Archiv der Kategorie: archiv

12 Tage

Ein Film von Raymond Depardon.

Zwölf Tage – das ist die Frist, inner­halb derer in Frankreich ein Patient nach der Zwangseinweisung eine Anhörung vor Gericht bekom­men muss. Zehn Fälle doku­men­tiert Depardon, mit Kameras, die jeweils kon­zen­triert den Patienten oder die rich­ter­li­che Instanz in den Blick neh­men, unter­bro­chen von ein paar Raumeinstellungen. Die Sachlichkeit der Methode hilft der Empathie des Zuschauers auf die Sprünge: In sel­te­ner Klarheit sieht man den gro­ßen Schmerz, der allen psy­chi­schen Erkrankungen zugrun­de liegt.

70. Internationale Filmfestspiele von Cannes – Séances Spéciales

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Credits:

OT: 12 jours
F 2017, 87 Min., frz. OmU
Regie: Raymond Depardon
Kamera: Raymond Depardon
Schnitt: Simon Jacquet

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Termine:

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Am Strand

Ein Film von Dominik Cooke.

Schon ein­mal, 2007, war Saoirse Ronan in der Verfilmung eines Romans von Ian McEwan zu sehen, in „Abbitte“. Da spiel­te sie ein 13-jäh­ri­ges Mädchen, das im Sommer des Jahres 1935 die ero­ti­sche Spannung zwi­schen ihrer älte­ren Schwester und dem Sohn der Haushälterin regis­triert und mit einer fal­schen Beobachtung das Leben der bei­den zer­stört. Ronan ver­lieh die­sem Mädchen eine wun­der­vol­le Ambivalenz: nach­denk­lich, auf­merk­sam und kom­pli­ziert, für ihr Alter viel zu klug und doch unschul­dig, weil ihr die Sexualität der Erwachsenen noch ver­schlos­sen ist. Auch in „Am Strand“ wird es um Sexualität gehen, vor allem um die Angst davor, um Anziehung und Prüderie, um Begierde und Scheu.

Es ist der Sommer 1962. Florence (Saoirse Ronan) und Edward (Billy Howle), bei­de Anfang 20, haben soeben gehei­ra­tet. Nun sit­zen sie in einem lang­wei­li­gen, bie­de­ren Hotel am Chesil Beach in Dorset und essen zu Abend. Eine selt­sa­me Spannung liegt über dem Dinner, die Unterhaltung kommt nicht recht in Gang, man ahnt, dass etwas nicht stimmt. Die bevor­ste­hen­de Hochzeitsnacht legt sich wie Mehltau über die­sen Spätnachmittag. Nun erfährt der Zuschauer in Rückblenden, wie Florence und Edward sich ken­nen gelernt haben, wer sie eigent­lich sind. Florence stammt aus einer rei­chen, kon­ser­va­ti­ven Familie, ihr her­ri­scher Vater ist ein erfolg­rei­cher Geschäftsmann. Edwards Vater hin­ge­gen ist ein­fa­cher Lehrer, sei­ne Mutter ist nach einem Unfall geis­tig behin­dert. Florence spielt in einem Streichquartett meis­ter­haft Violine, Edward will ein­mal Autor wer­den. Zwei Menschen, wie sie unter­schied­li­cher nicht sein könn­ten. Der Liebe tut dies kei­nen Abbruch. Doch als Edward jetzt, im faden Hotelzimmer, Florence unge­schickt auf die Pelle rückt, stürmt die ent­setz­te Braut aus dem Hotel zum Chesil Beach. Der nun fol­gen­den Auseinandersetzung ist Edward nicht gewachsen…

