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Paradies

Ein Film von Andrei Konchalovsky.

Konchalovsky macht uns mit drei Personen ver­traut, deren Wege sich wäh­rend der Nazidiktatur kreu­zen. Jules, Polizeioffizier und Kollaborateur, der im besetz­ten Paris für die Deutschen die Drecksarbeit macht, Folter ein­ge­schlos­sen. Ansonsten ein Mann mit Stil und Familie. Olga, die rus­si­sche Aristokratin im Exil ver­sucht zwei jüdi­sche Kinder zu ver­ste­cken. Sie wird ver­haf­tet, Jules vor­ge­führt und schließ­lich ins Konzentrationslager ver­schleppt. Helmut ist die drit­te Person, ein glü­hen­der Nationalsozialist, SS Offizier und Lagerkontrolleur. Er trifft Olga, die er zufäl­lig auf einer Reise in Italien ken­nen­lern­te, im KZ wie­der. Die Handlung wird immer wie­der unter­bro­chen, weil die drei Hauptpersonen des Kammerspiels über das Erlebte befragt wer­den. Offensichtlich befin­den sie sich dabei nicht mehr im Diesseits. Sie reflek­tie­ren was geschah, geben Auskunft, schwei­fen ab, erzäh­len. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen im 4:3‑Format bei den Befragungen, die manch­mal fast wie Tableaus wir­ken­den Bilder sowie die kunst­vol­le Einführung und Verschränkung der drei Hauptfiguren las­sen PARADIES wie eine Parabel erschei­nen. Dazu passt auch das stets etwas distan­ziert wir­ken­de Spiel der Darsteller bei gleich­zei­ti­ger Überzeichnung der Charaktere, was ins­be­son­de­re bei den Deutschen wie dem KZ-Kommandanten Krause oder Heinrich Himmler deut­lich auf­fällt. Dadurch ent­geht Konchalovsky der Gefahr, sich an Klischees abzu­ar­bei­ten und schlägt einen ande­ren, abs­trak­te­ren Weg ein. Die ein­zi­ge natür­li­che Person ist Olga. Menschlich in einer von macht­süch­ti­gen, ent­in­di­vi­dua­li­sier­ten Männern domi­nier­ten Schreckenszeit.

„Mit sei­nem ästhe­tisch beein­dru­cken­den Werk gelingt dem inter­na­tio­nal bekann­ten rus­si­schen Regie-Altmeister Andrej Konschalowsky ein sub­ti­ler Blick aus gesamt­eu­ro­päi­scher Sicht auf Schicksale in Zeiten des bar­ba­ri­schen Horrors durch den Holocaust. Speziell mit den streng kadrier­ten Schwarz-Weiß-Aufnahmen ver­sucht er sich dem Grauen nüch­tern und unprä­ten­ti­ös zu nähern. Die beängs­ti­gen­de Atmosphäre sei­nes Melodrams, um eine hoff­nungs­lo­se Liebe, ver­schärft er weni­ger durch dra­ma­tur­gi­sche Zuspitzung, son­dern ver­dich­tet es mit sti­lis­ti­schen Mitteln, wie den Zeugen-Sequenzen sei­ner Darsteller vor einer Art Jenseits-Gericht.”
Luitgard Koch | programmkino.de

Russland/Deutschland 2016, 130 min., rus­sisch, deut­sche, fran­zö­si­sche, hebäi­sche OmU
Regie: Andrei Konchalovsky
Drehbuch: Andrei Konchalovsky, Elena Kiseleva.
Darsteller: Julia Vysotskaya, Philippe Duquesne, Christian Clauß, Peter Kurth, Jacob Diehl, George Lenz, Viktor Sukhorukov, Anna-Mariya Danilenko, Anastasiya Serova, Yaroslav Khimchenko, Jean Denis Römer, Caroline Piette

Dark Blood

Ein Film von George Sluizer.

