Matthias Freier hat bisher vor allem Werbespots und Musikvideos gedreht, unter anderem für Jochen Distelmeyer, Die Fantastischen Vier und Samy Deluxe. Sein True-Crime-Dokumentarfilm DIEUNSICHTBAREN handelt von einem der spektakulärsten Kriminalfälle der neunziger Jahre, ist aber vor allem eine Hommage an Freiers Stiefmutter, die Kriminalkommissarin Marianne Atzeroth-Freier, die gegen den Widerstand ihres Dienststellenleiters und die Ignoranz der älteren männlichen Kollegen in der Hamburger Mordkommission den Fall um eine Entführung und zwei verschwundene Frauen aufklärte. „Janne“, wie die Kommissarin genannt wurde, hatte als Streifenpolizistin angefangen, dann bei der „Sitte“ die Opfer von sexualisierter Gewalt betreut. Während die männlichen Kollegen den Aussagen eines Entführungsopfers nicht vertrauten („Ich sag dir gleich, wir glauben der kein Wort.“), nahm Atzeroth-Freier die Aussagen des Opfers als Erste ernst und kam schnell dem Täter, einem Hamburger Pelzhändler, auf die Spur. Bald stellte sich heraus, dass zwei weitere Frauen verschwunden und mit dem Entführer bekannt waren. Die grausamen Details des Falls füllten bis Mitte der 90er Jahre die Spalten nicht nur der Boulevardpresse. Freiers Film vermeidet jede spekulative Ausbeutung der Geschichte, und konzentriert sich auf die Ermittlungen, auf die Nachlässigkeiten, den – hier tödlichen – männerbündlerischen Sexismus auf dem Polizeirevier und Jannes persönliches Verhältnis zu den Angehörigen der Opfer. Dokumente und Interviews sind sorgfältig ausgewählt und sensibel geführt, die Spielszenen mit ruhigem Understatement inszeniert. Im True-Crime-Genre ist das alles andere als selbstver- ständlich. DIEUNSICHTBAREN ist ein exzellenter, sehr spannender und immer noch relevanter Film über die Durchsetzungskraft einer integren Polizistin. Tom Dorow | indiekino
Credits:
DE 2023, 97 Min. Regie: Matthias Freier Kamera: Kay Madsen Schnitt: Marielle Pohlmann
Dokumentarfilmreihe von Julian Vogel | 87min | 67min | 85min | DE 2023 Mit anschließendem Filmgespräch nach dem 3. Teil.
Tickets: [Teil1: München] [Teil 2: Halle] [Teil3: Hanau] (Die Filme müssen einzeln gebucht werden. Wer alle 3 Filme schauen will, kann jeweils den Tarif „Alle 3 Teile schauen” im letzten Bestellschritt wählen)
Kamera: Luise Schröder, Julian Vogel Ton: Oscar Stiebitz, Julian Vogel Schnitt: Gregor Bartsch, Sebastian Winkels
München 2016, Halle 2019 und Hanau 2020. Drei rechtsextreme Anschläge von sogenannten „Einsamen Wölfen“: Vermeintliche Einzeltäter, die sich scheinbar ohne in klassische extremistische Strukturen eingebunden zu sein, im Internet radikalisieren und im öffentlichen Raum plötzlich zuschlugen. Es sind Geschichten, die mittlerweile die Schlagzeilen dominieren: Der rechte Terror gilt zur Zeit laut Verfassungsschutz als größte Bedrohung der Demokratie in Deutschland. Und das, obwohl solche Täter noch bis vor Kurzem oft als psychisch kranke, „verwirrte“ Einzeltäter eingestuft wurden und ihnen so ihr Rassismus abgesprochen wurde. Diese Zeiten sind vorbei: Frank Walter Steinmeier sprach nach dem Anschlag in Hanau von einem „Angriff auf uns alle“. Doch wer sind „wir alle“?