Der Roman ist berühmt für sein Ende, in dem McEwan auf weni­gen Seiten den Rest von Edwards Leben refe­riert. Die Absicht ist klar: Dieser eine Abend am Strand von Chesil war von höchs­ter Bedeutung. Regiedebütant Dominic Cooke fin­det für den Schluss eine ange­neh­me­re Lösung, die den Zuschauer etwas wei­cher auf­fängt. Das ändert aber nichts an der Traurigkeit des Films, denn hier geht vor allem um ver­pass­te Lebenschancen, um falsch geleb­tes Leben und die Reue dar­über. Saoirse Ronan und Billy Howle machen die­ses Bedauern ein­drück­lich deut­lich: zwei Menschen, die noch zu jung sind für das, was an die­sem Abend auf sie zukommt. Besonders Ronan, die sel­ten schö­ner war als in die­sem Film, über­zeugt als eigent­lich selbst­be­wuss­tes Mädchen, das sich wort­reich gegen die kon­ser­va­ti­ven Eltern wehrt und sogar gegen die Atombombe demons­triert, mit Sex aber gar nichts am Hut hat. Die Rückblenden fügen sich naht­los in die Erzählung ein. Jede Szene aus der Vergangenheit offen­bart, dass die bei­den Liebenden sich frü­her woh­ler mit­ein­an­der gefühlt haben als aus­ge­rech­net jetzt, in der Hochzeitsnacht. Natürlich ist dies auch ein Film über das England der frü­hen sech­zi­ger Jahre und die Lustfeindlichkeit, die damals geherrscht haben muss. Miteinander zu schla­fen, die Jungfernschaft zu ver­lie­ren, hat­te für die­se Generation etwas zutiefst Verstörendes, die Eltern waren kei­ne gro­ße Hilfe. Dass nur weni­ge Jahre spä­ter mit der Beatlemania und den Swinging Sixties eine neue Ära der Freiheit begann, wie Cooke am Ende kurz andeu­tet, macht die­se ver­un­glück­te Hochzeitsnacht noch absur­der und beklemmender.
Michael Ranze | programmkino.de

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Credits:
On Chesil Beach
England 2017, 110 Min., engl. OmU
Regie: Dominic Cooke
Kamera: Sean Bobitt
Schnitt: Nick Fenton
Darsteller: Saoirse Ronan, Billy Howle, Anne Marie-Duff, Adrian Scarborough, Emily Watson, Samuel West

Termine:

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Meine Tochter – Figlia Mia

Ein Film von Laura Bispuri.

Die zehn­jäh­ri­ge Vittoria wächst in einem vom Tourismus unbe­rühr­ten sar­di­schen Dorf auf. Eines Tages trifft sie bei einem Rodeo die unge­stü­me Angelica, die so ganz anders als ihre für­sorg­li­che Mutter Tina ist. Vittoria ahnt nicht, dass die bei­den Frauen ein Geheimnis ver­bin­det. Seit lan­ger Zeit schon besucht Tina Angelica auf ihrem her­un­ter­ge­kom­me­nen Hof, wo sie mit eini­gen alten Pferden und einem treu­en Hund in den Tag hin­ein­lebt. Tina ist nicht wohl dabei, dass Angelica und ihre Tochter Vittoria sich näher ken­nen­ler­nen. Als die ver­schul­de­te Angelica aufs Festland zie­hen möch­te, bie­tet sie ihr erleich­tert finan­zi­el­le Unterstützung an, sie kann jedoch wei­te­re Begegnungen der bei­den nicht ver­hin­dern. Das Mädchen ist fas­zi­niert von die­ser Frau, die vor nichts Angst hat, ihre eige­nen Wege geht und mit der sie die Insel neu entdeckt.
Wie schon in ihrem Regiedebüt Vergine giura­ta beglei­tet Laura Bispuri eine Heldin, die sich mit ver­schie­de­nen Vorbildern kon­fron­tiert sieht, die­se imi­tiert und hin­ter­fragt und sich dabei ihrer selbst bewusst wird. Das war­me Licht des sar­di­schen Sommers beglei­tet Vittoria bei ihrer auf­wüh­len­den Expedition.
Berlinale 2018: Wettbewerb

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Credits:
Italien / Deutschland / Schweiz 2018, 100 Min., ital. OmU
Regie: Laura Bispuri
Buch: Francesca Manieri, Laura Bispuri
Kamera: Vladan Radovic
Schnitt: Carlotta Cristiani
mit:
Valeria Golino (Tina)
Alba Rohrwacher (Angelica)
Sara Casu (Vittoria)
Udo Kier (Bruno)
Michele Carboni (Umberto)

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Termine:

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Augenblicke: Gesichter einer Reise

Ein Film von Agnes Varda und JR.