Von Euch ver­gif­tet, von uns ver­flucht“, nen­nen die Indianer ihre ehe­ma­li­ge Heimat, die, über­zo­gen von Strahlung aus den Atomtests, für Jahrtausende unbe­wohn­bar blei­ben wird. In die­se Wüste hat sich Boy, ein ver­stör­ter jun­ger Mann mit india­ni­schem Wurzeln, nach dem Strahlentod sei­ner Frau zurück­ge­zo­gen. Buffy und Harry, ein Schauspielerpaar aus Hollywood auf Beziehung-Rettungs-Urlaub, stran­den in der Nähe von Boys Hütte und sind auf sei­ne Hilfe ange­wie­sen. Schnell wird klar, dass Buffy sein Interesse geweckt hat, aber sie und ihr arro­gan­ter Ehemann ahnen noch nicht, dass sie in eine Falle gera­ten sind. River Phoenix (Boy) war eines der viel­ver­spre­chen­den Schauspielertalente der frü­hen 90er Jahre, zusam­men mit heu­ti­gen Stars wie Johnny Depp, Christian Slater oder Keanu Reeves, an des­sen Seite er in Gus van Sant’s MY PRIVATE IDAHO beein­druck­te. Kurz vor Ende der Dreharbeiten zu DARK BLOOD ver­sag­te sein Herz plötz­lich nach einer Nacht mit ver­schie­de­nen und vor allem zu vie­len Drogen. Nach dem Aus für den Film fiel das Material an die Versicherung. Erst 2012 konn­te der Regisseur sein Werk been­den, das die Berlinale, wo er 2013 im Wettbewerb zu sehen war, einen »exis­ten­zia­lis­ti­schen Spätwestern von sug­ges­ti­ver Kraft« nannte.

»Sluizer hat den Film neu geschnit­ten, teil­wei­se mit der Stimme von Rivers Bruder Joaquin nach­syn­chro­ni­siert und die Leerstellen nicht mit neu gedreh­ten Szenen kaschiert, son­dern deut­lich aus­ge­stellt: Während das Bild immer wie­der ein­friert, liest Sluizer die feh­len­den Passagen aus dem Off vor. Diese Rekonstruktion ist zwei­fel­los ein inter­es­san­tes Experiment, .… Dabei drängt sich vor allem die Frage auf, ob das feh­len­de vier­te Stuhlbein, wie Sluizer es nennt, schmerz­haft spür­bar macht, was hier für ein Film hät­te ent­ste­hen kön­nen oder, im Gegenteil, ob die offen­sicht­li­che Unfertigkeit eine Bereicherung dar­stellt, weil sie der Vorstellungskraft des Zuschauers Raum lässt.« Michael Kienzl, critic.de

Nl 2012, 86 Min., engl. OmU 
Regie: George Sluizer 
Kamera: Edward Lachman
Schnitt: Michiel Reichwein 
mit: River Phoenix Judy Davis Jonathan Pryce Karen Black

DARK BLOOD – (Trailer) | missingFILMs | Kinostart: 13.07.2017

Der Ornithologe

Ein Film von  João Pedro Rodrigues. (Am 19.7. mit anschlie­ßen­dem Filmgespräch mit João Pedro Rodrigues)

Ganz ruhig fängt der Film an, die Wasseroberfläche des Sees, auf dem der jun­ge Vogelforscher pad­delt, bewegt sich kaum, kein Lärm stört die Wahrnehmung der Naturgeräusche. Die Augen des Mannes und mit ihm die Kamera neh­men aller­lei Vögel in den Blick. Doch mit dem Sturz aus dem Schlauchboot beginnt eine Irrfahrt im wort­wört­li­chen Sinne: was erlebt und was hal­lu­zi­niert wird, das lässt sich im wei­te­ren Verlauf kaum mehr unter­schei­den. „Der Ornithologe“ von João Pedro Rodrigues ist ein Abenteuer im dop­pel­ten Sinn. Zum einen han­delt es sich, wenn man es benen­nen müss­te, wohl um so etwas wie einen Abenteuerfilm über einen ver­irr­ten Ornithologen in der Wildnis. Zum ande­ren wagt der Film ein nar­ra­ti­ves Abenteuer, das mit sol­cher Frische und Nonchalance daher­kommt, dass das Sehen des Films zu einem ganz ande­ren Abenteuer wird. Ein Abenteuer, das zeigt, was im Kino mög­lich wäre, wenn man es denn (los)ließe. (Patrick Holzapfel, kino-zeit.de)

O Ornitólogo,
Port./F/Bras. 2016, 118 Min., port. OmU,
Buch und Regie: João Pedro Rodrigues,
Kamera: Rui Pocas,
Schnitt: Raphaël Lefèvre,
mit: Paul Hamy, Han Wen, Chan Suan, Xelo Cagiao u.a.

