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Der nackte König – 18 Fragmente über Revolution

Ein Film von Andreas Hoessli. Termin folgt.

[Credits] [Termine] [Trailer]

Über die Verwandlung des Menschen in der Revolution, über Geheimdienstagenten und den Versuch, ein neu­es Lebensgefühl im Gedächtnis festzuhalten.

1979, Revolution im Iran. 1980, Revolution in Polen. Der Sturz des Schahs, des „Königs der Könige” im Iran, Massenstreiks und die Bewegung „Solidarnosc” in Polen. Was geschah in den Köpfen der jun­gen Frauen und Männer, die damals an den Revolutionen betei­ligt waren? Was ging in ihnen vor, als die Revolution nie­der­ge­schla­gen wur­de, oder – wie im Iran – eine reli­gi­ös-auto­ri­tä­re Elite die Macht über­nahm? Der Filmautor Andreas Hoessli leb­te damals als Forschungsstipendiat in Polen. Dort lern­te er den Reporter Ryszard Kapuscinski ken­nen, der von der Revolution im Iran berich­te­te. Kapuscinskis Aufzeichnungen sind Ausgangspunkt der Filmerzählung, in der der Filmautor auch die Berichte des pol­ni­schen Geheimdiensts über ihn selbst auf­greift – er ent­deckt dabei, dass er als Figurant unter dem Name „Hassan” für die gehei­men Dienste der Polnischen Volksrepublik ange­wor­ben wer­den sollte.
„Der nack­te König – 18 Fragmente über Revoution” wur­de am Dokumentarfilmfestival München 2019 mit dem Hauptpreis im inter­na­tio­na­len Wettbewerb aus­ge­zeich­net. Begründung der Jury: „We reco­gni­ze a pre­cise psy­cho­lo­gi­cal por­trait of a per­pe­tual­ly shat­te­ring world. As this essay moves across time, it tran­s­cends the power of record and docu­men­ta­ti­on alo­ne, to sur­vey the remains of revo­lu­ti­on, in con­ver­sa­ti­on with roman­ti­cism and limitation.”

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Credits:

CH/DE/PO 2019., 108 Min., Polnisch, Farsi, Englisch, Deutsch OmU, 
Buch und Regie: Andreas Hoessli
Schnitt: Lena Rem
Kamera: PeterZwierko

Termine:

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Trailer:

DnK – Der Nackte König_Trailer-DE from Mira Film on Vimeo.

 

Giraffe

Ein Film von Anna Sofie Hartmann.

Hier als „Video on demand”:

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Ein Tunnel soll gebaut wer­den, um Dänemark und Deutschland zu ver­bin­den; die Gegenwart macht sich in Richtung Zukunft auf, Veränderung liegt in der Luft. Die Ethnologin Dara doku­men­tiert die zum Abriss bestimm­ten Häuser. Der jun­ge Pole Lucek und sei­ne Kollegen berei­ten die kom­men­de Baustelle vor. Käthe arbei­tet auf der Fähre, bringt ste­tig Menschen mit ihren Geschichten und Waren hin und her. Birte und Leif ver­las­sen ihr über Generation ver­erb­tes Haus. Agnes‘ Leben spie­gelt sich in ihren Tagebucheinträgen, ihren Sammlerstücken und den Wänden ihres Hauses, das bald abge­ris­sen wird. Ein däni­scher Sommer: lan­ge Tage wer­den zu blau­en Nächten. Menschen begeg­nen sich, dann tren­nen sich ihre Wege wieder.

Raffiniert ver­steckt in einem Detail, könn­te die Erklärung für den Titel des Films auch unbe­merkt blei­ben. Augenscheinlich sind hin­ge­gen das behut­sa­me Vorgehen und der erho­be­ne Blickwinkel einer fik­ti­ven Geschichte, die − ver­wur­zelt im his­to­ri­schen Materialismus − eine euro­päi­sche Tunnelbaustelle, die Dänemark und Deutschland mit­ein­an­der ver­bin­den soll, dazu nutzt, die Erinnerung an ein Gebiet zu bewah­ren, das zum Verschwinden ver­ur­teilt ist. Dabei wer­den auch die sozia­len Beziehungen, die einer Ideologie des Fortschritts zum Opfer fal­len, untersucht.”
Antoine Thirion

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Credits:

DK/DE 2019, 87 Min.,  deutsch/englisch/dänisch/polnische OmU
Buch & Regie: Anna Sofie Hartmann 
Kamera: Jenny Lou Ziegel 
Schnitt: Sofie Steenberger
mit Lisa Loven Kongsli, Maren Eggert, Jakub Gierszał, Mariusz Feldman,

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Trailer: (vor­läu­fig)

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Sibyl

Ein Film von Justine Triet.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

SIBYL von Justine Triet war einer von gera­de­zu sen­sa­tio­nel­len vier (!) Filmen von Regisseurinnen, die 2019 in Cannes mit 17 ande­ren Werken um die Goldene Palme kon­kur­rier­ten (bei im Schnitt 1,14 Filmen von Frauen in 72 Jahren Wettbewerb). Er kommt jetzt als letz­tes Werk aus die­ser Reihe, nach PORTRAIT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN von Celine Sciamma und LITTLE JOE von Jessica Hausner (Mati Diobs ATLANTIQUE hat­te hier lei­der kei­nen Kinostart) auf unse­re Leinwand.

