Ein Film von Kaouther Ben Hania.
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Olfas Töchter ist ein Experiment. In einer Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm lässt die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania die alleinerziehende Mutter Olfa Hamrouni und ihre Töchter Tayssir und Eya Chikhaoui ihr Familientrauma vor der Kamera durchspielen. Es geht um das Verschwinden der beiden älteren Töchter und um alles, was dazu geführt hat. Dabei nehmen Schauspieler*innen die Rolle der Vermissten sowie teilweise auch die der Mutter und der Vaterfiguren im Leben der Mädchen ein. Ghofrane und Rahma haben 2016 die Familie verlassen und sich in Libyen der Terrororganisation Daesh (IS) angeschlossen. Der Film ist ein sehr persönliches Porträt und zugleich ein Kaleidoskop aus vielen ineinander verschränkten Erklärungsansätzen dafür, wie es dazu kommen konnte.
„Es ist, als wäre es mein erster Film“, sagt Hend Sabri, seit 1994 als Schauspielerin aktiv und ein Filmstar des arabischen Kinos. Auch sie hat noch nie an einem solchen Projekt teilgenommen. Sie wird Olfa selbst spielen, vor allem in besonders belastenden Szenen, und ist damit die einzige Darstellerin, deren Rollenvorbild leibhaftig vor ihr steht. „Du wirst alles fühlen müssen, dass ich auch gefühlt habe“, sagt Olfa zu ihr. Und warnt: „Das könnte dich verrückt machen.“
Schon das erste Treffen der Familie mit den Schauspielerinnen, die die Schwestern Rahma (Nour Karoui) und Ghofrane (Ichraq Matar) verkörpern sollen, ist tief bewegend für alle Beteiligten. Man ahnt, welche Intensität sich in diesem Szenario entfalten könnte, aber die brutale Ehrlichkeit, mit der die Frauen sich künstlerisch und zwischenmenschlich der tragischen Familienhistorie annähern, ist unerwartet. Mal in Gesprächen, mal in gespielten Szenen thematisieren sie das Aufwachsen in Armut und die Gewalt des Vaters und des Stiefvaters, beide gespielt von Majd Mastoura, der als „Der Mann“ die patriarchale Gewalt verkörpert und dabei auch die Wut und Trauer der beiden jungen Frauen ertragen muss.
Aber gerade auch die Gewalt, mit der Mutter Olfa ihren Töchtern begegnete, wird auf eine Weise angesprochen, wie sie wohl ohne Kamera nicht möglich wäre. „In dem Film kann ich offen sprechen“, sagt Tayssir einmal. Auch die drei Schauspielerinnen nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn es um den gewaltvollen Erziehungsstil und die oft widersprüchlichen Moralvorstellungen geht, mit denen Olfas Töchter aufwuchsen. Bemerkenswert sind die Szenen, als Hend Sabri, komplett im Kostüm, der echten Olfa die Leviten liest – als stünden vor den Töchtern zwei Mütter, und eine sagt als Anwältin der Mädchen genau das, was die andere Mutter damals schon hätte hören müssen.
Viel Schatten, viel Licht: Kaouther Ben Hania arbeitet mit scharfen Kontrasten und markanten Bildern, um der Komplexität der Frauen gerecht zu werden. Tayssir und Eya sind Überlebende, aber nicht bloß in Leid getaucht; sie sind selbstbewusste, kluge Feministinnen, die längst mehr verstehen von der Welt als jene, die sie federführend gestalten. Olfa selbst ist ein Mensch, kein Monster, wenn auch ihr Verhalten oft monströs erscheint. Ihre Gewalt beschreibt sie als Fluch, als ein bitteres Erbe, das sie an ihre Kinder weitergegeben hat. Sie ist der Kern dieser so faszinierenden wie erschütternden Familiengeschichte und erklärt vieles, wenn auch nicht alles.
Olfas Töchter erzählt aber nicht nur von dieser Familie, sondern von der Geschichte Tunesiens, wo Hijabs erst verboten waren und schließlich als jugendkulturelles Symbol des Widerstands auf verheerende Weise wieder in den Alltag drängten; wo über die Kleidung und Körper von Frauen geurteilt, verfügt und bestimmt wird und über rigide Moralvorstellungen ein Nährboden für eine faschistische, (selbst)zerstörerische Ideologie geschaffen wurde, die Rahma und Ghofrane veränderte und verschlang. „Ich habe ihnen das Zielen beigebracht, und sie haben mich erschossen“, fasst es Olfa selbst zusammen. Vielleicht gibt es (noch) keinen zweiten Film, der sich auf so umfassend und einleuchtend, auf eine solch unnachgiebige Weise mit dem Thema Radikalisierung auseinandersetzt. Eva Szulkowski | indiekino
Credits:
FR, TN, DE SA 2023, 110 Min., arab. OmU
Regie: Kaouther Ben Hania
Kamera: Farouk Laaridh
Schnitt: Jean-Christophe Hym, Qutaiba Barhamji
mit Hend Sabri, Olfa Hamrouni, Eya Chikhaoui, Tayssir Chikhaoui, Nour Karoui, Ichraq Matar, Ma..
Trailer:
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