mehr um einen der eigen­wil­ligs­ten Filme, die in letz­ter Zeit hier ins Kino kom­men. Nicht, dass ihm der Humor abgeht; in Fassung einer fast ein­ge­fro­ren wir­ken­den Lakonie bahnt er sich durch die redu­zier­ten, zu nichts füh­ren­den Bewegungen und den mini­ma­len Plot sei­nen Weg. Die lose Handlung sieht so aus: Alice, eine Callcenterangestellte aus Zürich, muss ihren „Kunden“ neue Internetanbieter oder Krankenkassenverträge auf­schwat­zen, mög­lichst „mit Gefühl“, wie ihr Verkaufsleiter anweist. Mit den dadurch qua­si als Beifang erhal­te­nen Informationen ver­sucht sie, ihr Einkommen mit­tels „Enkelintrick“ auf­zu­bes­sern, und das erfolg­reich. Zwei Stadtpolizisten sind ihr aller­dings schon auf den Fersen. Woanders, in der gleich­för­mi­gen Umgebung ist eine Orientierung schwie­rig, muss eben das oben erwähn­te Gebäude gesi­chert wer­den, wobei die sich wie­der­ho­len­den Gespräche des Polizeipersonals über Mobilfon- Internet- und ande­re Tarife die Idee von Kommunikation ad Absurdum füh­ren. Während des Festivals avan­cier­te der Film in Locarno zum Geheimtip, und die Presse äußer­te sich enthusiastisch:

Wann zuletzt haben wir einen so bösen, radi­kal prä­zi­sen und in der Bildsprache so kon­se­quen­ten Schweizer Film gese­hen? Und war­um nur ver­lässt man das Kino so leicht­füs­sig beschwingt und mit einem Schmunzeln im Gesicht, das sich nur noch ver­tieft, wann immer man an den Film zurück­denkt? Cyril Schäublins «Dene wos guet geit» ver­stösst so ziem­lich gegen alles, was man von einem span­nen­den Film erwar­ten kann – und ver­zau­bert genau dadurch.” NZZ

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Credits:

CH 2018, 71 Min., OmU,
Regie & Buch: Cyril Schäublin
Kamera: Silvan Hillmann
Schnitt: Cyril Schäublin, Silvan Hillmann
mit: Sarah Stauffer, Nikolai Bosshardt, Fidel Morf

Termine:

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Trailer:

 

 

Erde

Ein Film von Nikolaus Geyrhalter.

[Credits] [Termine] [Trailer]

Jeden Tag ver­schiebt und bewegt unser Planet selbst rie­si­ge Mengen Erde, Schlamm, Gestein und Sedimente durch Wasserströme, Winde und Tektonik – in Tonnen aus­drückt ist das aller­dings nur die Hälfte des­sen, was der Mensch durch Baggern, Bohren und Sprengen im glei­chen Zeitraum schafft. Nikolaus Geyrhalter hat sie­ben teil­wei­se schwer zugäng­li­che Orte in Europa und Nordamerika besucht, wo auf der Oberfläche und dar­un­ter schwer gear­bei­tet wird oder wur­de: den Bau des welt­weit längs­ten Eisenbahntunnels am Brenner, die Marmorsteinbrüche im ita­lie­ni­schen Carrara, wo der Abbau in den letz­ten drei­ßig Jahren auf das Hundertfache gestie­gen ist, der als Atomzwischenlager genutz­te Salzstock in Wolfenbüttel oder das rie­si­ge Ölsandabbaugelände im kana­di­schen Alberta, mit­ten auf dem Gebiet einer First Nation. Von allen Plätzen lie­fert er wun­der­schö­ne und beein­dru­cken­de Bilder, die als Beweis einer Zerstörung zugleich eine gro­ße Beunruhigung in sich tra­gen. Im Zeitalter des Anthropozän, in dem der Mensch der ent­schei­den­de Faktor für die fun­da­men­ta­len Veränderungen des Planeten ist, stel­len sich dazu gewiss Fragen wie: Muss das sein? Wem nutzt es? Wem scha­det es? Dürfen wir das? Was wird der Preis sein? Dass er auch aus­führ­lich zeigt, wie sich eini­ge der dort arbei­ten­den Menschen schlaue Gedanken zu die­sen und ande­ren Fragen, wie die nach dem Wirtschaftssystem oder der Endlichkeit der Ressourcen, stel­len, und ande­re gleich­zei­tig und trotz­dem der Faszination ihrer Arbeit erlie­gen, ist eine wei­te­re beson­de­re Seite des Film.

Die Ökumenische Jury ver­leiht ihren Preis an ERDE für die Beschreibung der Verwüstung unse­res Planeten durch mensch­li­ches Eingreifen – ein drän­gen­des Thema unse­rer Zeit. Dieser Dokumentarfilm zeigt bren­nend schar­fe Bilder von der Zerstörung der Topographie der Erde und eben­so offen­her­zi­ge Gespräche mit Arbeitern, Ingenieuren und Wissenschaftlern. Die Jury hebt beson­ders das Klagelied einer indi­ge­nen Kanadierin für Mutter Erde am Ende des Films her­vor, das uns dazu ein­lädt, unse­re Verantwortung zu reflek­tie­ren.” Aus  der  Begründung  der  Jury –Preis  der  Ökumenischen  Jury,  Berlinale  Forum  2019

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Credits:

AU 2019, 114 Min., Englisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch, Ungarische OmU
Regie, Buch, Kamera: Nikolaus Geyrhalter
Schnitt: Niki Mossböc 

Termine:

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Trailer:

 

 

Das melancholische Mädchen

Ein Film von Susanne Heinrich.