In Frankreich ist sie ein Star, in Deutschland noch eher unbe­kannt: Virginie Efira ver­kör­pert Sibyl, eine recht jun­ge, aber bereits geschie­de­ne Psychotherapeutin mit klei­ner Tochter, die genug hat von ihrem Beruf. Direkt nach ihrem Beschluss, sich mit vol­ler Kraft ihrer eigent­li­chen Leidenschaft, dem Schreiben, zu wid­men, ereilt sie sogleich eine ordent­li­che Blockade. Als Rettung erscheint Margot. Die ver­zwei­fel­te Frau setzt ihr hart­nä­ckig so lan­ge zu, bis es zu einer Therapiestunde kommt. Sie ist Schauspielerin, unglück­lich liiert mit Igor, dem bereits ver­ge­be­nen Filmpartner ihres aktu­el­len Films, und schwan­ger. Sibyl saugt ihre Geschichte als Inspiration gera­de­zu auf, und ver­liert immer mehr die Übersicht über ihre emo­tio­nel­le Beteiligung.

Beim Dreh direkt am Vulkan Stromboli, bei dem Sibyl ihre Patientin psy­cho­lo­gisch unter­stüt­zen soll, trifft sie auch noch auf Mika, Igors Lebensgefährtin. Die ist nicht weni­ger ist als die Regisseurin des Films, und wird von Sandra Hüller als unkon­ven­tio­nel­le Künstlerin, die der Arbeit auch per­sön­li­che Interessen unter­ord­net, ful­mi­nant gege­ben. Auch Mika will sie für sich ein­span­nen. Unter den viel­fäl­ti­gen Ansprüchen, die auf sie ein­pras­seln, droht Sibyls Leben voll­ends aus den Fugen zu geraten.

… In der Tat hat Triets drit­ter Spielfilm den Geist von Francois Ozon in sei­ner ver­spiel­tes­ten und aus­ge­las­sens­ten Form, leicht gekippt durch die sym­pa­thi­sche weib­li­che Perspektive der Regisseurin auf Frauen, die am Rande eines Nervenzusammenbruchs ste­hen und ohne Rücksicht auf Verluste wei­ter­ma­chen müs­sen. … Guy Lodge, Variety

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Credits:

FR 2019, 100 Min., frz. OmU
Regie : Justine Triet
Kamera: Simon Beaufils
Schnitt: Laurent Sénéchal
mit: Virginie Efira, Adèle Exarchopoulos, Gaspard Ulliel, Sandra Hüller

 

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Trailer:

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Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien

Ein Film von Bettina Böhler.

[Credits] [Tickets &Termine] [Trailer]

Welch eine Freude, wie­der ein­mal Christoph Schlingensief zuzu­hö­ren und zuzu­se­hen! Die gedank­li­che Schärfe, die schel­mi­sche Ironie und die poli­ti­sche Klarheit, mit der er in Bettina Böhlers Film über sich, sei­ne Kunst und sei­ne Filme spricht, las­sen den Ausnahmekünstler schmerz­lich ver­mis­sen, gleich­zei­tig aber auch quick­le­ben­dig auf der gro­ßen Leinwand auf­er­ste­hen. 2020 wäre Christoph Schlingensief 60 gewor­den. Bettina Böhler ist das gro­ße Kunststück gelun­gen, in nur zwei Stunden und aus­schließ­lich aus Archivmaterial ein Leben und ein Werk durch vir­tuo­sen Schnitt neu zu erzäh­len. Von Schlingensiefs ers­ten Super-8-Filmen bis zum Fluxus-Oratorium „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ umspannt ihr Film ein 40-jäh­ri­ges Schaffen und damit auch 40 Jahre (deutsch-)deutscher Geschichte, an der sich Schlingensief Zeit sei­nes Lebens radi­kal abge­ar­bei­tet hat. Meisterhaft mon­tiert Böhler Filmausschnitte und Privatvideos, Theatermitschnitte und viel bis­lang unver­öf­fent­lich­tes, neu digi­ta­li­sier­tes Material. Am Ende der Tour de Force bleibt die Frage: Wäre Schlingensiefs Kunst heu­te so noch denkbar?