Mit Filmen wie „Cleo – Mittwoch zwi­schen 5 und 7“ präg­te die 1928 gebo­re­ne Agnès Varda das moder­ne Kino als inno­va­ti­ve Filmemacherin mit. Der über ein hal­bes Jahrhundert jün­ge­re Fotograf und Streetart-Künstler Juste Ridicule ali­as JR tat sich in den letz­ten Jahren her­vor, als er bei­spiels­wei­se Fotos von Menschen aus den Banlieues an abriss­rei­fe Häuser pla­ka­tier­te oder mit dem Graffitikünstler Blu am stadt­be­kann­ten Graffiti an der Berliner Cuvry-Brache arbei­te­te. Wenn sich Varda und Ridicule zusam­men­tun, tref­fen also zwei Generationen auf­ein­an­der, die einen künst­le­ri­schen Blick auf die Welt teilen.

In einem umge­bau­ten Kamera-Van, der über eine Fotokabine ver­fügt und über­gro­ße Poster dru­cken kann, fah­ren Varda und JR durch Frankreich. Auf einem Bauernhof in der Provence oder am Strand der Normandie, wo ein deut­scher Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg in die Brandung gekippt ist, foto­gra­fie­ren die Künstlerin und der Künstler ansäs­si­ge Menschen wie eine Kellnerin oder Ziegenbauern. Die Porträts befes­ti­gen sie an aus­ge­wähl­ten Fassaden, an Zügen oder auch mal an den Containern im Hafen von Le Havre, wo sie Porträts der Ehefrauen der Arbeiter anbrin­gen. Auf Motivsuche erge­ben sich immer wie­der Zufälle und Fügungen, die das per Crowdfunding finan­zier­te Kunstprojekt beeinflussen.

Es geht um Landschaften und Gesichter und natür­lich um Agnès Varda und JR selbst. Der essay­is­ti­sche Film nimmt sich Zeit für fein­sin­ni­ge Beobachtungen und Anekdoten. Wie in „Agnès‘ Strände“ aus dem Jahr 2008 erin­nert sich Varda an ihre Vergangenheit und lässt sich sogar zum Arzt beglei­ten, wo sie den neus­ten Stand ihrer unheil­ba­ren Augenkrankheit erfährt. In einer Szene besu­chen Varda und JR das Grab des Fotografen Henri Cartier-Bresson und sei­ner Frau Martine Francke, in einer ande­ren erwei­sen sie der berühm­ten Louvre-Szene aus Jean-Luc Godards „Außenseiterbande“ eine Referenz. Gegenwärtiges trifft auf Vergangenes, Heiterkeit auf Melancholie. Das Gefühl, das die­ser poe­ti­sche Film ver­mit­telt, liegt irgend­wo dazwischen.
Christian Horn | programmkino.de

Credits:
OT: Visages villages
Frankreich 2017, 89 Min., frz. OmU
Regie & Buch: JR, Agnès Varda
Kamera: Claire Duguet (Bonnieux, Reillanne, Usine), Nicolas Guicheteau (Paris, Usine, le Nord), Valentin Vignet (BnF, côte Normande), Romain Le Bonniec (Vexin, Le Havre, Pirou), Raphael Minnesota (Musée du Louvre), Roberto De Angelis (Cuisine, Suisse), Julia Fabr
Schnitt: Agnès Varda, Maxime Pozzi-Garcia
Musik: Matthieu Chedid aka ‑M-
Mitwirkende: JR, Agnès Varda, Jean-Paul Beaujon, Amaury Bossy, Yves Boulen, Jeannine Carpentier, Marie Douvet, Jean-Luc Godard

Termine:

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AUGENBLICKE: Gesichter einer Reise | Offizieller Trailer Deutsch HD

The Cleaners (OmU)

Ein Film von Hans Block & Moritz Riesewieck.