Die Trilogie „Einzeltäter (Teil 1–3)“ nimmt unabhängig voneinander die Perspektive der Menschen ein, deren Angehörige tatsächlich das Ziel der Angriffe waren und deren Leben nie mehr sein wird wie zuvor.
EINZELTÄTERTEIL 1: MÜNCHEN
Arbnor hat seine Schwester 2016 beim Anschlag am Olympia Einkaufszentrum verloren, Hasan und Sibel ihren Sohn. Lange mussten die Angehörigen darum kämpfen, dass der Staat den rassistischen Hintergrund der Tat anerkennt. Erst nach den Anschlägen von Halle und Hanau hatten sie Erfolg.
EINZELTÄTERTEIL 2: HALLE
KurzsynopsisKarsten hat seinen einzigen Sohn Kevin beim Anschlag von Halle verloren. Während die Öffentlichkeit zuschaut, wie dem rechtsextremen Täter der Prozess gemacht wird, kämpft er um einen Umgang mit seiner Trauer. Halt findet er in der Fanszene des Halleschen FC.
EINZELTÄTERTEIL 3: HANAU
Der rassistische Anschlag vom 19. Februar 2020 hat Hanau-Kesselstadt verändert. Hier leben Menschen verschiedener Herkunft, hier starben sechs der neun Opfer. Nach dem Anschlag hält man hier zusammen, versucht mit den Folgen der Tat umzugehen, und kämpft um Aufklärung. Und hier leben der Vater des Täters und Hinterbliebene der Opfer in unmittelbarer Nachbarschaft.
Regiekommentar
Seit Ende 2018 beschäftige ich mich mit Menschen, die bei rechtsradikalen Anschlägen vermeintlicher “Einzeltäter” Angehörige verloren haben. Ich kam damals in Kontakt mit Hinterbliebenen des rassistischen Anschlags vom Olympia Einkaufszentrum in München„ der bis zum Anschlag von Halle von Staat und Ermittlungsbehörden als unpolitischer Amoklauf eingeordnet worden war. Ich versuchte einen Film zu realisieren, der den Angehörigen von München eine Stimme gibt. Deren verzweifelter Kampf um Anerkennung änderte sich mit dem antisemitischen und rassistischen Anschlag von Halle 2019. In Folge des Anschlags wurde der Rechtsextremismus durch den Verfassungsschutz als aktuell größte Bedrohung der Sicherheitslage in Deutschland eingestuft. Nach dem Anschlag von Hanau 2020 schließlich fand der Kampf von Betroffenen von rechter Gewalt endgültig Eingang in die breite Öffentlichkeit und ich entschloss mich, meinen Film auf diese drei Taten auszuweiten.
Documentary series by Julian Vogel | 87min | 67min | 85min | DE 2023
Camera: Luise Schröder, Julian Vogel Sound: Oscar Stiebitz, Julian Vogel Editor: Gregor Bartsch, Sebastian Winkels
Munich 2016, Halle 2019 and Hanau 2020: three right-wing extremist attacks by so-called „lone wolves: Alleged lone perpetrators who, seemingly without being part of classic extremist structures, radicalized themselves on the Internet and suddenly struck in public spaces. These are stories that now dominate the headlines: Right-wing terror is currently considered the greatest threat to democracy in Germany, according to the Office for the Protection of the Constitution. And this despite the fact that until recently such perpetrators were often classified as mentally ill, „confused” lone perpetrators and thus denied their racism. These times are over: After the attack in Hanau, Frank Walter Steinmeier spoke of an „attack on all of us”. But who are „all of us”?
The trilogy „EINZELTÄTER (Parts 1–3)” independently takes the perspective of the people whose relatives were actually the target of the attacks and whose lives will never be the same again.
EINZELTÄTER Part 1: MÜNCHEN
Arbnor lost his sister in the 2016 attack at the Olympia shopping center, Hasan and Sibel lost their son. For a long time, the relatives had to fight for the state to recognize the racist background of the crime. Only after the attacks in Halle and Hanau did they succeed.