Das Filmgespräch mit Bettina Böhler am 23.8. kann man hier anschauen.

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Credits:

DE 2020, 124 Min., 
Regie, Buch, Schnitt: Bettina Böhler
mit Christoph Schlingensief, Margit Carstensen, Irm Hermann, Alfred Edel, Udo Kier

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Trailer:

Schlingensief – In das Schweigen hin­ein­schrei­en | Offizieller Trailer HD | Jetzt im Kino

Kokon

Ein Film von Leonie Krippendorff.

 

Wir sind wie Fische im Aquarium. Wir schwim­men immer im Kreis.“ lässt Leonie Krippendorff ihre Heldin Nora ganz am Anfang sagen. Mit der Handykamera gefilm­te Bilder von Blumen,

Schmetterlingen, dem Kottbusser Tor sind da zu sehen, die in ihrem Hochkant-Format nur einen klei­nen Teil der Leinwand aus­fül­len. 14 Jahre ist Nora (Lena Urzendowsky) alt, bzw. jung, ein ver­schlos­se­nes, etwas schüch­ter­nes Mädchen, das im Kreis der Freunde ihrer etwas älte­ren Schwester Jule (Lena Klenke) eher Mitläuferin ist als wirk­lich dabei. Im Laufe des Films wird sich das ändern, wird Nora Erfahrungen sam­meln, wird das Bildformat immer brei­ter wer­den, als woll­te es Platz machen, für all die neu­en Erfahrungen und Sinneseindrücke, die nicht mehr in das klei­ne Handyformat passen.

Nora und Jule wach­sen am und um den Kottbusser Tor auf, das Zentrum von Kreuzberg, eine Gegend, die oft als gefähr­lichs­ter Ort der Hauptstadt beschrie­ben wird, an dem der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund hoch ist, an dem Heranwachsende aber auch ein beson­ders gro­ßes Maß an Freiheit haben. Gerade wenn die allein­er­zie­hen­de Mutter ihre Zeit lie­ber in einer Kneipe ver­bringt, als sich um ihre Töchter zu küm­mern, die so schon viel zu früh gezwun­gen sind, auf sich selbst aufzupassen.

Gerne son­nen sie sich auf den Dächern der Wohnblocks, fan­gen an zu rau­chen, nicht nur Zigaretten, hän­gen in Cafés ab, wo sie um die Aufmerksamkeit der Jungs buh­len oder gehen ins nahe gele­ge­ne Freibad. Dort sieht Nora auch zum ers­ten Mal Romy (Jella Haase), ein etwas älte­res Mädchen, das auch auf ihre Schule geht und schon allein äußer­lich anders ist: Wilde Haare, bun­te Klamotten, ganz offen­sicht­lich kei­nen Wert dar­auf­le­gend, von allen gemocht zu werden.

Und da auch Nora anders ist, nach­denk­li­cher, in Gläsern in ihrem Zimmer Raupen her­an­zieht, die sich ver­pup­pen und zu Faltern ver­wan­deln und auch beim Referat mit nur wenig Scheu von ihren Ängsten und Träumen berich­tet, fin­den sie und Romy zusam­men. Unbeschwerte Momente ver­brin­gen die bei­den, doch was für Romy eine inten­si­ve ers­te Erfahrung ist, ist für Romy nur ein Spiel.

Ja, die Metapher von der Raupe, die sich zum Schmetterling ver­wan­delt, ist nicht sub­til, doch das ist der ein­zi­ge Aspekt von Leonie Krippendorffs „Kokon“, der ein wenig bemüht wirkt. Abgesehen davon gelingt der Berliner Regisseurin in ihrem zwei­ten Film eine Coming-of-Age-Geschichte, die durch ihre genau beob­ach­te­ten Lebensumstände über­zeugt. Um die pro­fes­sio­nel­len, schon erfah­re­nen Hauptdarsteller hat Krippendorff ein Ensemble aus jun­gen Gesichtern geschart, die weni­ger Rollen spie­len als sie selbst zu sein. Egal ob in der Schule, wo sich auf­ge­plus­tert und ange­ge­ben wird, in der Freizeit, wo um die Gunst der Mädchen gebuhlt wird oder ein­fach auf den Straßen um das Kottbusser Tor: Wie eine Dokumentation wirkt „Kokon“ oft, ohne in einen pro­blem­be­haf­te­ten Sozialrealismus zu ver­fal­len. Was teil­wei­se wie ober­fläch­li­ches Verhalten wirkt, wie ein in den Tag hin­ein­le­ben, erscheint hier wie pure Authentizität. Das Krippendorff gera­de auch die kaum ver­hoh­le­ne Homophobie die­ser Welt nur andeu­tet und nicht mit erho­be­nem Zeigefinger anpran­gert, zeich­net ihren Blick aus. Keine mora­li­sche Lektion wird hier erteilt, son­dern das Leben jun­ger Menschen in Kreuzberg Anno 2020 gezeigt; unver­blümt, direkt und authentisch.

