Archiv der Kategorie: archiv

Kinders

Ein Film von Arash und Arman T. Riahi.

Ein diver­ses Porträt von Kindheit, erzählt als klas­si­sche Held*innenreise.
Die fas­zi­nie­ren­de wie berüh­ren­de spiel­film­na­he Doku erzählt, wie Kindern und Jugendlichen aus pre­kä­ren Verhältnissen mit Musik gehol­fen wird, ihr Leben in den Griff zu krie­gen. Die Brüder Arash und Arman T. Riahi haben eini­ge von ihnen ein Jahr lang beim Musizieren beglei­tet. Als erfah­re­ne Regisseure hal­ten sich dabei stets im Hintergrund und las­sen lie­ber den klei­nen Stars den Vortritt – bei Proben, in Familienszenen oder wenn sie vor der Kamera unbe­fan­gen und selbst­re­flek­tie­rend von ihren Ängsten und Träumen erzählen.

Ö 2017, 95 Min., Buch und Regie: Arash und Arman T. Riahi, Kamera Mario Minichmayr, Riahi Brothers, Schnitt: David Arno Schwaiger

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Kolyma

Ein Film von Stanislaw Mucha.

Man darf nichts zu ver­lie­ren haben, um heu­te hier leben zu wol­len.“ So lau­tet das Motto über die­sem Film, in dem Lachen und Verzweiflung dicht bei­ein­an­der­lie­gen. Die „Straße der Knochen“, so genannt nach den sibi­ri­schen Zwangsarbeitern, die hier ums Leben kamen oder ermor­det wur­den, ist auch im moder­nen Russland eine ver­ges­se­ne Region. Der Sommer ist kurz, der Winter lang – sehr lang – und die Menschen, die sich der Kamera stel­len, sind manch­mal viel­leicht ein­fach froh, dass sich jemand mit ihnen unter­hält. Die Landschaft ist karg, der Permafrost-Boden taut manch­mal auf, hier und da liegt Schnee, in der Tundra reg­net es häu­fig, nur sel­ten ist mal die Sonne zu sehen. Die Fahrt beginnt in der Hafenstadt Magadan, einem gott­ver­las­se­nen Nest, inzwi­schen Hauptstadt der Region. Links und rechts der Straße sind die Spuren der Sowjetherrschaft zu sehen: die Ruinen der Arbeitslager, ver­las­se­ne Minen, halb fer­ti­ge Wohnhäuser. Doch im Mittelpunkt ste­hen die Menschen, die hier leben. Manche sind hier gestran­det, eini­ge kamen als Flüchtlinge, ande­re waren Häftlinge, nur weni­ge haben ihre Wurzeln hier. „Ihr fahrt über einen Friedhof, ver­gesst das nicht“, sagt der alte Mann, der viel­leicht ein Ex-Häftling ist. Früher war Kolyma ein Synonym für den Gulag, für das unmensch­li­che System der so genann­ten „Besserungslager“, die als sowje­ti­sche Tradition von den Zaren über­nom­men wur­den und bis Ende der 80er Jahre in Betrieb waren. Hunderttausende von Menschen wur­den hier­her ver­bannt, vie­le aus poli­ti­schen oder reli­giö­sen Gründen, aber auch Schwerkriminelle sowie straf­fäl­lig gewor­de­ne Menschen, die je nach Auffassung des jewei­li­gen Regimes als „sozi­al schäd­lich“ gal­ten. Das konn­ten Adlige sein, aber auch Geschäftsleute. Als Häftlinge leis­te­ten sie Zwangsarbeit, arbei­te­ten unter elen­den Bedingungen in Goldminen oder im Uranabbau, ohne Strahlenschutz. So wird die Fahrt über 2000 Kilometer ent­lang dem Kolyma zur Reise in die Vergangenheit.