[Credits] [Termine] [Trailer]

Und, wor­um geht es in dem Film? Eine häu­fig gestell­te Frage, die aller­dings in die fal­sche Richtung zielt. Bei Filmen (und nicht nur da) ist das Wie ent­schei­den­der als das Was. Eine Geschichte kann völ­lig sim­pel aus­fal­len. Erst wenn die Inszenierung eben­so sche­ma­tisch daher­kommt, wird es lang­wei­lig bis nichts­sa­gend und schlimms­ten­falls bei­des davon. „Das melan­cho­li­sche Mädchen“ führt den Effekt vor: Der Plot ist nicht mal sprung­haft, son­dern letzt­lich nicht vor­han­den. Die halb ver­kopf­te und theo­rie­schwan­ge­re, halb ver­spiel­te Inszenierung macht das Ganze aber zu glei­chen Teilen unter­halt­sam, eigen­wil­lig und interpretierfähig.

Im Mittelpunkt steht das titel­ge­ben­de melan­cho­li­sche Mädchen (pas­send besetzt: Marie Rathscheck), das wie sämt­li­che Figuren – dar­un­ter der Existentialist, die Clubfreundin, der Normalo – namen­los bleibt. Auf der Suche nach einem Übernachtungsplatz streift die selbst­er­nann­te Autorin mit Schreibblockade durch Berlin und trifft ver­schie­de­ne Männer, die sie schnell mit nach Hause beglei­tet und oft unver­mit­telt wie­der sit­zen lässt.

Der Film unter­teilt sich in 15 Episoden, die Titel wie „Feminismus zu ver­kau­fen“, „Die Gewalt der Liebesmärchen“ oder „Objekte der Begierde“ tra­gen. Es geht um Feminismus, die Rolle des Kapitalismus in die­sem Feld und das selbst­be­stimm­te Handeln der Streunerin. „Rambo is a pus­sy,“ lau­tet ein T‑Shirt-Aufdruck; an ande­rer Stelle meint die jun­ge Frau, dass ihr Körper allen ande­ren mehr gehört als ihr selbst. Mit Rosa und Blau setzt Susanne Heinrich leit­mo­ti­visch zwei Farben ins Bild, die qua­si sym­bo­lisch für die Geschlechterfrage ste­hen. Symbolcharakter haben auch die Penisse, die hier mit­un­ter direkt vor der Kameralinse rum­bau­meln. Heinrich wirft herr­lich scham­lo­se und daher unge­wohn­te Blicke auf männ­li­che Körper.

An einer schlüs­si­gen Story zeigt die Filmemacherin der­weil kein Interesse. Jeder Dialog, jeder Frame zwit­schert es her­aus: Je suis ciné­ma! Die Selbstbespiegelung fängt mit der Wahl des 4:3‑Formats an und setzt sich in der sti­li­sier­ten Bildästhetik, dem extro­ver­tier­ten Tondesign und dem geküns­tel­ten Schauspiel fort. Hinzu kom­men Motiv-Dopplungen und Wiederholungen, eine musi­ka­li­sche Trickfilmsequenz oder Retro-Wischblenden à la „Star Wars“. Heinrich hat ihren Schlegel gele­sen und trans­fe­riert des­sen Autonomiepostulat ins Filmische. Die Form pro­du­ziert den Inhalt, bis die Selbstbespiegelung im digi­ta­len Bandsalat abreißt.

Das Bemerkenswerte dar­an ist nicht das Artifizielle, son­dern der Glücksfall, dass der Film kein Stück lang­weilt. Das mit Filmseminarwissen voll­ge­pack­te Debüt ist kein markt­ge­rech­tes Thesengedöns, son­dern zuerst eine auf­ge­weck­te Gesellschaftskomödie mit einer schö­nen Form der Ironie – der vol­len Ironie näm­lich, die nicht nur plump das Gegenteil des Gesagten meint, son­dern gleich­zei­tig auch das Gesagte und man­ches dazwischen.

Christian Horn | programmkino.de

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Credits:

Deutschland 2019, 80 Min., Deutsch mit eng­li­schen Untertiteln
Regie & Buch: Susanne Heinrich
Kamera: Agnesh Pakozdi
Schnitt: Susanne Heinrich, Benjamin Mirguet
mit: Marie Rathscheck, Nicolai Borger, Malte Bündgen, Dax Constantine, Monika Freinberger, Yann Grouhel, Julian Fricker, Nicolo Pasetti

Termine:

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Trailer:

Das melan­cho­li­sche Mädchen – Trailer from Salzgeber & Co. Medien GmbH on Vimeo.