Der Ornithologe – Trailer 1 – pt – UT Deutsch

Meine glückliche Familie

Ein Film von Nana Ekvtimishvili, Simon Gross,  Am 16.7. in Anwesenheit von Simon Gross.

Manana reißt die Fenster in ihrer neu­en Wohnung auf und wird sie nicht mehr schlie­ßen. Entfernter Straßenlärm, fröh­li­ches Vogelgezwitscher und sanf­te Windgeräusche bil­den den Klang ihres neu­en Lebens. Die 52-Jährige hat ihre Familie ver­las­sen und will ihren Geburtstag nicht im Kreis der Vertrauten fei­ern. Ohne Begründung. Ohne Streitereien. Tatsächlich scheint es kei­ne kon­kre­ten Gründe für ihren Auszug zu geben. Wird sie nach dem Warum gefragt, schweigt sie und gibt die Frage zurück. Es ist eher das Gefüge der Familie an sich, dem sich Manana ent­zie­hen will. Die Rollen, die man zu spie­len hat, die Funktionen, die man über­nimmt, damit der Betrieb läuft, die aber auch dazu füh­ren, dass man selbst unter­geht oder über­se­hen wird. Nun sitzt Manana am offe­nen Fenster, lernt Gitarre und singt geor­gi­sche Lieder. Deren melan­cho­li­scher Rhythmus fließt in den Film ein. Wann immer ihre Wege sie in die alte Familienwohnung füh­ren, scheint alles beim Alten zu sein, die Großmutter backt Huhn, der Großvater denkt über den Tod nach, die fast erwach­se­nen Kinder war­ten dar­auf, dass ihr Leben end­lich los­geht, ihr Ehemann Soso raucht Kette und die Kleiderschranktür quietscht ver­traut vor sich hin. Genau das ver­führt Manana nicht dazu, ihre Entscheidung rück­gän­gig zu machen. Was die Familie als Wärme und ursprüng­li­che Verbundenheit fei­ert, emp­fin­det sie als Enge und Druck. Genau wie die Übergriffigkeit, die oft in den herz­lich gemein­ten Gesten steckt. Und den Zwang zur Konformität, der noch ver­stärkt wird durch Freunde und Nachbarn.

Chemi Bednieri Ojakhi
Georgien/D/F 2016, 120 Min., georg. OmU 

Regie: Nana Ekvtimishvili, Simon Gross 
Drehbuch: Nana Ekvtimishvili 
Kamera: Tudor Panduru 
Schnitt: Stefan Stabenow 
Darsteller: Ia Shugliashvili, Merab Ninidze, Berta Khapava, Tsisia Kumsishvili, Giorgi Khurtsilava, Giorgi Tabidze

Trailer MEINE GLÜCKLICHE FAMILIE from Zorro Film on Vimeo.

Im Kino in der OmU Fassung !!

Dil Leyla

Ein Film von Asli Özarslan.

Die 26-jäh­ri­ge Leyla Imret, in Bremen auf­ge­wach­se­ne Tochter eines toten PKK-Kommandeurs, wur­de 2014 zur Bürgermeisterin der ana­to­li­schen Stadt Cizre gewählt und kehr­te mit gro­ßen Plänen in ihre Geburtsstadt im Südosten der Türkei zurück. Dann aber bra­chen die Kämpfe erneut auf, die Stadt wur­de zwei­mal vom tür­ki­schen Militär bela­gert und schwer beschä­digt, Imret als Terroristin ange­klagt. Der unter schwie­ri­gen Bedingungen ent­stan­de­ne Dokumentarfilm zeich­net ein frag­men­ta­ri­sches Porträt der jun­gen Politikerin, wobei sich pro­to­kol­la­ri­sche Beobachtungen und per­sön­li­che Nähe zur bedrü­cken­den Innensicht eines bra­chia­len Militärkonflikts verdichten.

Bilder von Trümmern, ankla­gen­den Opfer und eine müde und getrof­fe­ne İmret Leyla, die im Verlauf die­ser Entwicklungen ihres Amtes ent­ho­ben wur­de, pus­ten den Optimismus, den vor allem das Einfangen ihrer ruhi­gen, aber bestimm­ten Art, Lokalpolitik zu machen zu Beginn des Films ver­spü­ren lie­ßen, im Nu weg.