EINZELTÄTER Part 2: HALLE
EKarsten lost his only son Kevin in the Halle attack. While the public watches the trial of the right-wing extremist perpetrator, he struggles to deal with his grief. He finds support in the Halle FC fan scene.
EINZELTÄTER Part 3: HANAU
The racist attack of February 19, 2020 has changed Hanau-Kesselstadt. People of different origins live here, and six of the nine victims died here. After the attack, people here stick together, try to deal with the consequences of the act, and fight for clarification. And this is where the father of the perpetrator and the surviving relatives of the victims live in the immediate vicinity.
Since 2018, I have been in contact with survivors of the racist attack in Munich in 2016, which was initially classified by the investigating authorities as a non-political rampage. This changed with the attack in Halle in 2019, in the wake of which the Munich act was classified as right-wing violence and right-wing extremism as the greatest threat to the security situation. After the attack of Hanau 2020, which brought the problem of right-wing „lone perpetrators” ultimately into public consciousness, I decided to make a documentary film that accompanies the mourning work of the bereaved and their relationship to the social dimension of these three acts. The result was a trilogy. The families in Munich and Hanau are united by the fact that their mourning work is interwoven with the fight against racism. In Halle, the situation is different: Kevin’s father Karsten has to deal with the death of his child because someone wanted to strike a minority to which he himself does not belong. For me, his grief was no less touching than the grief of the other people affected. It was imortant to me to also dedicate myself to his story
Es ist einfach, sich über Maschen und Opfer von Telefonbetrügern lustig zu machen, aber wirklich gefeit gegen die auch plumpesten Methoden ist wohl niemand. Die ehemalige Lehrerin Blaga ist eigentlich auch nicht naiv, lässt sich aber von einem recht absurden Telefontrick überrumpeln. Sie verliert das ganze Geld, das für die Grabstätte ihres kürzlich verstorbenen Mannes vorgesehen war. Willig, andere zu warnen, erzählt die Betrogene bei einer Nachbarschafts-Veranstaltung der örtlichen Polizei von ihrer Erfahrung, erntet aber großflächig nur Spott und Hohn. Selbst ihr im Ausland lebender Sohn macht nur Vorhaltungen. Es fällt ihm nicht ein, die Mutter zu unterstützen. Blaga, schwer gedemütigt und immer noch auf der Suche nach Geld für das Grab, weiß von der Polizei, wie die Betrüger Helfer aquirieren. Sie findet eine entsprechende Announce und bewirbt sich. „Beim wichtigen Festival im tschechischen Karlovy Vary wurde Eine Frage der Würde – Blaga’s Lessons mit drei Preisen ausgezeichnet, völlig zurecht. Denn dem Bulgaren gelingt hier ein harscher, mal sozialrealistischer, mal wie eine Farce wirkender Film über eine 70jährige Frau, die im moralischen Niemandsland des postsozialistischen Bulgariens um ihre Würde kämpft – und sie verliert. … Filme wie Eine Frage der Würde kamen in den letzten 20 Jahren oft aus Rumänien, Regisseure wie Cristi Puiu, Cristian Mungiu oder Corneliu Porumboiu hielten der gesellschaftlichen Entwicklung ihres Landes eines ungeschönten Spiegel vor, sezierten die Abgründe des Kapitalismus und die Spätfolgen des Sozialismus. Ganz ähnliches macht nun auch der 57jährige bulgarische Regisseur Stephan Komandarev, der zu Beginn seiner Karriere Dokumentarfilme drehte, seit einigen Jahren nun mit zunehmendem Erfolg Spielfilme, die aber einem dokumentarischen Blick verhaftet sind.“ Michael Meyns | programmkino.de – „diese intensiven, kleinen Filme sind es, für die das Kino gemacht wurde.“ Sebastian Seidler | kino-zeit