Michael Meyns | programmkino.de

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Credits:

DE 2020, 95 Min., dt. OmeU
Regie & Buch: Leonie Krippendorff
Schnitt: Emma Alice Gräf
Kamera: Martin Neumeyer
mit: Lena Urzendowsky, Jella Haase, Lena Elenke, Elina Vildanova, Anja Schneider, Denise Ankel


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Trailer:

Kokon Trailer Deutsch | German [HD]

Undine

Ein Film von Christian Petzold.

[Credits] [Termine & Tickets] [Trailer]

Die Historikerin Undine (Paula Beer) arbei­tet als Stadtführerin in Berlin. Als ihr Freund sie ver­lässt, holt sie der Fluch des alten Mythos ein. Wenn ihre Liebe ver­ra­ten wird, so heißt es in den alten Märchen, muss sie den treu­lo­sen Mann töten und ins Wasser zurück­keh­ren, aus dem sie einst gekom­men ist. UNDINE ist Christian Petzolds fas­zi­nie­ren­de Neuinterpretation des Mythos der geheim­nis­vol­len Wasserfrau Undine, die nur durch die Liebe eines Menschen ein irdi­sches Leben füh­ren und eine Seele erlan­gen kann. Undine wehrt sich gegen den Fluch der zer­stör­ten Liebe. Sie begeg­net dem Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski) und ver­liebt sich in ihn. Es ist eine neue, glück­li­che, ganz ande­re Liebe, vol­ler Neugier und Vertrauen. Atemlos ver­folgt Christoph ihre Vorträge über die auf den Sümpfen gebau­te Stadt Berlin, mühe­los beglei­tet Undine ihn bei sei­nen Tauchgängen in der ver­sun­ke­nen Welt eines Stausees. Doch Christoph spürt, dass sie vor etwas davonläuft…

Dieser Mythos hat Petzold gereizt. Allerdings strebt er weni­ger eine roman­ti­sche Aufheizung wie bei Ludwig Tieck oder Friedrich de la Motte Fouqué an, son­dern einen Perspektivwechsel, wie ihn schon Ingeborg Bachmann in ihrer Erzählung Undine geht voll­zog. Seine Undine will den Fluch bre­chen, ihr Schicksal selbst bestim­men, nicht mehr mor­den müs­sen, son­dern gehen kön­nen und neu lie­ben. Sie will nicht mehr län­ger Phantasma, also Objekt sein, son­dern end­lich Subjekt werden.“
Wenke Husmann | Zeit online

Paula Beer bekam soeben für ihre Rolle in die­sem Film als bes­te Darstellerin einen sil­ber­nen Bären auf der Berlinale 2020.

 

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Credits:

DE/FR 2019, 89 Min., dt. OmeU
Regie: Christian Petzold
Kamera: Hans Fromm
Schnitt: Bettina Böhler
mit Paula Beer, Franz Rogowski, Maryam Zaree

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Trailer:

UNDINE – der neue Film von Christian Petzold – offi­zi­el­ler Trailer

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Paris Calligrammes

Ein Film von Ulrike Ottinger.

[Credits] [Trailer]

Die zwan­zig­jäh­ri­ge Ulrike Ottinger roll­te mit ihrer knall­bunt ange­mal­ten Isetta 1962 nach Paris, um fran­zö­si­sche Freunde zu besu­chen. Die Isetta blieb auf der Strecke, aber Ottinger geriet in den Strudel der Metropole und wid­met ihr mit Paris Calligrammes ein bewe­gen­des und sub­jek­tiv mäan­dern­des Porträt. In weni­gen Jahren pas­sier­te immens viel, es gab radi­ka­le poli­ti­sche Umbrüche, gleich­zei­tig ent­fal­te­te sich eine viel­fäl­ti­ge Kunst- und Kulturszene, in der sich Ulrike Ottinger wie ein Fisch im Wasser tum­mel­te. Ihr Kalligramm beschreibt die Ankunft im legen­dä­ren Buchladen Calligrammes des deut­schen Exilanten Fritz Picard. Sie ist schon Malerin und ent­deckt die Pop Art für sich. Gleichzeitig wird der Algerienkrieg gera­de in Paris immer spür­ba­rer. Das Massaker an unbe­waff­ne­ten alge­ri­schen Demonstranten durch die Polizei mit­ten in der Innenstadt vor aller Augen ist genau­so Teil des Films wie spä­ter die bru­ta­len Auseinandersetzungen des Mai 1968, die schließ­lich im Generalstreik mün­de­ten und die fünf­te Republik fast zu Einsturz brach­ten. Es sind Geschichten, die Geschichte abbil­den, klug und per­sön­lich.