Ein Film, der ein­mal mehr zeigt, wie die pri­va­ten mit den poli­ti­schen Verhältnissen ver­quickt sind und für die schwie­ri­ge Lage von Kurden unter der tür­ki­schen Herrschaft Erdogans sensibilisiert.

D 2016, 71 Min.
Regie: Asli Özarslan
Kamera: Carina Neubohn
Schnitt: Ana Branea

23. Jüdisches Filmfestival Berlin & Brandenburg 2017

Auch die­ses Jahr spie­len wir eine Auswahl von Filmen des Jüdischen Filmfestivals, genau­er von Dokumentarfilmen oder sol­chen, die so erschei­nen. Einige der Regisseur*Innen wer­den zum Gespräch erwar­tet. Untertitel sind in Englisch.

Angel Wagenstein-Art is a wea­pon ist ein viel­schich­ti­ges Porträt über den jüdisch-bul­ga­ri­schen Filmautor und Romancier Angel Wagenstein („Sterne“, „Eolomea“), der auch mit 95 Jahren als idea­lis­ti­scher Kommunist noch immer von einer bes­se­ren Welt träumt. Angel Wagenstein wird zu Gast sein. USA, BGR 2017 , Regie: Andrea Simon
(3.7. 18:00)

Praise the Lard Denkt man an jüdi­sche Gerichte, kom­men einem vie­le lecke­re Sachen in den Sinn, doch eins kaum: Schweinefleisch. Denn die kosche­re Tradition im Judentum ver­bie­tet den Verzehr. Trotzdem gibt es in Israel seit der Staatsgründung eine flo­rie­ren­de Schweinefleischindustrie. Israel 2016, Regie Chen Shelach,
Vorfilm: The Chop GB 2015, Regie: Lewis Rose
(3.7. 20:00)

Pepe’s last batt­le Michael Alalu hat einen Film über sei­nen Vater gemacht, den kau­zi­gen Jerusalemer Lokalpolitiker und Alt-Linken Yosef „Pepe“ Alalu, der als Bürgermeister für Jerusalem kan­di­diert. Isr. 2016, Regie: Michael Alalu
(5.7. 18:00)

Reversing Oblivion – Ein Weg aus dem Vergessen Durch Zufall hört die US-Filmproduzentin Ann Michel vom Verkauf eines im heu­ti­gen Polen befind­li­chen Landguts, das bis 1938 Eigentum ihrer ober­schle­si­schen Familie war. Im Zuge ihrer Recherchen erfährt Michel auch, dass ihre Familie 1938 ent­eig­net wur­de, weil jüdisch. USA 2016, Regie: Ann Michel und Philip Wilde
(5. 7.: 20:00)

Monsieur Mayonnaise Verspielte fil­mi­sche Reise mit dem aus­tra­li­schen Maler und Filmemacher Philippe Mora in die Jugendzeit sei­ner Eltern. Sein jüdi­scher Vater Georges Mora floh als Kommunist 1930 aus Deutschland und war unter dem Decknamen „Monsieur Mayonnaise“ ein Mitglied der fran­zö­si­schen Résistance. AU/D 2016, Regie: Trevor Graham
(8.7. 18:00)

Vanished: Lilian Poetess / Bebe Zwei Künstlerinnen, die nie exis­tier­ten, wer­den in die­sen bei­den Mocumentaries gefei­ert: Lilian Levi war eine begna­de­te Dichterin, die in der israe­li­schen Kulturszene nie Fuß fas­sen konn­te und nach Frankreich emi­grier­te. Die Transgenderfrau Bebe Goldberg hat als Mann den Holocaust über­lebt, träum­te von einer Schauspielkarriere, arbei­te­te als Sexworkerin und spä­ter in Cabarets in Europa, bevor sie in Israel ihre eige­ne Bühne eröff­ne­te. Israel 2016, Regie: Yair Qedar, Ilan Peled
(8.7. 20:00)

Mohamed and Anna – In Plain Sight Der wäh­rend der Nazi-Diktatur in Berlin prak­ti­zie­ren­de Arzt Mohamed Helmy ist der bis­lang ein­zi­ge Araber, der von Israel als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt wur­de. Selbstlos behan­del­te der mus­li­mi­sche Ägypter jüdi­sche Patienten. Mit Mut und gro­ßem Einfallsreichtum konn­te er das jüdi­sche Mädchen Anna Boros vor dem Abtransport in die Vernichtungslager ret­ten. IL 2017, Regie: Taliya Finkel (10.7. 20:00)

Mehr: www.jfbb.de

JFBB im fsk:

Mein wunderbares West-Berlin

Ein Film von Jochen Hick. Ab 29.6. im fsk.