Ähnlich wie in sei­ner Schwarzmeer-Reise „Tristia“ hat Stanislaw Mucha wie­der ein Roadmovie als Filmcollage gedreht. Die Kamera bleibt meist sta­tisch, was ganz gut ist, denn das, was zu sehen ist, muss manch­mal erst­mal sacken. Die Gesprächspartner, die Stanislaw Mucha gefun­den hat, sind eine Auswahl exqui­si­ter Originale, lau­ter schrä­ge Typen. Da gibt es einen Hobbyphysiker, der sei­nen Vater mit­hil­fe von Strom ver­jün­gen möch­te – das soll­te man übri­gens kei­nes­falls ver­su­chen nach­zu­ma­chen. Eisangler sind zu sehen, Goldgräber mit selbst­ge­bau­ten Werkzeugen, ein Mann, der ein pri­va­tes Straflagermuseum auf­ge­baut hat, Flüchtlinge aus der Ukraine, ein ehe­ma­li­ger Schwerverbrecher und Zwangsarbeiter, ein zor­ni­ger Ex-Soldat lässt sich nur durch Akkordeonklänge beru­hi­gen … Dazu lie­fert Stanislaw Mucha ori­gi­nel­le Bilder aus dem sibi­ri­schen Alltag: tief­ge­kühl­te Pferdeköpfe auf dem Markt, Kunst aus Eis, wovon es hier reich­lich gibt. Alles ohne Kommentar und Erklärungen, was manch­mal etwas ver­wir­rend wirkt, zumal die Chronologie ganz col­la­ge­ty­pisch im Hintergrund bleibt. Unterbrochen wer­den die Interviews von bei­na­he bizar­ren Hobby-Kulturpräsentationen. Häufig sind es Kindertanzgruppen, die – ganz im Stil der Ex-Sowjetunion – Tänze und Songs zei­gen. Diese skur­ri­len Revuenummern, gleich­zei­tig rüh­rend und komisch, tra­gen ein biss­chen Leichtigkeit in den Film, der im Grunde vom Leben mit einer trau­ri­gen Vergangenheit han­delt, vom Wissen dar­über, was Menschen hier ande­ren Menschen ange­tan haben. Am Ende gibt es dazu ein inter­es­san­tes Statement, und viel­leicht war die gesam­te Reise von 2025 Kilometern bis Jakutsk nur die Vorbereitung für den Schluss. Wie stark strahlt das Leid über dem Land auf die fol­gen­den Generationen ab?

Aber sogar in Sibirien ist die neue Zeit ein­ge­zo­gen: Die fröh­li­che jun­ge Frau am Hot Dog-Stand kann mit dem Begriff „Gulag“ gar nichts mehr anfan­gen. Sie ver­steht „Gulasch“.
Gaby Sikorski | programmkino.de

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Credits:
Deutschland 2017, 85 Min., rus­sisch, deut­sche OmU
Buch, Regie: Stanislaw Mucha
Kamera: Enno Endlicher
Schnitt: Stanislaw Mucha, Emil Rosenberger 

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Termine:

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Kolyma [Offizieller Trailer Deutsch HD German]

The Rider

Ein Film von Chloé Zhao.

[indie­ki­no club]

In Chloe Zhaos auch schon wun­der­ba­rem Debut Songs my brot­her taught me fragt eine Lehrerin in einer doku­men­ta­ri­schen Szene ihre Klasse nach den Berufswünschen. Während die Mädchen „Lehrerin“, „Ärztin“, „Sängerin“ und ande­res ant­wor­ten, pla­nen die Jungen uni­so­no eine Karriere als „Bull-“ bzw. „Rodeorider“.
Hier im Reservat lernt die Regisseurin auch Brady ken­nen, einen jun­gen Cowboy, Pferdeflüsterer und ehe­ma­li­ger Rodeo-Champion india­ni­scher Herkunft. Rodeo – das ist in der offe­nen Wildnis der Heartlands South Dakotas aller­dings kein schnö­der Beruf, son­dern bedeu­tet den jun­gen Männern ALLES. Die Wettkämpfer bewun­dern ihre Champions, sie hal­ten zusam­men, küm­mern sich nach den nicht sel­te­nen Unfällen umein­an­der und machen sich sehr viel vor. Brady, Mittelpunkt des Films, spielt sei­ne Geschichte (aber nicht sich) qua­si selbst. Mit einer jün­ge­ren behin­der­ten Schwester und dem Vater lebt er auf und von der klei­nen Pferdefarm etwas abseits inmit­ten des hüge­li­gen Weidelandes. Nach einem Unfall am Stier und einer Metallplatte im Kopf ist ihm das Reiten ver­bo­ten, und zu sei­ner Verzweiflung muss auch noch sein Lieblingspferd ver­kauft wer­den, dabei dreht sich alles bei ihm ums Rodeo und die Arbeit mit und der Liebe zu Pferden. Hin- und her­ge­ris­sen zwi­schen sei­nem alten und zukünf­ti­gen Leben muss Brady sei­ne Identität neu aus­lo­ten, noch aber kann und will er nicht loslassen.