1962 kam ich als jun­ge Künstlerin nach Paris, um dort zu leben und zu arbei­ten. Die Zeit bis 1969, als ich die Stadt wie­der ver­ließ, wur­de nicht nur für mich zu einer der prä­gends­ten Phasen, son­dern war auch zeit­ge­schicht­lich eine Epoche der geis­ti­gen, poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Umbrüche. Der Film Paris Calligrammes ver­eint mei­ne per­sön­li­chen Erinnerungen an die 1960er Jahre mit einem Porträt der Stadt und einem Soziogramm der Zeit. Der Ariadnefaden durch den Film ist ein Gang durch Paris mit vie­len Stationen, an denen jeweils ein Thema in nicht chro­no­lo­gi­scher Form auf­ge­grif­fen wird. In der Tradition der Flanerie suche ich Brennpunkte der Stadt auf, die für mich per­sön­lich wie auch für die 1960er Jahre bedeut­sam waren, da sich dort ent­schei­den­de poli­ti­sche Ereignisse abspiel­ten, wich­ti­ge kul­tu­rel­le und künst­le­ri­sche Begegnungen statt­fan­den oder sich neue sozia­le Formen des Lebens ent­fal­te­ten. Paris war zu die­ser Zeit aber nicht nur „mel­ting pot“ der Intellektuellen und Künstler aus aller Welt, son­dern durch­lief die schwie­ri­ge poli­ti­sche Phase der Dekolonisierung. Der Algerienkrieg über­schat­te­te wie spä­ter der Vietnamkrieg die Aufbruchphase nach dem Zweiten Weltkrieg und brach­te die Menschen aus den Kolonien und die poli­ti­schen Konflikte in die Hauptstadt. Meine Freundschaften, die sich in die­sen Zeiten ent­wi­ckeln, waren daher so inter­na­tio­nal und bunt, wie span­nungs­reich und inten­siv.“ (Ulrike Ottinger)

Berlinale 2020: Berlinale Special 

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Credits:

DE/FR 2019, 129 Min.,  dt. OV (Sprecherin U. Ottinger), dt. Teil-UT 
Buch, Regie & Kamera: Ulrike Ottinger
Schnitt: Anette Fleming

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Trailer:

PARIS CALLIGRAMMES – Offizieller Trailer

 

La Vérité

Ein Film von Hirokazu Kore-eda.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Herrlich anzu­se­hen, wie Catherine Deneuve die Diva Fabienne mit an Bösartigkeit gren­zen­der Ignoranz gibt. Juliette Binoche nutzt als die in den USA als Drehbuchautorin ansäs­si­ge Tochter Lumir ihre sprach­li­chen Fähigkeiten, und Ethan Hawke glänzt als zweit­klas­si­ger Serienschauspieler an ihrer Seite. Es ist schon erstaun­lich, wie gut funk­tio­nie­rend Cannes-Gewinner Hirokazu KORE-EDA (hier­zu­lan­de vor allem durch sei­ne Filme „Nobody Knows“, „Like Father, Like Son“ und zuletzt „Shoplifters“ bekannt gewor­den. fsk Besucher erin­nern sich viel­leicht auch noch an „Maboroshi” und „After Life”) in sei­nem ers­ten außer­halb Japans gedreh­tem Film sei­nen Witz und sei­ne Menschlichkeit nach Frankreich trans­por­tiert. Im Eröffnungsfilm der Filmfestspiele von Venedig 2019 steht Fabienne, ein fran­zö­si­scher Weltstar, im Mittelpunkt. Ihr Motto „Lieber schlech­te Mutter und dafür gute Schauspielerin“, kann ihre Tochter Lumir ihr bis heu­te nicht ganz ver­ges­sen. Die lebt mit ihrem Mann Hank, einem hal­b­er­folg­rei­chen Darsteller, und Töchterchen Charlotte in New York. Aus Anlass der Veröffentlichung von Mamas Memoiren kom­men sie zum ers­ten Mal gemein­sam zu ihr nach Paris. Mit Rotstift und Post-Its bewaff­net stürzt sich Lumir auf das Buch, um die wirk­li­che Wahrheit in La Verité, so heißt die Biographie, her­zu­stel­len, alle dar­in ver­mu­te­ten Lügen und Übertreibungen zu kenn­zeich­nen und die Mutter damit zu kon­fron­tie­ren. Die reagiert genervt und Unverständnis vor­täu­schend, denn für sie ste­hen ande­re Dinge im Vordergrund: die Enkeltochter und vor allem ihr aktu­el­ler Film. Die Kündigung ihres lang­jäh­ri­gen und treu­en Sekretärs beschäf­tigt sie da schon weni­ger. Hank, des Französischen nicht mäch­tig, kann dem gan­zen Treiben nur mal mehr, mal weni­ger amü­siert folgen.