Ein Rückblick, der in den 1950er Jahren beginnt, als Verfolgung und Bestrafung homo­se­xu­el­ler Männer mit dem seit 1872 bestehen­den §175 legi­ti­miert wur­de. Offen und viel­fäl­tig, die bei­den Attribute, die Berlin jetzt schmü­cken, war die Stadt frü­her nicht. Freiraum muss­te erst geschaf­fen wer­den, lang­sam aber ste­tig wuchs in den fol­gen­den Jahren die Subkultur, neue Szene-Bars und Clubs beleb­ten West-Berlin. Das Private wur­de poli­tisch, der gesell­schaft­li­che Wandel muss­te müh­sam erkämpft wer­den. „Mein wun­der­ba­res West-Berlin“ ist eine Art Oral-History der Schwulenbewegung, eine wert­vol­le Aufzeichnung der lebens­ge­schicht­li­chen Erinnerungen vie­ler Akteure, der Film hält fest, wie repres­siv es ein­mal war und wie lang­sam wur­de, was nun ist.

Es ist eine gro­ße Freude, Hicks enig­ma­ti­schen Protagonist*innen zuzu­se­hen und zuzu­hö­ren, wie sie sehr offen, oft unei­tel und ohne Pathos oder Verklärung auf ihre mal schö­nen, mal schwie­ri­gen Zeiten in Westberlin zurück­bli­cken. Sicher hat es mit der Nähe zum Filmemacher zu tun, dass hier Gespräche auf Augenhöhe geführt wer­den und manch­mal sehr inti­me Einblicke in Privates nie den Verdacht auf­kom­men las­sen, hier wer­de jemand aus­ge­stellt. Für einen Dokumentarfilm ist das ein gro­ßer Glücksgriff, denn gera­de weil die gro­ße Emotionalisierung ver­mie­den wird, wird im Film auf sehr bewe­gen­de Art ein gro­ßes Stück Zeitgeschichte umso leben­di­ger.“ Toby Ashraf, Indiekino

D 2017, 95 Min. 
Buch, Regie: Jochen Hick 
Kamera: Alexander Gheorghiu, Jochen Hick 
Schnitt: Thomas Keller

 

Mein wun­der­ba­res West-Berlin – Trailer für die offi­zi­el­le Website from Salzgeber & Co. Medien GmbH on Vimeo.

Der Tod von Ludwig XIV.

Ein Film von Albert Serra.

Der Spanier Albert Serra ist ein Meister dar­in, Figuren der Kulturgeschichte aus­gie­big gewöhn­li­chen Situationen aus­zu­set­zen, so Don Quichote (Honor de Cavalleria) und die Heiligen drei Könige (Birdsong). Mit der Beobachtung des Sterbens Ludwig XIV. kommt jetzt erst­mals ein Film von ihm, und dazu der ers­te fran­zö­si­sche, regu­lär hier ins Kino.

Der König der fran­zö­si­schen Könige, der Sonnenkönig, stirbt. Die letz­ten 15 Tage sei­nes Lebens begin­nen mit einer Schwäche wäh­rend eines Empfangs. Ab dann muss der abso­lu­te Herrscher das Bett in sei­nem Schlafgemach in Versailles hüten, wo sich aller­lei Hof- und Regierungsvolk, Verwandt- und Ärzteschaft aus dem gan­zen Land um ihn ver­sam­melt. Man scheint besorgt oder erschüt­tert, will auf­mun­tern oder hel­fen, sich selbst Vorteile ver­schaf­fen oder auch schon Ränke für die Zeit danach schmie­den. Vor allem jedoch regiert Ratlosigkeit – bei Ärzten wie Bediensteten. Während sein Kopf zumeist in der rie­si­gen Perücke ver­schwin­det, wird jede Regung genau regis­triert: was möch­te er, trinkt er, trinkt er nicht? Atmet er noch? Wohin schaut er? Flüstert er etwas? Was und wie isst er?, kom­men­tiert, gege­be­nen­falls auch ger­ne beklatscht und mit „bravo“-Rufen bedacht. In die­sem abge­dun­kel­ten Raum mit dem schwe­ren Interieur herrscht eine bizar­re, fast zeit­lo­se Atmosphäre, in die nur Vogelgezwitscher, sel­ten ein paar ver­lo­re­ne Sonnenstrahlen und das Summen der Insekten noch Leben hin­ein­brin­gen und zur „Entspannung des Sinne“ (Serra) beitragen .