Credits:
BG/DE 2023, 119 Min., bulgarische OmU Regie: Stephan Komandarev Kamera: Vesselin Hristov Schnitt: Nina Altaparmakova mit Eli Skorcheva, Ivan Barnev, Gerasim Georgiev, Stefan Denolyubov, Rozalia Abgarian, Ivaylo Hristov
Trailer:
Eine Frage der Würde (Blaga’s Lessons )| offizieller Trailer mit dt. Untertitel
Reality Winner war 25, als sie, überzeugt davon, im Namen der Demokratie zu handeln, geheime Informationen über die Einflussnahme Russlands auf den US-Wahlkampf 2016 öffentlich machte. Die Gerichte sahen das anders und verurteilten sie 2018 zu 63 Monaten Haft. Größter Wunsch der in Farsi, Dari und Pashto ausgebildeten Linguistin der US-Airforce war es, als Übersetzerin in Afghanistan eingesetzt zu werden. Mit der Stelle bei einem Informationsdienstleister der NSA wollte sie dem einen Schritt näher kommen. Dort stieß sie auf die brisanten Papiere. Tina Satters Film folgt als re-Enactment den transskribierten Tonaufzeichnungen von Hausdurchsuchung und Festnahme der jungen Frau, auch unter Kennzeichnung der öffentlich nicht zugänglichen geschwärzten Stellen. Das absurde Spiel mit dem Machtgefälle zeichnet sich durch ein Gemenge aus ungeschickt-jovialem Smalltalk, patriotisch-autoritärem Auftreten, Unbeholfenheit und perfiden Drohungen auf FBI-Seite aus, während Reality verzweifelt versucht, dem mit vorgetäuschter Ahnungslosigkeit, Notlügen und Höflichkeit zu entkommen. Auf der Bildebene finden wir, abgesehen von einer Automatikwaffe in Pink sowie Büchern in arabischer Schrift, Accessoires eines normalen, allein lebenden All-American-Girls vor, die ihre Hunde und Yoga liebt.
„Und so sehr auf „Reality“ auch die Bezeichnung Kammerspiel zutrifft, so faszinierend sind doch gerade die filmspezifischen Mittel. Die Kamera von Paul Yee … erfasst durch Nah- und Großaufnahmen jede kleinste Irritation und Verunsicherung in den Gesichtern der Beteiligten. In anderen Einstellungen wird wiederum die Taktik des FBI sichtbar: Reality ist stets von Männern, die sie beobachten oder ausfragen, umgeben, während ihr Haus durchsucht wird. … Was Reality zusätzlich zu einem filmischen Ereignis macht, sind die präzisen Schauspielleistungen. Sydney Sweeney (Euphoria) hat die Titelrolle offensichtlich mit jeder Faser ihres Körpers verinnerlicht. Sie liefert eine komplexe, authentische Darbietung, souverän flankiert von Josh Hamilton und Marchánt Davis in den Parts der gegensätzlichen Agenten …“ Andreas Köhnemann | kino-zeit.de
Credits:
US 2023, 85 Min., englische OmU Regie: Tina Satter Kamera: Paul Yee Schnitt: Jennifer Vecchiarello, Ron Dulin mit Sydney Sweeney, Josh Hamilton, Marchánt Davis
Trailer:
REALITY (offizieller OmU Trailer) – mit Sydney Sweeney in einem Film von Tina Satter
Dieser Film ist wichtig, er tut weh. Denn Agnieszka Holland konfrontiert uns mit dem schreienden Unrecht, das sich hinter dem Begriff „Pushback“ verbirgt, vor dem wir uns nicht wegducken können, trösten in der Gewissheit: Ist doch alles nur Kino. Ja, Green Border ist – trotz der zuweilen quasidokumentarischen Bildführung – Fiktion; ist große, berührende Erzählung. Und ist doch wahr. Es geht um die 2021 von Belarus gesteuerte und von der polnischen Regierung mit ganzer Härte erwiderte Flüchtlingspolitik, eine Politik, die Menschen als Waffen einsetzt und nicht einmal den Toten das Recht auf Ruhe gewährt. Im Mittelpunkt stehen, auf der