Es war die schlimms­te Drohung, die ich in letz­ter Zeit hör­te, und sie kam von Mark Zuckerberg. Er sprach vor Publikum auf der jähr­li­chen FB-Entwickler-Versammlung: „Man muss opti­mis­tisch sein, wenn man die Welt ver­än­dern will. Wir tun es mit jeder wei­te­ren Verbindung. Mit jeder wei­te­ren Innovation. Tag für Tag.“ Es sind nicht die bekann­ten Daten-Missbrauchs-Vorwürfe, son­dern das gro­ße Ganze der „sozia­len Medien“, war­um mich die­ser Schluss des Films The Cleaners schau­dern lässt. „Cleaners“ sind die Menschen, die den welt­wei­ten Datendreck ent­sor­gen und uns vor schlim­men Dingen in den ein­schlä­gi­gen Internet-Plattformen schüt­zen sol­len, indem sie alles, was neu gepos­tet wird, begut­ach­ten und in Sekunden ent­schei­den: „igno­rie­ren oder löschen“. Es gibt Tausende die­ser „Content Moderators“, die meis­ten in Manila, die damit (wahr­schein­lich wenig) Geld ver­die­nen und ihre Psyche einer gro­ßen Gefahr aus­set­zen. Der Film hat eini­ge von Ihnen getrof­fen. Es ist ein har­ter Job, und kul­tu­rel­le Missverständnisse, wie das Löschen eines preis­ge­krön­ten Vietnamkriegs-Fotos, weil dar­auf ein nack­tes Kind zu sehen ist, sind vor­pro­gram­miert. Aber eigent­lich geht es um viel viel mehr und tie­fer, was die bei­den Regisseure nach schwie­ri­ger Recherchearbeit gestal­tung­be­wusst zei­gen. Achtung: im letz­ten Drittel muss man auf eini­ge weni­ge bru­ta­le Bilder gefasst sein.

Credits:
D 2018, 88 Min. engl. OmU
Regie: Hans Block, Moritz Riesewieck
Kamera: Axel Schneppat, Max Preiss
Schnitt: Philipp Gromov, Hansjörg Weissbrich, Markus CM Schmidt
Musik: Paradox Paradise (John Gürtler, Jan Miserre, Lars Voges)

Termine:

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The Cleaners – Offizieller Trailer HD

Wunder der Wirklichkeit

Ein Film von Thomas Frickel.

Am 22.12. 1991 stürz­te an einem Berg nahe Heidelberg ein Flugzeug ab, 28 Menschen star­ben. Unter den Opfern: der Rüsselsheimer Filmemacher Martin Kirchberger und sein Team. Sie star­ben bei den Dreharbeiten für den sati­ri­schen Kurzfilm Bunkerlow. Regisseur Thomas Frickel, ein Freund Kirchbergers, wid­met 25 Jahre nach dem Unglück sei­nen Dokumentarfilm Wunder der Wirklichkeit der Künstlergruppe Cinema Concetta um Kirchberger und por­trai­tiert deren Schaffen. Im pro­vin­zi­el­len Umfeld von Rüsselsheim irri­tier­te die Gruppe mit flu­xus-affi­nen Aktionen und pseu­do-doku­men­ta­ri­schen Kurzfilmen. Kirchbergers Haltung: „Vielleicht war alles umsonst, aber wir hat­ten ein gutes Gefühl.“

Am So., 27.5. gibt es im Anschluss an „Wunder der Wirklichkeit” einen ein­zig­ar­ti­gen Einblick in das Schaffen der Gruppe Cinema Concetta rund um Martin Kirchberger. Erich Schaffner, ehe­mals Darsteller in „Kirchis“ Filmen, ent­deckt mit uns das Archiv wie­der: von bren­nen­den Stühlen, über die Kunst des Gurkensteckens, bis hin zu „Bunkerlow“, dem Film, der dem Team zum Verhängnis wurde.

Credits:
D 2017, 101 Min.
Regie: Thomas Frickel
Kamera: Thomas Frickel, Voxi Bärenklau
Schnitt: Torsten Truscheit

Termine:

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Wunder der Wirklichkeit

Ein Leben

Ein Film von Stéphane Brizé.

[indie­ki­no Club]

Der zeit­ge­nös­si­sche Arbeitslose Thierry in Stephan Brizes kurz vor Ein Leben ent­stan­de­nem Film Der Wert des Menschen (2015) und die jun­ge Adlige Jeanne aus dem 19. Jahrhundert in Ein Leben haben auf den ers­ten Blick nichts mit­ein­an­der gemein. Genauer hin­ge­schaut ent­deckt man jedoch, dass sich bei­de z.B. lan­ge den von ihnen gefor­der­ten Anpassungen ver­wei­gern, da sie mit ihrer eige­ner Grundhaltung kol­li­die­ren, ohne offen­siv zu rebel­lie­ren. Jeanne blickt auf die Welt auch noch dann ohne Hintergedanken, als sich ihre Umgebung schon lan­ge und wie es üblich ist beim Älterwerden, von Ehrlichkeit und Vertrauen ver­ab­schie­det hat. Das kann man dumm nen­nen, aber auch als beson­ders schön ansehen.
Das Romandebüt von Guy de Maupassant von 1883 folgt der Geschichte einer jun­gen Frau aus wohl­ha­ben­den Haus, die einen ver­arm­ten jun­gen Vicomte Hals über Kopf aus roman­ti­schen Gefühlen her­aus hei­ra­tet, aber schon bald von ihm betro­gen und belo­gen wird. Der Film erzählt im Rhythmus der Jahreszeiten und kon­zen­triert sich voll und ganz auf sei­ne Heldin. Dabei redu­ziert er die Handlung zuguns­ten von Stimmungen, Blicken, Gesten, Geräuschen, Bildern und ver­zich­tet auf eine kon­ven­tio­nel­le Dramaturgie, ohne das dra­ma­ti­sche Wesentliche aus den Augen zu ver­lie­ren: ein Frauenleben, hier im 19. Jahrhundert, die Enge in jeder Beziehung, die Enttäuschungen, die tra­di­tio­nel­len gül­ti­gen Verhaltensmuster, die Ausweglosigkeit.
„Ein Leben ist ein Kostümfilm, der das Genre sou­ve­rän unter­läuft und weiß, dass man einer lite­ra­ri­schen Vorlage nur gerecht wird, wenn man sie unz­im­per­lich einer fil­mi­schen „Lesung“ unter­wirft. Was in die­sem Fall heißt: Alles, was der Roman an Drama, auch an mör­de­ri­schem, kine­ma­to­gra­fisch saf­tig offe­riert, wird just nicht gezeigt.“
Matin Walder | filmbulletin

Credits:
F/B 2016, 119 Min., franz. OmU
Regie: Stéphane Brizé, Kamera: Antoine Héberlé
Schnitt: Anne Klotz
mit:Judith Chemla, Jean-Pierre Darroussin, Yolande Moreau, Swann Arlaud

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Therapie für Gangster

Ein Film von Sobo Swobodnik.

Therapie für Gangster zeigt das Leben und die Wirklichkeit im Maßregelvollzug aus der Sicht sucht­kran­ker Straftäter , fern­ab der Gesellschaft mit ihren eige­nen Regeln und Gesetzen. Zwischen dem all­täg­li­chen Kampf gegen den Suchtdruck, die eige­ne Schuld und die Einsamkeit betrach­tet der Film dabei die Menschen hin­ter dem Profil des Täters. Menschen, die ver­su­chen, die letz­te Chance ihres miss­glück­ten Lebens wahr­zu­neh­men, anstatt in den aus­sichts­lo­sen Abgründen der Gefängnisse erneut hoff­nungs­los zu verschwinden.

Ein Film, der sen­si­ble Einblicke in eine für Außenstehende nor­ma­ler­wei­se ver­schlos­se­ne Welt preis­gibt und Menschen zeigt, die in die­ser Form sel­ten von der Gesellschaft wahr­ge­nom­men werden.

Credits:
Deutschland 2017, 86 Min.
Regie: Sobo Swobodnik
Buch: Sobo Swobodnik, Eckhard Geitz
Kamera: Sobo Swobodnik
Schnitt: Manuel Stettner

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The Poetess

Ein Film von Andreas Wolff.

Super-Star, Super-Stimme, Super-Talent, Super-Model … – danach „sucht Deutschland“ in schö­ner Regelmäßigkeit. Wäre die Suche nach dem „Super-Poet” im „Land der Dichter und Denker“ vor­stell­bar? In der ara­bi­schen Welt schon, denn hier hat Lyrik einen beson­de­ren Stellenwert, und der ent­spre­chen­de Wettbewerb ist längst Realität. Eine kri­ti­sche Jury und ein Millionenpublikum ent­schei­den in der hoch­do­tier­ten TV-Liveshow „Million’s Poet” in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wel­cher der Teilnehmer aus dem ara­bi­schen Raum das anspre­chens­te eige­ne Werk dar­bie­tet. Teilnehmerinnen gibt es dabei nur weni­ge, aber unter ihnen hat sich Hissa Hilal einen beson­de­ren Platz erobert. Obwohl es unmög­lich schien, erreich­te die damals 43-jäh­ri­ge sau­di­sche Hausfrau und Mutter vie­rer Kinder als ers­te Frau den Wettbewerb. Im Nikab trat sie sie 2010 auf die Bühne und erreich­te den drit­ten Platz mit Versen, die star­ke Kritik an der patri­ar­chal orga­ni­sier­ten Gesellschaft der ara­bi­schen Welt und an extre­mis­ti­scher Lehre üben. Dies brach­te ihr nicht nur Lob ein, son­dern auch auch üble Beschimpfungen und sogar Todesdrohungen. Warum setzt sie sich der Gefahr aus, und wie hat sie es über­haupt geschafft, in die­sen Wettbewerb zu kom­men? Stefanie Brockhaus and Andreas Wolff waren neu­gie­rig, haben Hissa Hilal gesucht, gefun­den und die­sen Film mit ihr und über sie gedreht.

Nach der jüngs­ten Verhaftungswelle von Aktivistinnen und Anwälten am ver­gan­ge­nen Freitag in Saudi-Arabien (https://bit.ly/2KK8Dud), wird Hissa Hilal, die Protagonistin von THE POETESS (R: Stefanie Brockhaus / Andreas Wolff; Kinostart 31.5.) nicht an der heu­te in München star­ten­den Kinotour teil­neh­men. Die Poetin und Aktivistin, die in ihren Gedichten furcht­los reli­giö­sen Fanatismus anpran­gert und für einen fried­li­chen Islam ein­tritt, soll­te im Rahmen der Kinotour gemein­sam mit Regisseur Andreas Wolff den Film deutsch­land­weit vor­stel­len und an Diskussionsrunden teilnehmen.

Das bra­chia­le Vorgehen gegen die Aktivistinnen und deren Anwälte haben Hissa und uns sehr erschüt­tert“, erklärt Regisseur Andreas Wolff. „Die Verhaftungen, aber auch die beglei­ten­de Schmutzkampagne in regie­rungs­na­hen Medien und sozia­len Netzwerken kamen völ­lig uner­war­tet. In die­ser unvor­her­seh­ba­ren Lage und will­kür­li­chen Atmosphäre möch­ten wir Hissa Hilal kei­ner unnö­ti­gen Gefahr aus­set­zen, die ihr durch eine Kinotour even­tu­ell dro­hen könn­te. Wir möch­ten die Menschen hier nun erst recht dazu ein­la­den, den Film anzu­schau­en und damit hof­fent­lich eine Diskussion über Frauenrechte anzustoßen.“

D, Saudi-Arabien 2017 89 Min. OmU – Arabisch mit dt. Untertiteln
Regie: Stefanie Brockhaus, Andreas Wolff
Kamera: Tobias Tempel, Stefanie Brockhaus
Schnitt: Hansjörg Weissbrich, Anja Pohl

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IDFA 2017 | Trailer | The Poetess

Auf der Jagd

Ein Film von Alice Agneskirchner.

Zum Beginn sieht man Wölfe lau­fen – ein sehr ursprüng­li­cher Anblick. Sie schnü­ren im Trab durchs Gelände, sehr schnell, sehr ziel­stre­big. Der Wolf ist nicht nur ein Wildtier, er ist Angstgegner und gleich­zei­tig Konkurrent des Menschen, wenn es um den Anspruch auf Beute geht. Falls man die Natur als Kriegsschauplatz oder als Sport- und Freizeitgelände betrach­tet, je nach Grundeinstellung, dann hat der Mensch den Wolf besiegt. Im Verlauf des Films wird das Zusammenleben von Mensch und Wolf noch eine grö­ße­re Rolle spie­len. Hier, am Anfang eines Films über das Miteinander von Mensch und Natur, wer­den schon mal die Claims abge­steckt: Steinzeitliche Zeichnungen zei­gen Jagdbilder, der Mensch woll­te schon früh das fest­hal­ten und bewah­ren, was ihn beschäf­tigt. Und auch heu­te noch gibt es Jäger, doch in fes­ten Ritualen, nach von Menschen gemach­ten Gesetzen. Die Natur umgab den Menschen, sie war weder freund­lich noch feind­lich, sie war ein­fach, und der Mensch war Teil von ihr. Damit ist es schon lan­ge vorbei.

Der Eindruck, den die exqui­si­ten Naturaufnahmen erwe­cken, täuscht. Der Wald, so wie man ihn aus den Märchenbüchern kennt, exis­tiert prak­tisch nicht mehr. Lediglich ca. 10 Prozent der deut­schen Waldgebiete wer­den nicht bewirt­schaf­tet, und das bedeu­tet: 90 Prozent der Wälder sind Teile der Kulturlandschaft, sie gehö­ren jeman­dem, wer­den beauf­sich­tigt und viel­sei­tig genutzt oder aus­ge­nutzt. Vor allem wer­den sie bejagt, denn alle Gebiete, die nicht zu Städten oder Ortschaften gehö­ren, unter­lie­gen dem Jagdgesetz und müs­sen (!) bejagt wer­den. Die Wildtiere haben sich in die­ser Landschaft einen Platz suchen müs­sen, der immer knap­per wird. Sie wer­den nur gedul­det, wo sie nicht im Weg sind oder Räume bean­spru­chen, die der Mensch nut­zen will. Das gilt auch für den Wolf, der mitt­ler­wei­le wie­der in Deutschland hei­misch gewor­den ist. Aber was wür­de gesche­hen, wenn es kei­ne Aufsicht gäbe? Könnten die Tiere dann über­haupt überleben?

Für das Jagen gibt es eine eige­ne Bürokratie, die – wie das so üblich ist mit dem Amtsschimmel – wenig Rücksicht nimmt auf indi­vi­du­el­le Probleme oder land­schaft­li­che Besonderheiten. Es gibt Abschussquoten, die ein­ge­hal­ten wer­den müs­sen. Und wenn zu wenig Rehe im Wald her­um­lau­fen, dann wird der Jäger bestraft, weil er sei­ne Quote nicht erfüllt hat. Wenn die Wolfsrudel dafür sor­gen, dass Rehe und Hirsche wie­der mehr wan­dern, dann wer­den die mög­li­chen Jagdergebnisse schlech­ter vor­her­seh­bar. Und wenn die Gämsen, die in den Bayrischen Alpen abge­schos­sen wer­den, um die Quoten zu erfül­len, immer jün­ger wer­den, wann wer­den sie wohl aus­ge­stor­ben sein?