… ein Film von Hirokazu Kore-eda, mit den Themen, die ihn immer wie­der beschäf­ti­gen: Generationskonflikte, unvoll­stän­di­ge oder durch Traumata gefähr­de­te Familien, Zusammenleben, Älterwerden und Sterben. In La Verité kommt noch die eige­ne Vergangenheit dazu und wie man auf sie zurück­blickt, es geht um Geheimnisse und Lügen. Ein Schatten in der Vergangenheit führt hier dazu, dass sich Mutter und Tochter mit­ein­an­der aus­ein­an­der­set­zen müs­sen. Dazu passt es natür­lich, dass Fabienne gera­de in einem Film mit­spielt, bei dem es auch um eine pro­ble­ma­ti­sche Mutter-Tochter-Beziehung geht. Mit erzäh­le­ri­scher Einfachheit und bewun­derns­wer­ter Lebensklugheit treibt der Regisseur sei­ne Erzählung eben­so unter­halt­sam wie komisch vor­an. Und Catherine Deneuve ist eine Wucht.“
Michael Ranze | programmkino.de

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Credits:

FR/JP 2019, 106 Min., franz. OmU
Regie: Hirokazu Kore-eda
Kamera: Éric Gautier
Schnitt: Julien Lacheray
mit: Catherine Deneuve, Juliette Binoche, Ethan Hawke, Clémentine Grenier, Ludivine Sagnier

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Trailer:

La Vérité – Trailer OmU

Das letzte Geschenk

Ein Film von Pablo Solarz.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Eigenwillige Senioren erobern längst recht erfolg­reich die Leinwand, von „Ein Mann namens Ove“ über „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und ver­schwand“ bis „Toni Erdmann“. In der süd­ame­ri­ka­ni­schen Variation gibt der Schneider Abraham Bursztein (Miguel Ángel Solá) nun den betag­ten Helden mit lädier­tem Bein und leid­vol­ler Kindheit. Als sei­ne Töchter ihn ins Altenheim abschie­ben wol­len, fasst der 88-Jährige einen küh­nen Plan. Heimlich will er von Buenos Aires nach Polen rei­sen, um sei­nem Jugendfreund Piotrek des­sen Anzug zurück­zu­brin­gen, so wie er es ihm einst ver­spro­chen hat. Über 70 Jahre ist das her, seit­dem hat­ten die bei­den kei­nen Kontakt mehr. Davon lässt Abraham sich nicht beir­ren, stur will er die­ses titel­ge­ben­de, letz­te Geschenk in Lodz abliefern.

Weil kurz­fris­tig kei­ne pas­sen­den Flüge ver­füg­bar sind, bucht der Schneider ein Ticket nach Madrid und will die Reise mit dem Zug fort­set­zen. Mit einem ver­blüf­fen­den Trick (den man sich für sei­ne nächs­ten Flug mer­ken soll­te!) ver­schafft sich der Reisende eine gan­ze Sitzreihe im Flieger. Abraham hat nicht nur Platz für sein schmer­zen­des Bein, er macht zudem die Bekanntschaft mit einem jun­gen Musiker, der ihm bald noch nütz­lich wer­den soll. Nette Mitmenschen wer­den dem eigen­sin­ni­gen Alten auf sei­ner Odyssee durch Europa immer wie­der zur Seite ste­hen. Wie im Märchen tau­chen die­se guten Geister auf: Jene kratz­bürs­ti­ge Hotelbesitzerin Maria in Madrid, die dem bestoh­le­nen Gast als­bald ihr gol­de­nes Herz zeigt. Die gesel­li­ge Anthropologin Ingrid, die sein unver­söhn­li­ches Feindbild von Deutschen gehö­rig ins Schwanken bringt. Schließlich eine her­zens­gu­te Krankenschwester Gosia, die den geschwäch­ten Helden per­sön­lich bis ans Ziel bringt.