Ich will unse­ren Jungs sagen, dass es okay ist, ver­letz­lich zu sein, dass sie nicht sein müs­sen wie die toug­hen Gewinnertypen, die man sonst im Kino sieht. Ich möch­te unse­ren Söhnen sagen, dass sie ruhig geplatz­te Träume haben kön­nen, aber wah­re Helden die­je­ni­gen sind, die trotz­dem wei­ter­träu­men.“ Chloé Zhao

… ein bild­star­ker moder­ner Western, der die tra­di­tio­nel­len Männlichkeitsideale des länd­lich gepräg­ten Teils der USA auf fast schon zärt­li­che Weise hinterfragt.“
Christoph Petersen | filmstarts.de

In what will easi­ly go down as one of the best examp­les of this unu­su­al cas­ting pro­cess [means: to cast the real-life sub­jects of a sto­ry to por­tray them­sel­ves], Zhao has taken a ten­der nar­ra­ti­ve and trans­for­med it into a breath­ta­kin­gly beau­tiful dra­ma that shoots straight to the heart. … the spi­rit that emana­tes from the set­ting, cha­rac­ters, rela­ti­onships and direc­tion is bril­li­ant.“ Kiko Martinez, San Antonio Current

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Credits:
USA 2017, 104 Min., engl. OmU
Regie: Chloé Zhao
Kamera: Joshua James Richards

Schnitt: Alex O’Flinn
Darsteller: Brady Jandreau, Tim Jandreau, Lily Jandreau, Lane Scott

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Termine:

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12 Tage

Ein Film von Raymond Depardon.

Zwölf Tage – das ist die Frist, inner­halb derer in Frankreich ein Patient nach der Zwangseinweisung eine Anhörung vor Gericht bekom­men muss. Zehn Fälle doku­men­tiert Depardon, mit Kameras, die jeweils kon­zen­triert den Patienten oder die rich­ter­li­che Instanz in den Blick neh­men, unter­bro­chen von ein paar Raumeinstellungen. Die Sachlichkeit der Methode hilft der Empathie des Zuschauers auf die Sprünge: In sel­te­ner Klarheit sieht man den gro­ßen Schmerz, der allen psy­chi­schen Erkrankungen zugrun­de liegt.

70. Internationale Filmfestspiele von Cannes – Séances Spéciales

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Credits:

OT: 12 jours
F 2017, 87 Min., frz. OmU
Regie: Raymond Depardon
Kamera: Raymond Depardon
Schnitt: Simon Jacquet

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Termine:

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Am Strand

Ein Film von Dominik Cooke.

Schon ein­mal, 2007, war Saoirse Ronan in der Verfilmung eines Romans von Ian McEwan zu sehen, in „Abbitte“. Da spiel­te sie ein 13-jäh­ri­ges Mädchen, das im Sommer des Jahres 1935 die ero­ti­sche Spannung zwi­schen ihrer älte­ren Schwester und dem Sohn der Haushälterin regis­triert und mit einer fal­schen Beobachtung das Leben der bei­den zer­stört. Ronan ver­lieh die­sem Mädchen eine wun­der­vol­le Ambivalenz: nach­denk­lich, auf­merk­sam und kom­pli­ziert, für ihr Alter viel zu klug und doch unschul­dig, weil ihr die Sexualität der Erwachsenen noch ver­schlos­sen ist. Auch in „Am Strand“ wird es um Sexualität gehen, vor allem um die Angst davor, um Anziehung und Prüderie, um Begierde und Scheu.

Es ist der Sommer 1962. Florence (Saoirse Ronan) und Edward (Billy Howle), bei­de Anfang 20, haben soeben gehei­ra­tet. Nun sit­zen sie in einem lang­wei­li­gen, bie­de­ren Hotel am Chesil Beach in Dorset und essen zu Abend. Eine selt­sa­me Spannung liegt über dem Dinner, die Unterhaltung kommt nicht recht in Gang, man ahnt, dass etwas nicht stimmt. Die bevor­ste­hen­de Hochzeitsnacht legt sich wie Mehltau über die­sen Spätnachmittag. Nun erfährt der Zuschauer in Rückblenden, wie Florence und Edward sich ken­nen gelernt haben, wer sie eigent­lich sind. Florence stammt aus einer rei­chen, kon­ser­va­ti­ven Familie, ihr her­ri­scher Vater ist ein erfolg­rei­cher Geschäftsmann. Edwards Vater hin­ge­gen ist ein­fa­cher Lehrer, sei­ne Mutter ist nach einem Unfall geis­tig behin­dert. Florence spielt in einem Streichquartett meis­ter­haft Violine, Edward will ein­mal Autor wer­den. Zwei Menschen, wie sie unter­schied­li­cher nicht sein könn­ten. Der Liebe tut dies kei­nen Abbruch. Doch als Edward jetzt, im faden Hotelzimmer, Florence unge­schickt auf die Pelle rückt, stürmt die ent­setz­te Braut aus dem Hotel zum Chesil Beach. Der nun fol­gen­den Auseinandersetzung ist Edward nicht gewachsen…

Der Roman ist berühmt für sein Ende, in dem McEwan auf weni­gen Seiten den Rest von Edwards Leben refe­riert. Die Absicht ist klar: Dieser eine Abend am Strand von Chesil war von höchs­ter Bedeutung. Regiedebütant Dominic Cooke fin­det für den Schluss eine ange­neh­me­re Lösung, die den Zuschauer etwas wei­cher auf­fängt. Das ändert aber nichts an der Traurigkeit des Films, denn hier geht vor allem um ver­pass­te Lebenschancen, um falsch geleb­tes Leben und die Reue dar­über. Saoirse Ronan und Billy Howle machen die­ses Bedauern ein­drück­lich deut­lich: zwei Menschen, die noch zu jung sind für das, was an die­sem Abend auf sie zukommt. Besonders Ronan, die sel­ten schö­ner war als in die­sem Film, über­zeugt als eigent­lich selbst­be­wuss­tes Mädchen, das sich wort­reich gegen die kon­ser­va­ti­ven Eltern wehrt und sogar gegen die Atombombe demons­triert, mit Sex aber gar nichts am Hut hat. Die Rückblenden fügen sich naht­los in die Erzählung ein. Jede Szene aus der Vergangenheit offen­bart, dass die bei­den Liebenden sich frü­her woh­ler mit­ein­an­der gefühlt haben als aus­ge­rech­net jetzt, in der Hochzeitsnacht. Natürlich ist dies auch ein Film über das England der frü­hen sech­zi­ger Jahre und die Lustfeindlichkeit, die damals geherrscht haben muss. Miteinander zu schla­fen, die Jungfernschaft zu ver­lie­ren, hat­te für die­se Generation etwas zutiefst Verstörendes, die Eltern waren kei­ne gro­ße Hilfe. Dass nur weni­ge Jahre spä­ter mit der Beatlemania und den Swinging Sixties eine neue Ära der Freiheit begann, wie Cooke am Ende kurz andeu­tet, macht die­se ver­un­glück­te Hochzeitsnacht noch absur­der und beklemmender.
Michael Ranze | programmkino.de

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Credits:
On Chesil Beach
England 2017, 110 Min., engl. OmU
Regie: Dominic Cooke
Kamera: Sean Bobitt
Schnitt: Nick Fenton
Darsteller: Saoirse Ronan, Billy Howle, Anne Marie-Duff, Adrian Scarborough, Emily Watson, Samuel West

Termine:

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Meine Tochter – Figlia Mia

Ein Film von Laura Bispuri.

Die zehn­jäh­ri­ge Vittoria wächst in einem vom Tourismus unbe­rühr­ten sar­di­schen Dorf auf. Eines Tages trifft sie bei einem Rodeo die unge­stü­me Angelica, die so ganz anders als ihre für­sorg­li­che Mutter Tina ist. Vittoria ahnt nicht, dass die bei­den Frauen ein Geheimnis ver­bin­det. Seit lan­ger Zeit schon besucht Tina Angelica auf ihrem her­un­ter­ge­kom­me­nen Hof, wo sie mit eini­gen alten Pferden und einem treu­en Hund in den Tag hin­ein­lebt. Tina ist nicht wohl dabei, dass Angelica und ihre Tochter Vittoria sich näher ken­nen­ler­nen. Als die ver­schul­de­te Angelica aufs Festland zie­hen möch­te, bie­tet sie ihr erleich­tert finan­zi­el­le Unterstützung an, sie kann jedoch wei­te­re Begegnungen der bei­den nicht ver­hin­dern. Das Mädchen ist fas­zi­niert von die­ser Frau, die vor nichts Angst hat, ihre eige­nen Wege geht und mit der sie die Insel neu entdeckt.
Wie schon in ihrem Regiedebüt Vergine giura­ta beglei­tet Laura Bispuri eine Heldin, die sich mit ver­schie­de­nen Vorbildern kon­fron­tiert sieht, die­se imi­tiert und hin­ter­fragt und sich dabei ihrer selbst bewusst wird. Das war­me Licht des sar­di­schen Sommers beglei­tet Vittoria bei ihrer auf­wüh­len­den Expedition.
Berlinale 2018: Wettbewerb

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Credits:
Italien / Deutschland / Schweiz 2018, 100 Min., ital. OmU
Regie: Laura Bispuri
Buch: Francesca Manieri, Laura Bispuri
Kamera: Vladan Radovic
Schnitt: Carlotta Cristiani
mit:
Valeria Golino (Tina)
Alba Rohrwacher (Angelica)
Sara Casu (Vittoria)
Udo Kier (Bruno)
Michele Carboni (Umberto)

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Termine:

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Augenblicke: Gesichter einer Reise

Ein Film von Agnes Varda und JR.

Mit Filmen wie „Cleo – Mittwoch zwi­schen 5 und 7“ präg­te die 1928 gebo­re­ne Agnès Varda das moder­ne Kino als inno­va­ti­ve Filmemacherin mit. Der über ein hal­bes Jahrhundert jün­ge­re Fotograf und Streetart-Künstler Juste Ridicule ali­as JR tat sich in den letz­ten Jahren her­vor, als er bei­spiels­wei­se Fotos von Menschen aus den Banlieues an abriss­rei­fe Häuser pla­ka­tier­te oder mit dem Graffitikünstler Blu am stadt­be­kann­ten Graffiti an der Berliner Cuvry-Brache arbei­te­te. Wenn sich Varda und Ridicule zusam­men­tun, tref­fen also zwei Generationen auf­ein­an­der, die einen künst­le­ri­schen Blick auf die Welt teilen.

In einem umge­bau­ten Kamera-Van, der über eine Fotokabine ver­fügt und über­gro­ße Poster dru­cken kann, fah­ren Varda und JR durch Frankreich. Auf einem Bauernhof in der Provence oder am Strand der Normandie, wo ein deut­scher Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg in die Brandung gekippt ist, foto­gra­fie­ren die Künstlerin und der Künstler ansäs­si­ge Menschen wie eine Kellnerin oder Ziegenbauern. Die Porträts befes­ti­gen sie an aus­ge­wähl­ten Fassaden, an Zügen oder auch mal an den Containern im Hafen von Le Havre, wo sie Porträts der Ehefrauen der Arbeiter anbrin­gen. Auf Motivsuche erge­ben sich immer wie­der Zufälle und Fügungen, die das per Crowdfunding finan­zier­te Kunstprojekt beeinflussen.

Es geht um Landschaften und Gesichter und natür­lich um Agnès Varda und JR selbst. Der essay­is­ti­sche Film nimmt sich Zeit für fein­sin­ni­ge Beobachtungen und Anekdoten. Wie in „Agnès‘ Strände“ aus dem Jahr 2008 erin­nert sich Varda an ihre Vergangenheit und lässt sich sogar zum Arzt beglei­ten, wo sie den neus­ten Stand ihrer unheil­ba­ren Augenkrankheit erfährt. In einer Szene besu­chen Varda und JR das Grab des Fotografen Henri Cartier-Bresson und sei­ner Frau Martine Francke, in einer ande­ren erwei­sen sie der berühm­ten Louvre-Szene aus Jean-Luc Godards „Außenseiterbande“ eine Referenz. Gegenwärtiges trifft auf Vergangenes, Heiterkeit auf Melancholie. Das Gefühl, das die­ser poe­ti­sche Film ver­mit­telt, liegt irgend­wo dazwischen.
Christian Horn | programmkino.de

Credits:
OT: Visages villages
Frankreich 2017, 89 Min., frz. OmU
Regie & Buch: JR, Agnès Varda
Kamera: Claire Duguet (Bonnieux, Reillanne, Usine), Nicolas Guicheteau (Paris, Usine, le Nord), Valentin Vignet (BnF, côte Normande), Romain Le Bonniec (Vexin, Le Havre, Pirou), Raphael Minnesota (Musée du Louvre), Roberto De Angelis (Cuisine, Suisse), Julia Fabr
Schnitt: Agnès Varda, Maxime Pozzi-Garcia
Musik: Matthieu Chedid aka ‑M-
Mitwirkende: JR, Agnès Varda, Jean-Paul Beaujon, Amaury Bossy, Yves Boulen, Jeannine Carpentier, Marie Douvet, Jean-Luc Godard

Termine:

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AUGENBLICKE: Gesichter einer Reise | Offizieller Trailer Deutsch HD

The Cleaners (OmU)

Ein Film von Hans Block & Moritz Riesewieck.

Es war die schlimms­te Drohung, die ich in letz­ter Zeit hör­te, und sie kam von Mark Zuckerberg. Er sprach vor Publikum auf der jähr­li­chen FB-Entwickler-Versammlung: „Man muss opti­mis­tisch sein, wenn man die Welt ver­än­dern will. Wir tun es mit jeder wei­te­ren Verbindung. Mit jeder wei­te­ren Innovation. Tag für Tag.“ Es sind nicht die bekann­ten Daten-Missbrauchs-Vorwürfe, son­dern das gro­ße Ganze der „sozia­len Medien“, war­um mich die­ser Schluss des Films The Cleaners schau­dern lässt. „Cleaners“ sind die Menschen, die den welt­wei­ten Datendreck ent­sor­gen und uns vor schlim­men Dingen in den ein­schlä­gi­gen Internet-Plattformen schüt­zen sol­len, indem sie alles, was neu gepos­tet wird, begut­ach­ten und in Sekunden ent­schei­den: „igno­rie­ren oder löschen“. Es gibt Tausende die­ser „Content Moderators“, die meis­ten in Manila, die damit (wahr­schein­lich wenig) Geld ver­die­nen und ihre Psyche einer gro­ßen Gefahr aus­set­zen. Der Film hat eini­ge von Ihnen getrof­fen. Es ist ein har­ter Job, und kul­tu­rel­le Missverständnisse, wie das Löschen eines preis­ge­krön­ten Vietnamkriegs-Fotos, weil dar­auf ein nack­tes Kind zu sehen ist, sind vor­pro­gram­miert. Aber eigent­lich geht es um viel viel mehr und tie­fer, was die bei­den Regisseure nach schwie­ri­ger Recherchearbeit gestal­tung­be­wusst zei­gen. Achtung: im letz­ten Drittel muss man auf eini­ge weni­ge bru­ta­le Bilder gefasst sein.

Credits:
D 2018, 88 Min. engl. OmU
Regie: Hans Block, Moritz Riesewieck
Kamera: Axel Schneppat, Max Preiss
Schnitt: Philipp Gromov, Hansjörg Weissbrich, Markus CM Schmidt
Musik: Paradox Paradise (John Gürtler, Jan Miserre, Lars Voges)

Termine:

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The Cleaners – Offizieller Trailer HD

Wunder der Wirklichkeit

Ein Film von Thomas Frickel.