Flucht vor der Verfolgung in der Heimat, eine syrische Familie sowie eine afghanische Frau, Leila, die dem Terror der Taliban entkommen ist. Wir sehen sie, ein halbes Dutzend von Tausenden, die ihr Heil in der Flucht suchen, zunächst auf dem Flug nach Minsk. Müde sind sie, erschöpft, aber doch zuversichtlich, weil sie es schaffen werden ins gelobte Land. Sehr leise, sanft ist diese erste Szene, sparsam mit Musik unterlegt, wie überhaupt Musik nie als Mittel dramatischer Überwältigung benutzt wird. Friede also herrscht, denn diese Menschen wissen noch nicht, in welche Falle sie geraten sind. Aber dann kommt es knüppeldick, im Wortsinn. Denn Pushback heißt erbarmungslose Abwehr von Menschen. Mit Schlagstock, Tränengas, Hunden, mit der Waffe werden sie im polnisch-weißrussischen Niemandsland über die Grenze getrieben, und wieder zurück, hin und her. Holland, dieser genau beobachtenden, abwägenden Regisseurin, gelingt dabei das Wunderbare, den gehetzten Menschen dennoch ihre Würde zu belassen; sie zeigt sie nicht nur als Opfer. Neben Bildern nackter Gewalt, von Chaos, Geschrei, Lärm setzt sie Augenblicke der Ruhe: das kleine Mädchen, das so unbeschwert spielt; den Großvater, wie er auf dem matschigen Waldboden seinen Gebetsteppich ausbreitet, der später Schutz bieten soll vor den niederprasselnden Regenströmen. Auch die Zuschauer erleichternde Momente der Hoffnung lässt sie zu, wenn drei jugendliche Flüchtlinge mit den Kindern ihrer polnischen Helferfamilie drauflosrappen. Und sie lässt erahnen, dass die zotig auftrumpfende Männlichkeit der Grenzbeamten womöglich ein Versuch ist, die beunruhigenden Stimmen des Gewissens zum Schweigen zu bringen. Elisabeth Bauschmid | indiekino
Zusammenfassung der heftigen Diskussion in Polen um Green Border, von Jörg Taszman für den Filmdienst: hier
Credits:
PL, FR, CZ, BE 2023, 147 Min., polnisch, arabisch, englisch, französische OmU Regie: Agnieszka Holland Kamera: Tomek Naumiuk, Schnitt: Pavel Hrdlička mit: Jalal Altawil, Maja Ostaszewska, Behi Djanati Atai, Mohamad Al Rashi, Dalia Naous, Tomasz Włosok
Anzügliche Bemerkungen und sexistische Witze sind sicher nicht ausschließlich in Hotelbars im australischen Outback an der Tagesordnung, aber hierher hat es die beiden amerikanischen Rucksacktouristinnen Hanna und Liv nun einmal verschlagen. „Work and Travel“ heißt das Programm, das sie nach ihrer, vom ausgiebigen Feiern verursachten finanziellen Pleite, für ein paar Wochen hinter die Bar des „Royal Hotel“ in einer abgelegenen Bergbaugegend geschickt hat. Ihre englischen Vorgängerinnen scheinen die Zeit hier genossen zu haben, und nun freuen sich die Barbesucher, unschwer zu übersehen, auf das „Frischfleisch“. Die gebürtige Australierin Kitty Green hat mit The Assistantden wahrscheinlich besten Spielfilm zu Thema METOO gedreht, wo sie nicht Einzelne als alleinige Täter sah, sondern alles durchsetzt von der Akzeptanz des Missbrauchs. Im „Royal Hotel“ werden rauere Töne angeschlagen, aber auch hier muss der Thriller keine Gewalttaten schildern, um in Fahrt zu kommen. Von der Bedrohlichkeit der Situation, die sich nach anfänglichen, fast verzweifelt gesuchten Urlaubsgefühlen breit macht, will Liv nichts wissen. Hanna fühlt sich jedoch immer unwohler. Stets taxiert sie den Grad ihrer Bedrohung und die Grenzen im Umgang mit den Gästen. War das nur ein Scherz, eine Drohung, ab wann ist übergriffig? Eine alltägliche Situation, aber einfach abhauen geht hier in der Wüste, wo nur alle drei Tage ein Bus fährt, nicht, und so ist die junge Frau 24⁄7 in Habt-Acht-Stellung.