Je wei­ter die Reise geht, des­to mehr wird die tra­gi­sche Geschichte des Schneiders beleuch­tet. In Rückblenden erin­nert sich Abraham an die Gräuel der Nazi-Diktatur, die er als jüdi­sches Kind erlit­ten hat. Bis heu­te will er das Wort „Polen“ nicht aus­spre­chen, son­dern schreibt es stets auf einen Zettel. Mit Schrecken stellt der Holocaust-Überlebende am Pariser Bahnhof fest, dass sein Zug durch Deutschland fährt, ein Land, wel­ches er nie wie­der betre­ten woll­te. Und dann erweist sich just jene deut­sche Ingrid als ret­ten­der Engel in der Fremde.

So leid­voll die­se Biografie des Senioren sich abzeich­net, gelingt dem Drama sou­ve­rän die Balance zwi­schen Tragik und Heiterkeit. Von der poli­ti­schen Dimension abge­se­hen, bewegt sich die per­sön­li­che Ebene auf dem klas­si­schen grum­py old man-Terrain mit dem har­te Schale-guter Kern-Prinzip. Als chro­ni­scher Rechthaber tut sich der Dickkopf nicht sel­ten schwer damit, eige­ne Fehler zuzu­ge­ben. Aus sol­cher Sturheit erge­ben sich frei­lich regel­mä­ßig komi­sche Moment, schließ­lich kann die Nervensäge durch­aus char­mant sein.

Mit Miguel Ángel Solá ist der Hauptdarsteller exzel­lent besetzt. Mit gro­ßem Empathie-Potenzial fin­det er für den anrüh­ren­den Helden stets den rich­ti­gen Ton und die not­wen­di­ge Leichtigkeit: Von den Erzählungen sei­ner trau­ma­ti­schen Kindheitserlebnisse über rigo­ro­se Lektionen in Höflichkeit für Mitreisende bis zum galan­ten Flirt als Gentleman. Den weib­li­chen Part über­nimmt dabei Spaniens Schauspiel-Star Ángela Molina, die einst bei „Dieses obsku­re Objekt der Begierde“ von Luis Buñuel ihr Debüt gab. Das rühr­te auch die Zuschauer bei den Festivals von Atlanta, Miami und Philadelphia, die dem Film den Publikumspreis verliehen.

Dieter Oßwald | programmkino.de

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Credits:

El últi­mo traje
AR/ES 2017, 93 Min., span. OmU

Regie und Buch: Pablo Solarz
Kamera: Juan Carlos Gómez
Schnitt: Antonio Frutos
mit: Miguel Ángel Solá, Ángela Molina, Julia Beerhold, Natalia Verbeke, Olga Boladz, Martín Piroyansky, Jan Mayzel

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Trailer:

Trailer „Das letz­te Geschenk”

 

 

Jenseits des Sichtbaren – Hilma af Klint

Ein Film von Halina Dyrschka.

[Credits]  [Tickets & Termine] [Trailer]

Wer sich für Kunst inter­es­siert, kennt den Namen Hilma af Klint wahr­schein­lich schon län­ger, aber tat­säch­lich ist sie aus ver­schie­de­nen Gründen auf dem Weltmarkt für Kunst kaum ver­tre­ten. – Die inter­es­san­ten Gründe dafür kom­men im Film über ihr Leben und Wirken eben­falls zur Sprache. Sie sind untrenn­bar ver­bun­den mit den Mechanismen des Kunstmarkts, der – so wie bei­na­he alles ande­re – eben­falls wirt­schaft­li­chen Gesetzen unter­wor­fen ist, die sich immer stär­ker auf den Preis und damit auch auf den ideel­len Wert eines Kunstwerks auswirken.