Vom Regisseur ursprüng­lich als 15-Tage-live-Installation für die docu­men­ta gedacht, erwies sich das Projekt aus Sicherheitsgründen zu teu­er. Der Filmdreh mit der Verkürzung der Ereignisse auf knapp 2 Stunden dau­er­te mit 14 Tagen schließ­lich fast so lan­ge. Detailgetreu den Memoiren Herzog Saint-Simons ent­nom­men, ist es den­noch kei­ne Geschichtslektion.

»Von „Handlung“ kann man hier kaum spre­chen – es han­delt sich viel­mehr um eine Abfolge win­zi­ger, rea­ler oder mög­li­cher Ereignisse, die zum Ende der längs­ten könig­li­chen Amtszeit der fran­zö­si­schen Geschichte füh­ren – und zum Erlöschen eines Körpers, der mit Macht und Nation untrenn­bar ver­schmol­zen war. Die Bedeutung des Biologischen und Zeremoniellen insze­niert Serra sehr fan­ta­sie­voll; in humor­vol­len Dialoge und Situationen vol­ler Abschweifungen, Bücklingen und demons­tra­ti­ven Ergebenheitsgesten als komi­sche und doch ehr­li­che Ausdrücke einer bedin­gungs­lo­sen Liebe zu dem Monarchen.« Olivier Pere | arte

»Albert Serra berei­chert das Weltkino mit einer neu­en Form der Klassikeradaption: gro­ße Stoffe zei­gen Auflösungserscheinungen in sei­nen mäan­dern­den, grenz­nar­ra­ti­ven Filmen.« cargo

La Mort de Louis XIV
F 2016, 115 Min., franz. OmU
Regie: Albert Serra
Buch:Albert Serra, Thierry Lounas
Kamera: Jonathan Ricquebourg,Julien Hogert, Artur Tort
Schnitt: Ariadne Ribas, Artur Tort,Albert Serra
mit Jean-Pierre Léaud, Patrick d’Assumçao, Marc Susini

 

 

 

 

 

 

 

Jahrhundertfrauen

Ein Film von Mike Mills.

Mike Mills JAHRHUNDERTFRAUEN (20th CENTURY WOMEN) ist eine warm­her­zi­ge Zeitreise ins son­ni­ge Kalifornien der spä­ten 1970er Jahre. Ein Hauch von Wehmut liegt über dem Film, viel­leicht weil Mills mit dem Film eine Hommage an sehr gelieb­te unkon­ven­tio­nel­le Frauen in sei­nem Leben gedreht hat, viel­leicht aber auch, weil er von den 70ern als einer Zeit erzählt, in der die Leute noch wirk­lich indi­vi­du­el­le Lebensentwürfe gesucht und pro­biert haben. Leuchtendes Zentrum des Films ist Annette Bening, die die allein­er­zie­hen­de Dorothea Fields mit einem Charme und einer Eigenwilligkeit spielt, der man sich nicht ent­zie­hen kann. In den 30er Jahren auf­ge­wach­sen, hat Dorothea ihren Sohn Jamie spät, mit über 40, bekom­men und frei­heit­lich erzo­gen. Rückblenden erzäh­len von den krea­ti­ven Entschuldigungsschreiben, die sie ihm für die Schule schreibt. Inzwischen wohnt sie mit Jamie, der von Lucas Jade Zumann als sehr lie­bens­wer­ter und etwas intro­ver­tier­ter Teenager gespielt wird, und ihrer Untermieterin Abbie – Greta Gerwig als depres­si­ve Punk-Fotografin – in einem reno­vie­rungs­be­dürf­ti­gen Schmuckstück von Haus. Weitere Quasi-Mitbewohner sind der Tischler William (Billy Crudup), hip­piesk und sexy, der bei den Renovierung hilft, und das Nachbarmädchen Julie (Elle Fanning), die bes­te Freundin von Jamie – ein Beziehungsstatus, der Jamie zuse­hends schwe­rer fällt.
Zu Beginn des Films beschließt Dorothea, dass Jamie für eine erfolg­rei­che Pubertät über sei­ne Mutter hin­aus Bezugspersonen braucht und bit­tet Abbie um Hilfe. Die schleppt den Jungen auf Konzerte und drückt ihm femi­nis­ti­sche Lektüre in die Hand. JAHRHUNDERTFRAUEN erzählt komisch, weh­mü­tig und lie­be­voll von den gemein­sa­men Versuchen aller, Jamies Pubertät in die­ser Zeit des poli­ti­schen Umbruchs zu meis­tern. Dabei hat Mills sei­ne Protagonistinnen der ver­schie­de­nen Generationen eben­so im Blick, wie den leicht über­for­der­ten 20th Century Boy in ihrer Mitte.  (Hendrike Bake)

20th Century Women
USA 2016, 118 Min.
Regie: Mike Mills
Drehbuch: Mike Mills
Kamera: Sean Porter
Musik: Roger Neill
Darsteller: Billy Crudup, Annette Bening, Elle Fanning, Greta Gerwig

20th Century Women | Official Trailer HDA24

in Kino mit Untertiteln

Innen Leben

Ein Film von Philippe Van Leeuw.

24 Stunden, eine Wohnung, innen. Draußen herrscht Krieg, Schüsse fal­len, Hubschrauber krei­sen, Bomben deto­nie­ren – das Haus steht in Damaskus, eine Offensive ist gera­de im Gange. In der Wohnung ver­sucht man mit Pragmatismus, sich in den nächs­ten Tag zu retten.

Oum Yazan, ihr Schwiegervater und ihre drei Kinder sind hier zuhau­se, ihr Mann ist unter­wegs. Der Schwarm der Tochter ist zu Besuch, er kann nicht weg, zu gefähr­lich. Auch für Delhani, der phil­ip­pi­ni­schen Haushaltshilfe wäre der Heimweg zu gefähr­lich. Die Wohnung des jun­gen Nachbarpaares mit Baby ist auch zu gefähr­lich, des­halb sind auch sie bei Oum unter­ge­kom­men. Am nächs­ten Morgen wol­len sie in den Libanon flie­hen, ein Helfer ist schon gefunden.

Im Laufe des Tages, zwi­schen dem Wissen um Scharfschützen auf dem Dach, Wasserknappheit im Haushalt, zeit­wei­sem Ausfall von Strom‑, Internet- und Telefonnetz und Angst vor Eindringlingen und Dieben muss Oum, manch­mal in sekun­den­schnel­le, lebens­wich­ti­ge Entscheidungen zu tref­fen. Hiam Abass, die man aus Lemon Tree, Die Syrische Braut oder Ein Sommer in New York ken­nen soll­te, spielt Oum mit gro­ßer Präsenz und Intensität, der man die gro­ße Verantwortung, die sie trägt, anmerkt, dabei aber stets die all­täg­li­che Routine reso­lut auf­recht zu erhal­ten versucht.

»Vor allem Hiam Abbas’ Figur ver­kör­pert einen aus der Verzweiflung resul­tie­ren­den Pragmatismus, eine schier unmög­lich gewor­de­ne Menschlichkeit. Wen schüt­zen, wem hel­fen, wen preis­ge­ben? Draußen auf dem Hof liegt ein Toter, oder ist er nur ange­schos­sen? Irgendwann drin­gen Assads Männer in die Wohnung, für die Frauen gibt es kei­nen siche­ren Ort. Unmöglich, kei­nen Verrat zu bege­hen.« Christiane Peitz, Tagesspiegel

Mehrfach wur­de Innen Leben – InSyriated als „(mit Abstand) wich­tigs­ter Film der Berlinale“ beti­telt. Dass er nie rei­ße­risch wirkt und vol­ler Empathie für sei­ne Figuren bleibt, wur­de, wohl neben sei­ner Aktualität, mit den Panorama-Publikumspreis und das Europa-Cinemas-Label belohnt.

Insyriated
Belgien, 2017, 85 Min., arab. OmU

Regie & Buch: Philippe Van Leeuw
Kamera: Virginie Surdej
Schnitt: Gladys Joujou
Mit Hiam Abbass, Diamand Bou Abboud, Juliette Navis

INSYRIATED de Philippe Van Leeuw – Bande annonce