Am 22.12. 1991 stürz­te an einem Berg nahe Heidelberg ein Flugzeug ab, 28 Menschen star­ben. Unter den Opfern: der Rüsselsheimer Filmemacher Martin Kirchberger und sein Team. Sie star­ben bei den Dreharbeiten für den sati­ri­schen Kurzfilm Bunkerlow. Regisseur Thomas Frickel, ein Freund Kirchbergers, wid­met 25 Jahre nach dem Unglück sei­nen Dokumentarfilm Wunder der Wirklichkeit der Künstlergruppe Cinema Concetta um Kirchberger und por­trai­tiert deren Schaffen. Im pro­vin­zi­el­len Umfeld von Rüsselsheim irri­tier­te die Gruppe mit flu­xus-affi­nen Aktionen und pseu­do-doku­men­ta­ri­schen Kurzfilmen. Kirchbergers Haltung: „Vielleicht war alles umsonst, aber wir hat­ten ein gutes Gefühl.“

Am So., 27.5. gibt es im Anschluss an „Wunder der Wirklichkeit” einen ein­zig­ar­ti­gen Einblick in das Schaffen der Gruppe Cinema Concetta rund um Martin Kirchberger. Erich Schaffner, ehe­mals Darsteller in „Kirchis“ Filmen, ent­deckt mit uns das Archiv wie­der: von bren­nen­den Stühlen, über die Kunst des Gurkensteckens, bis hin zu „Bunkerlow“, dem Film, der dem Team zum Verhängnis wurde.

Credits:
D 2017, 101 Min.
Regie: Thomas Frickel
Kamera: Thomas Frickel, Voxi Bärenklau
Schnitt: Torsten Truscheit

Termine:

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Wunder der Wirklichkeit

Ein Leben

Ein Film von Stéphane Brizé.

[indie­ki­no Club]

Der zeit­ge­nös­si­sche Arbeitslose Thierry in Stephan Brizes kurz vor Ein Leben ent­stan­de­nem Film Der Wert des Menschen (2015) und die jun­ge Adlige Jeanne aus dem 19. Jahrhundert in Ein Leben haben auf den ers­ten Blick nichts mit­ein­an­der gemein. Genauer hin­ge­schaut ent­deckt man jedoch, dass sich bei­de z.B. lan­ge den von ihnen gefor­der­ten Anpassungen ver­wei­gern, da sie mit ihrer eige­ner Grundhaltung kol­li­die­ren, ohne offen­siv zu rebel­lie­ren. Jeanne blickt auf die Welt auch noch dann ohne Hintergedanken, als sich ihre Umgebung schon lan­ge und wie es üblich ist beim Älterwerden, von Ehrlichkeit und Vertrauen ver­ab­schie­det hat. Das kann man dumm nen­nen, aber auch als beson­ders schön ansehen.
Das Romandebüt von Guy de Maupassant von 1883 folgt der Geschichte einer jun­gen Frau aus wohl­ha­ben­den Haus, die einen ver­arm­ten jun­gen Vicomte Hals über Kopf aus roman­ti­schen Gefühlen her­aus hei­ra­tet, aber schon bald von ihm betro­gen und belo­gen wird. Der Film erzählt im Rhythmus der Jahreszeiten und kon­zen­triert sich voll und ganz auf sei­ne Heldin. Dabei redu­ziert er die Handlung zuguns­ten von Stimmungen, Blicken, Gesten, Geräuschen, Bildern und ver­zich­tet auf eine kon­ven­tio­nel­le Dramaturgie, ohne das dra­ma­ti­sche Wesentliche aus den Augen zu ver­lie­ren: ein Frauenleben, hier im 19. Jahrhundert, die Enge in jeder Beziehung, die Enttäuschungen, die tra­di­tio­nel­len gül­ti­gen Verhaltensmuster, die Ausweglosigkeit.
„Ein Leben ist ein Kostümfilm, der das Genre sou­ve­rän unter­läuft und weiß, dass man einer lite­ra­ri­schen Vorlage nur gerecht wird, wenn man sie unz­im­per­lich einer fil­mi­schen „Lesung“ unter­wirft. Was in die­sem Fall heißt: Alles, was der Roman an Drama, auch an mör­de­ri­schem, kine­ma­to­gra­fisch saf­tig offe­riert, wird just nicht gezeigt.“
Matin Walder | filmbulletin

Credits:
F/B 2016, 119 Min., franz. OmU
Regie: Stéphane Brizé, Kamera: Antoine Héberlé
Schnitt: Anne Klotz
mit:Judith Chemla, Jean-Pierre Darroussin, Yolande Moreau, Swann Arlaud

Termine:

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