Alice Agneskirchner glie­dert ihren Film the­ma­tisch in meh­re­re, lose mit­ein­an­der ver­bun­de­ne Teile, die jeweils für sich ste­hen und erst gemein­sam wir­ken: Landschaft und Jagd, das Tier als Nahrungsmittel, der Wolf als Rückkehrer in die Kulturlandschaft, der Kampf der Jäger gegen das Aussterben der Gams. Sie stellt als Autorin und Filmemacherin wich­ti­ge Fragen. Dabei kon­fron­tiert sie den Wolf mit dem Menschen als Jäger – ist der Mensch gut oder böse, weil er jagt? Ist es der Wolf? Eine Frau liest einer Kindergruppe den Anfang der Geschichte von „Bambi“ vor, ein frü­her lite­ra­ri­scher Höhepunkt der Vermenschlichung von Tieren. Ein Jäger sagt dazu: „Wir iden­ti­fi­zie­ren uns mit dem Reh, nicht mit dem Jäger.“ Und damit hat er meis­tens recht. Das Bambi-Syndrom bezeich­net die Moralisierung und Infantilisierung der Natur, ein weit ver­brei­te­tes Phänomen: Alles, was natür­lich ist, muss gut sein und ist gut, weil es natür­lich ist; alles vom Menschen Gemachte ist schlecht: Technik, Zivilisation … Aber was könn­te man ändern? Die Jägerinnen und Jäger, die im Film zu Worte kom­men, sind alles ande­re als zyni­sche Bösewichte. Ihnen ist klar, dass sie eine gro­ße Verantwortung tra­gen, wenn sie Tiere töten. Und wie sieht es aus mit jeman­dem, der sich ein­fach ein Schnitzel im Supermarkt kauft? Hier wer­den auch Grundeinstellungen hin­ter­fragt: Gibt es hier­zu­lan­de über­haupt noch einen „natür­li­chen“ Bezug zum Tier? Das Filmteam besucht in Kanada eine Gruppe indi­ge­ner Algonquin-Frauen, die gemein­sam auf die Jagd gehen. Für sie gehört das zur Tradition ihres Volkes, ihre Rituale unter­schei­den sich extrem von denen im deut­schen Jagdleben. Diese fröh­lich kichern­den, her­um­bal­lern­den Algonquin-Frauen haben ein staat­lich ver­brief­tes Recht zu jagen, weil sie Angehörige eines indi­ge­nen Volkes sind. Macht sie das natür­li­cher oder viel­leicht sogar zu bes­se­ren Menschen?

Auf all die­se Fragen gibt es kei­ne leich­ten Antworten, son­dern es scheint, als ob immer mehr Fragen ent­ste­hen, und die schwie­rigs­te lau­tet: Wie wol­len wir künf­tig unse­re Welt ver­wal­ten? Mit ihrem Film, der mit einem spar­sa­men Kommentar aus­kommt (Sprecher: Patrick Winczewski), lie­fert Alice Agneskirchner wich­ti­ge Denkanstöße. Dazu gibt es wun­der­schö­ne Bilder von Feld, Wald und Wiesen, und von den Tieren, die dort leben.

Gaby Sikorski | programmkino.de

Credits:
Deutschland 2018, 96 Min.
Buch und Regie: Alice Agneskirchner
Kamera: Johannes Imdahl, Owen Prümm
Montage: André Hammesfahr
Kommentar: Patrick Winczewski
Musik: Gert Wilden Jr.

Termine:

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AUF DER JAGDWEM GEHÖRT DIE NATUR | Trailer | Deutsch HD German