„Konsequent geht Kitty Green dann das ganze Spektrum an Verhalten durch, das sich in einer solchen Situation ergibt: von der höflichen Frage nach einem Date, die mit einem Nein sowieso schon rechnet, bis zu aggressiven Trinkgeldspielchen und vielen weiteren Situationen, in denen sich (sehr allgemein gesprochen) männliches Interesse so äußert, dass Hannah und Liv sich die ganze Zeit dazu verhalten müssen – bis Hanna sich schließlich als Girl mit der Axt in einer Rolle wiederfindet, die sie sonst von sich wohl nicht entdeckt hätte. Wir wollten doch einfach nur so weit weg von Zuhause wie möglich, sagt Liv einmal. Das hat sich anders erfüllt als gedacht. Gutes Drehbuch, gut gespielt, auf eine rawkus way nuanciert.“ Bert Rebhandl | Cargo
The Royal Hotel
Credits:
AU 2023, 91 Min., englische OmU Regie: Kitty Green Kamera: Michael Latham Schnitt: Kasra Rassoulzadegan mit Jessica Henwick, Julia Garner, Hugo Weaving, Bree Bain, Toby Wallace
Im kurdischen Gebiet im Nordosten der Türkei dreht eine deutsche Regisseurin einen Dokumentarfilm über „imaginäre Denkmäler“, über Rituale und Erzählungen, die der Erinnerung an verschwundene oder verschleppte Menschen dienen. Am Rande der Interviews ereignen sich merkwürdige Dinge, und als die Situation der Filmcrew letztendlich zu bedrohlich erscheint, packen sie eilig die Koffer. Die Brücke zum zweiten Teil schlagen Leyla, die Übersetzerin des Teams und Melek, ein kleines Mädchen, dem sie Unterricht gibt, und deren Vater in üble undurchsichtige politische Machenschaften verwickelt ist. Im dritten Teil widmet sich der Film fast ganz dieser Familie. Im Toten Winkel ist ein subtil verschachtelter politischer Thriller, in dessen Mittelpunkt Melek zu stehen scheint. Ohne sie deuten zu können, erkennt sie die Geschehnisse um sie herum sonderbarerweise besser als die Erwachsenen, die ihre Erlebnisse und Geister-Erzählungen nur als kindliche Fantasien abtun können. Wie von Geisterhand erscheinen auch die technisch und multi-perspektivisch, oft absenderlos anmutenden Bilder, die zum Mittel der Überwachung, Bedrohung und Einschüchterung eingesetzt werden, und Paranoia erzeugen. „Der blinde Fleck heißt Trauma, transgenerational. Die deutsch-kurdische Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin Ayşe Polat inszeniert ihn in Perfektion.“ Berlinale | Wettbewerb Encounters „JİTEM ist ein Geheimdienst, dessen Existenz der türkische Staat leugnet. Ayşe Polat gibt dieser inoffiziellen Organisation Gesichter, baut sogar eine Szene ein, in der die Agenten auf Polizisten treffen – eine Szene, die subtil impliziert, dass der türkische Staat sehr wohl involviert ist. Mit Im toten Winkel ist es ihr gelungen, Politik, Medientheorie und Genrekino zu verschränken, und es ist keine Begleitbroschüre nötig, damit der Film funktioniert, denn er ist trotz aller Komplexität hochspannend.“ Mathis Raabe | kino-zeit
Credits:
DE 2023, 118 Min., Deutsch, Türkisch, Kurdisch, Englisch OmU Regie: Ayşe Polat Kamera: Patrick Orth Schnitt: Serhad Mutlu, Jörg Volkmar mit Katja Bürkle, Ahmet Varlı, Çağla Yurga, Aybi Era, Maximilian Hemmersdorfer, Nihan Okutucu, Tudan Ürper, Mutallip Müjdeci, Rıza Akın, Aziz Çapkurt
Trailer:
Im toten Winkel | Trailer | Kinostart: 4. Januar 2024
Knochen und Namen sind was bleibt, erfährt Jonathan vom Bestattungsunternehmer. Aber es geht im Film eher darum, was jetzt ist und was später daraus wird. Dem Leben zuschauen, während es einen beobachtet, wie man so lebt. Fabian Stumm bekam den Heiner-Carow-Preis der DEFA Stiftung auf der letzten Berlinale. „Boris (Fabian Stumm) arbeitet an einem neuen Film für die französische Regisseurin Jeanne (Marie-Lou Sellem). Darin geht es um einen Mann, der seine Frau für einen anderen Mann verlässt. Auch wenn ihr Film Dramatisches erzähle, »es ist nicht schwer«, sagt die Regisseurin und kommentiert damit auch Knochen und Namen. Jonathan (Knut Berger), Boris Partner, ist derweil auf Recherchetour für seinen neuen Roman, der vordergründig von einer »Krankheit und einer Reise« handelt. Er trifft sich mit Menschen, die einen Verlust erlitten haben oder damit ihren Unterhalt verdienen. In zwischenmenschlichen Tableaus, oft vor weißen Wänden mit minimalistischer Inneneinrichtung gefilmt, entwirft der Film das lose Porträt des Paares im zunehmenden Krisenmodus und zugleich einer Gruppe von Suchenden. Jonathans Schwester, die alleinerziehende Natascha (Doreen Fietz), versucht sich beruflich neu zu orientieren. Ihre Tochter Josie (Alma Meyer-Prescott) wiederum begegnet dem nahenden Ende ihrer Kindheit mit Schabernack, klaut Apfelshampoo oder verführt ihre beste Freundin zu Telefonstreichen, die ziemlich peinlich enden. Fabian Stumms Debüt ist ein kleiner, großartiger Film, und das im besten aller Sinne. Ihm gelingt etwas Seltenes: mit Humor und doppeltem Boden von eigentlich schweren Themen zu erzählen und mit ihnen zu spielen. Als Jonathan seinem Partner während eines Radiointerviews die Liebe gesteht, ist Boris gerade Kaffee holen.“ Jens Balkenborg, epd Film „Ich wollte mich mit den Säulen auseinandersetzen, die mein Leben ausmachen. Mich erinnern, was daran gut und stabil ist, was mir Angst oder mich traurig macht und warum das so ist. In gewissem Sinne hat der Film mich mit mir selbst ausgesöhnt und neu verbündet“ Fabian Stumm
Credits:
DE 2023, 104 Min., dt., frz. OmU Regie: Fabian Stumm Kamera: Michael Bennett Schnitt: Kaspar Panizza mit Fabian Stumm, Knut Berger, Marie-Lou Sellem, Susie Meyer, Magnus Mariuson, Doreen Fietz, Alma Meyer-Prescott, Anneke Kim Sarnau, Godehard Giese
Olfas Töchter ist ein Experiment. In einer Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm lässt die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania die alleinerziehende Mutter Olfa Hamrouni und ihre Töchter Tayssir und Eya Chikhaoui ihr Familientrauma vor der Kamera durchspielen. Es geht um das Verschwinden der beiden älteren Töchter und um alles, was dazu geführt hat. Dabei nehmen Schauspieler*innen die Rolle der Vermissten sowie teilweise auch die der Mutter und der Vaterfiguren im Leben der Mädchen ein. Ghofrane und Rahma haben 2016 die Familie verlassen und sich in Libyen der Terrororganisation Daesh (IS) angeschlossen. Der Film ist ein sehr persönliches Porträt und zugleich ein Kaleidoskop aus vielen ineinander verschränkten Erklärungsansätzen dafür, wie es dazu kommen konnte.
„Es ist, als wäre es mein erster Film“, sagt Hend Sabri, seit 1994 als Schauspielerin aktiv und ein Filmstar des arabischen Kinos. Auch sie hat noch nie an einem solchen Projekt teilgenommen. Sie wird Olfa selbst spielen, vor allem in besonders belastenden Szenen, und ist damit die einzige Darstellerin, deren Rollenvorbild leibhaftig vor ihr steht. „Du wirst alles fühlen müssen, dass ich auch gefühlt habe“, sagt Olfa zu ihr. Und warnt: „Das könnte dich verrückt machen.“
Schon das erste Treffen der Familie mit den Schauspielerinnen, die die Schwestern Rahma (Nour Karoui) und Ghofrane (Ichraq Matar) verkörpern sollen, ist tief bewegend für alle Beteiligten. Man ahnt, welche Intensität sich in diesem Szenario entfalten könnte, aber die brutale Ehrlichkeit, mit der die Frauen sich künstlerisch und zwischenmenschlich der tragischen Familienhistorie annähern, ist unerwartet. Mal in Gesprächen, mal in gespielten Szenen thematisieren sie das Aufwachsen in Armut und die Gewalt des Vaters und des Stiefvaters, beide gespielt von Majd Mastoura, der als „Der Mann“ die patriarchale Gewalt verkörpert und dabei auch die Wut und Trauer der beiden jungen Frauen ertragen muss.
Aber gerade auch die Gewalt, mit der Mutter Olfa ihren Töchtern begegnete, wird auf eine Weise angesprochen, wie sie wohl ohne Kamera nicht möglich wäre. „In dem Film kann ich offen sprechen“, sagt Tayssir einmal. Auch die drei Schauspielerinnen nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn es um den gewaltvollen Erziehungsstil und die oft widersprüchlichen Moralvorstellungen geht, mit denen Olfas Töchter aufwuchsen. Bemerkenswert sind die Szenen, als Hend Sabri, komplett im Kostüm, der echten Olfa die Leviten liest – als stünden vor den Töchtern zwei Mütter, und eine sagt als Anwältin der Mädchen genau das, was die andere Mutter damals schon hätte hören müssen.
Viel Schatten, viel Licht: Kaouther Ben Hania arbeitet mit scharfen Kontrasten und markanten Bildern, um der Komplexität der Frauen gerecht zu werden. Tayssir und Eya sind Überlebende, aber nicht bloß in Leid getaucht; sie sind selbstbewusste, kluge Feministinnen, die längst mehr verstehen von der Welt als jene, die sie federführend gestalten. Olfa selbst ist ein Mensch, kein Monster, wenn auch ihr Verhalten oft monströs erscheint. Ihre Gewalt beschreibt sie als Fluch, als ein bitteres Erbe, das sie an ihre Kinder weitergegeben hat. Sie ist der Kern dieser so faszinierenden wie erschütternden Familiengeschichte und erklärt vieles, wenn auch nicht alles.
Olfas Töchter erzählt aber nicht nur von dieser Familie, sondern von der Geschichte Tunesiens, wo Hijabs erst verboten waren und schließlich als jugendkulturelles Symbol des Widerstands auf verheerende Weise wieder in den Alltag drängten; wo über die Kleidung und Körper von Frauen geurteilt, verfügt und bestimmt wird und über rigide Moralvorstellungen ein Nährboden für eine faschistische, (selbst)zerstörerische Ideologie geschaffen wurde, die Rahma und Ghofrane veränderte und verschlang. „Ich habe ihnen das Zielen beigebracht, und sie haben mich erschossen“, fasst es Olfa selbst zusammen. Vielleicht gibt es (noch) keinen zweiten Film, der sich auf so umfassend und einleuchtend, auf eine solch unnachgiebige Weise mit dem Thema Radikalisierung auseinandersetzt. Eva Szulkowski | indiekino
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