Hilma af Klint, die 1862 in Schweden gebo­ren wur­de, pass­te und passt weder auf die gro­ßen Umschlagplätze für Bilder noch in die übli­chen Klischees der Kunstszene. Zum einen haben es Frauen in der Bildenden Kunst tra­di­tio­nell beson­ders schwer, aber zum ande­ren hat Hilma af Klint schon zu ihren Lebzeiten dafür gesorgt, dass ihre abs­trak­ten Werke dem Kunsthandel ent­zo­gen blie­ben. Diese Bilder, man­che groß­flä­chig, oft seri­ell, was in spä­te­ren Jahrzehnten zum Standard wur­de, sind etwas ganz Besonderes. Sie stel­len das Oeuvre einer Frau dar, die als Kind ihrer Zeit – um die Wende zum 20. Jahrhundert her­um – für sich selbst ent­schei­det, sich von der Welt, die sie sieht, zu ent­fer­nen und den künst­le­ri­schen Weg zu einer ande­ren, ver­geis­tig­ten Welt zu fin­den. „Die Welt ist nicht so, wie sie aus­sieht. Also muss ich sie (neu) erfin­den“, schreibt sie. Geprägt vom Fortschritt der Wissenschaft und von den bahn­bre­chen­den Entwicklungen zum Ende des 19. Jahrhunderts wen­det sich die an der schwe­di­schen Kunstakademie aus­ge­bil­de­te Malerin der abs­trak­ten Kunst zu, und zwar meh­re­re Jahre vor den bekann­te­ren, männ­li­chen Wegbereitern der Moderne, wie Kandinsky oder Mondrian. Als Zeichnerin und Malerin hat sie bereits beschei­de­ne Erfolge erzielt, doch der per­fek­te Naturalismus, den sie in ihren Bildern und Illustrationen, in ihren Porträts und Bewegungsstudien abbil­det, genügt ihr nicht mehr. Für eine Welt jen­seits des Sichtbaren, was neben spi­ri­tu­el­len Bereichen auch die Wissenschaft der Atome und Moleküle, der Strahlen und Wellen ein­schließt, macht sie sich auf die Suche nach ande­ren Ausdrucksformen. In kla­ren geo­me­tri­schen Mustern, häu­fig mit kräf­ti­gen, leuch­ten­den Farben und schein­bar spie­le­risch ergänzt durch viel­sei­ti­ge Formen und Symbole, spie­gelt sich ihre neue Weltsicht. Die zahl­rei­chen Aquarelle und Gemälde, die sie hin­ter­lässt, wer­den eben­so wie ihre Aufzeichnungen in Dutzenden von Notizbüchern zu Dokumenten einer star­ken Persönlichkeit und einer genia­len Künstlerin. Ihre krea­ti­ve Vision, das ahnt sie schon früh, passt nicht in das Weltbild ihrer Zeit. So ver­birgt sie die Bilder, ver­bie­tet den Verkauf nach ihrem Tode, sie stellt extrem sel­ten aus, hat aller­dings Kontakte zu ande­ren Künstlerinnen und Künstlern sowie zu Schriftstellern und Philosophen, mit denen sie sich meist brief­lich aus­tauscht. Ansonsten lebt sie allein und in engem Kontakt zur Natur. Mit 82 Jahren stirbt sie an den Folgen eines Unfalls.

Halina Dyrschka gelingt es in ihrem Film schein­bar mühe­los und in höchst span­nen­der Form, das Leben und das Schaffen der Künstlerin schlüs­sig zu ver­bin­den. Dafür greift sie unter ande­rem auf kur­ze, stum­me Spielszenen zurück, die zei­gen, wie Hilma af Klint ihre groß­for­ma­ti­gen Gemälde erschafft: bar­fuss und mit geschürz­tem lan­gen Rock zieht sie mit einem lan­gen Zeichenstock Konturen auf dem Papier. Wunderschöne Landschaftsaufnahmen, Großaufnahmen der unbe­rühr­ten Natur Schwedens sowie immer wie­der flie­ßen­des Wasser in sei­nen Linien und Strömungen zei­gen die Ursprünge des Denkens und Arbeitens die­ser Frau, die eine unbän­di­ge Leidenschaft und Liebe für das Leben gehabt haben muss. Eine Sprecherin zitiert dazu Hilma af Klints Worte: „In mir strömt eine so gro­ße Kraft, dass ich vor­wärts muss“, sagt sie. In die­sem Leben ist kein Platz für eine Ehe oder eine Familie. Auch Mitglieder ihrer Familie kom­men zu Wort, erzäh­len vom Leben einer in jeder Beziehung außer­ge­wöhn­li­chen Frau, nicht nur als Künstlerin. Sie mischt ihre Farben selbst: das strah­len­de Orange, die vie­len Blautöne und immer wie­der Rosa. Das Phänomen die­ser Farbgebung wird im Film eben­so kun­dig und inter­es­sant von Kunstfachleuten erör­tert wie die Interpretation der Bilder. Die Essenz ihres Schaffens könn­te in der Neugier lie­gen, mit der Hilma af Klint die Entgrenzung der Wirklichkeit fest­ge­hal­ten hat. Sie such­te und fand in ihrer Arbeit nicht nur sich selbst, son­dern auch die Stille – im Denken und im Empfinden. So ist der Film über ihr Leben und Werk ein zwar lei­ses, aber sehr ein­dring­li­ches Dokument, das, ähn­lich wie Hilma af Klint irgend­wie zwi­schen den Zeiten zu schwe­ben scheint: eine medi­ta­ti­ve, spi­ri­tis­ti­sche Reise in eine ande­re Welt.

Gaby Sikorski | programmkino.de

 

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Credits:

DE 2019, 93 Min., schwe­disch, eng­lisch, deut­sche OmU
Regie: Halina Dyrschka
Kamera: Alicja Pahl, Luana Knipfer
Schnitt: Antje Lass, Mario Orias

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Trailer: