Erst fördert der türkische Staat den Film, dann fordert er das Geld zurück – weil er dem Kulturministerium nicht passt. Der Grund hierfür kann nur geraten werden: Drogen, Homosexualität, Zweifel an der nationalen Identität, das sind Themen, die nicht gut ankommen bei den Zensur- und anderen Behörden. Die Aufmerksamkeit auf den Film führte immerhin zu großem Interesse und einem Kassenerfolg in der Türkei. Der Thriller spielt in einer Kleinstadt, wo Wassermangel immer mehr Böden absinken und riesige Sinklöcher entstehen lässt. Ob bestimmte soziale Gefüge und Machtkonstellationen auch mitschuldig an dieser Entwicklung sein könnten, soll ein neuer Staatsanwalt untersuchen. Aber schon die Richterin warnt den jungen Mann: „Sie müssen sich ändern, wenn Sie in der Provinz arbeiten möchten!“ rät sie ihm. Und dann war da noch das Gerücht, sein Vorgänger habe das Handtuch geschmissen, aus Angst, vergiftet zu werden. „Alper schafft es, viele eindrückliche Suspense-Momente zu erzeugen, die sowohl an den Film noir der 1950er und 60er Jahre als auch an das Paranoia-Kino der 1970er Jahre denken lassen. Die ambivalent gezeichneten Figuren, die stets Zweifel erwecken, ob ihnen wirklich zu trauen ist, und die von Korruption geprägten Strukturen innerhalb des dörflichen Kosmos, der nach seinen ganz eigenen Regeln funktioniert, erinnern an Werke wie Orson Welles’ Im Zeichen des Bösen (1958). … Die Bilder, die der Regisseur zusammen mit seinem Kameramann Christos Karamanis findet, sind überaus atmosphärisch – etwa die Aufnahmen des tiefen Kraters in der weiten Landschaft oder die Passagen in der oft klaustrophobisch anmutenden Wohnung, in der sich der Protagonist zunehmend unsicher fühlt.“ Andreas Köhnemann | kino-zeit.de
Tsutomu Mizukami war neun Jahre alt war, als ihn seine Eltern aus Armut in ein Zen-Kloster in Kyoto schickten. Mit 13 hatte er genug und rannte fort, nahm aber die ihm dort begonnene Liebe fürs Kochen mit. Er wurde Amateur-Bauer und Amateur-Koch, wie er sagt, – und Schriftsteller. Die Essensvorbereitung sei kein bloßer äußerer Ablauf, das Kochen nach Zen bestehe darin, das meiste aus den Lebensmitteln zu machen. Der Mönch ist dafür verantwortlich, das Feld mit der Küche zu verbinden, so die verfassten Lehren. Yuji Nakaes Film Das Zen Tagebuch folgt der autobiografischen Erzählung des Autors (der auch bekannt war für seine Krimis mit sozialen Themen), und verbindet diese mit Geschichten aus dem Leben des in den Bergen allein lebenden Protagonisten. Er nimmt sich Zeit, um von Einsamkeit, dem literarischen Schaffensprozess, den punktuellen, aber wichtigen Kontakten und über Ernährung zu erzählen. Tsutomu baut Gemüse an, sammelt Pilze, Adler- und Straußenfarne, Wassersellerie, Udo-Spargel, Kakis – alles, was die Natur hergibt: „du sollst das Gemüsefeld fragen, was du kochen sollst“ heißt eine der Zen-Regeln, die er befolgt. Seine gekochten, eingelegten, getrockneten Köstlichkeiten teilt er gerne mit anderen, besonders mit Machiko, seiner Lektorin. Sie kommt gelegentlich von Tokio hinauf in die Berge, um ihn an die Fertigstellung seines neuen Buches zu erinnern – und das Essen zu genießen. Und eines Tages muss unerwartet eine große Gesellschaft bekocht werden … Durch seine spielerische Komponente und faszinierende Einfachheit ist Das Zen Tagebuch fast eine Komödie über Zen im Alltag, nimmt aber dabei seine Hauptfigur, den Schriftsteller, sehr ernst. Die Verantwortung und Achtung gegenüber den Dingen. die wir zum Leben brauchen, stehen in Verbindung mit der Gelassenheit gegenüber den Herausforderungen angesichts des immer bevorstehenden Todes. Ein abgeschiedener Ort in den Bergen ist wahrscheinlich ein guter Ausgangspunkt, um so zu leben. Es kann aber auch einem:er gewöhnlichen Städter:in nicht schaden, sich dem, ähnlich wie Machiko, gelegentlich anzunähern.
Michael Meyns | programmkino.de
Credits:
Tsuchi o kurau jûnika getsu JP 2022, 111 Min., japan. OmU Regie: Yûji Nakae Kamera: Hirotaka Matsune Schnitt: Ryuji Miyajima Buch: Yûji Nakae nach der Erzählung „Tsuchi wo Kurau Hibi – 12 Monate von der Erde essen” von Mizukami Tsutomu mit: Kenji Sawada, Takako Matsu, Fumi Dan, Naomi Nishida, Toshinori Omi, Koihachi Takigawa
Vom 06.–13.09.2023 findet dieses Jahr das größte polnische Filmfestival außerhalb Polens statt (mehr, Katalog). Im fsk zeigen wir alle sieben Wettbewerbsbeiträge und zwei Specials:
Vom 06.–13.09.2023 findet dieses Jahr das größte polnische Filmfestival außerhalb Polens statt (mehr). Im fsk zeigen wir alle sieben Wettbewerbsbeiträge und zwei Specials: So erzählt Damian Kocurs mit Laiendarstellerinnen besetztes Drama CHLEB I SÓL / BROTUNDSALZ im 4:3‑Format vom Klavierstudenten Tymoteusz, der in seine altes abgehängtes Provinzstädtchen zurückkehrt, wo Alkohol, Aggression und Ressentiments gegen alles Fremde auf der Tagesordnung stehen – und von der Eskalation, die daraus folgen muss. (13.9. / 20:00 Tickets) Ebenfalls in einer Stadt ohne Perspektiven angesiedelt ist der Dokumentarfilm LOMBARD / DASPFANDHAUS von Łukasz Kowalski, der bei DOK Leipzig 2022 den Doc Alliance Award gewann. Die dokumentarische Studie ist ein intimer Blick hinter die Kulissen eines Pfandhauses in Bytom, das nicht nur von den Schicksalen der Käuferinnen und Betreiberinnen, sondern den prekären Lebensentwürfen vieler Menschen in strukturell schwachen Gegenden zu berichten weiß. (9.9. / 20:00 GAST: Łukasz KowalskiTickets) DASPFANDHAUS ist nicht der einzige dokumentarische Beitrag im Wettbewerb. Als zweites Roadmovie im filmPOLSKA-Programm widmet sich BÓG I WOJOWNICYLUNAPARKÓW / GOD&LUNAPARKWARRIORS wieder einer Familienkonstellation, diesesmal aus Vater und Sohn. Der atheistische Schriftsteller Andrzej Rodan und sein Sohn Paweł, ein tief gläubiger Christ mit entsprechenden Karriereabsichten, liegen in ihren Ansichten grundsätzlich über Kreuz und machen sich auf den Weg, den herzkranken Vater zu retten. Geistig-geistlich versteht sich, denn es handelt sich um den verzweifelten Versuch einer Evangelisation. (11.9. / 20:00 GAST: Bartłomiej Żmuda Tickets) Mit THESILENTTWINS von Agnieszka Smoczyńska ist auch ein international von der Kritik gefeierter Beitrag im Programm. Smoczyńskas zwischen Drama und Thriller changierender erster fremdsprachiger Film feierte in Cannes 2022 seine Premiere und basiert auf realen Ereignissen: Das barbadische Zwillingspaar June und Jennifer Gibbons wächst in den 70er-Jahren in der xenophoben walisischen Provinz auf und beschließt irgendwann, mit niemandem mehr zu sprechen. (7.9. / 20:00GAST: Agnieszka Smoczyńska Tickets) Ergänzend dazu steuert Dorota Lamparska mit PRZEJŚCIE/ THEPASSAGEeinen dezidierten Arthouse-Film bei, in dem die Themen Vergänglichkeit und Tod anhand einer kaputten Brücke ins Jenseits und dem Schicksal der zwischen Leben und Tod herumirrenden Protagonistin Maria mit ironischem Unterton verhandelt werden. (12.9. / 20:00 GAST: Dorota Lamparska Tickets) Zwei Filme beleuchten Machtverhältnisse und Manipulation. In Grzegorz Mołdas Kammerspiel MATECZNIK / THEHATCHER muss sich der junge Strafgefangene Karol mit elektronischer Fußfessel den bisweilen sadistisch anmutenden Resozialisierungsmethoden seiner Betreuerin Marta fügen. (10.9. / 20:00TicketsGAST: Grzegorz Mołda) Im Mittelpunkt von Tomasz Habowskis Schwarz-Weiß-Film PIOSENKI O MIŁOŚCI / LIEBESLIEDER steht hingegen die Musik zwischen Karriere und zweckbefreiter Leidenschaft: Hier prallen die Welten des hochambitionierten, wohlsituiert aufgewachsenen Komponisten Robert und der als Kellnerin arbeitenden, „heimlichen“ Sängerin Alicja unerbittlich aufeinander, mit schwer wiegenden Konsequenzen. Der Film ist prominent besetzt: Die Rolle der Alicja spielt Justyna Święs, Sängerin des erfolgreichen Pop-Duos The Dumplings. (8.9. / 20:00 GAST: Tomasz Habowski Tickets) Die Specials: CICHAZIEMIA | Stilles Landvon Aga Woszczyńska beobachtet ein polnischen Ehepaar beim Versuch, einen entspannten Urlaub an der Küste Sardiniens zu verbringen. (10.9. / 15:00 Tickets) In KOBIETANADACHU / Woman On The Roofvon Anna Jadowska verzeifel die Ärztin Mira kurz vor der Rente an drückenden Schulden. (9.9. / 15:00GAST: Anna Jadowska Tickets) * = mit Gast
Der Schriftsteller Anatole Reignier folgt in seinem Buch Jeder schreibt für sich allein den Schicksalen und Entscheidungen von über 60 Kolleg:innen von 1933 bis 1945 in Deutschland. Für ihren gleichnamigen Film suchten sich Dominik Graf und Felix von Böhm einige, meist bekanntere Persönlichkeiten heraus, die für die unterschiedlichen Strategien stehen, mit dem totalitären System umzugehen. Innere Emigration ist ein Begriff, der gerne verwendet wird, wenn es z.B. um Hans Fallada oder Frank Thiess geht, andere, wie Thomas Mann, emigrierten tatsächlich. Gottfried Benn folgte begeistert der „neuen Zeit“, es wurde offen oder heimlich (Erich Kästner) paktiert, profitiert, oder sich versteckt. „Sie haben sich alle gewunden und durchgewurschtelt in verschiedenen Graustufen von Abhängigkeit und Distanzierung.” so Graf. Jochen Klepper sah 1942 allerdings keinen anderen Ausweg mehr als den Suizid. Lässt sich Kunst von den Personen trennen, die sie erschaffen haben? Die große Interesse der Regisseure für das hochspannende Thema überträgt sich beim Schauen. Auch der Rückblick heutiger Autor:innen und Kunstschaffenden bietet Erhellendes, arbeitet der Film schließlich gegen die Selbstgerechtigkeit der Spätgeborenen und möchte die bei überall vorhandenen Ambivalenzen ansprechen. Ob das Beispiel der RAF für das Weiterleben einer systemischen Empathielosigkeit nicht unbewusst einer Relativierung der vor nicht allzu langer Zeit als Singularität angesehenen Naziverbrechen Vorschub leistet, und ob die kurz eingesprochene These, dass der Faschismus einer virulenten Krankheit ähnelt, einer anthropologischen Konstante sozusagen, nicht allzu psychologisch und unpolitisch daherkommt, wie es das Ende nahelegt, sei dahingestellt. Aber darüber kann ja geredet werden. Gerade für Künstler:innen hat die Frage, die Gabriele von Arnim zu Beginn des Filmes stellt, nichts von ihrer Aktualität verloren, angesichts der vielen Möglichkeiten, korrumpiert, verführt oder in Furcht versetzt zu werden: „Wie sicher kann ein Mensch sich seiner selbst sein?“
(Filmgespräch mit Co-Autor Constantin Lieb am 3.9.)
Credits:
DE 2023, 169 Min., deutsche Fassung (engl. UT auf Nachfrage) Regie: Dominik Graf, Felix von Boehm Kamera: Florian Mag, Markus Schindler, Niclas Reed Middleton, Pierre Nativel, Sven Jakob-Engelmann Schnitt: Claudia Wolscht mit Anatol Regnier, Florian Illies, Géraldine Mercier, Albert von Schirnding, Christoph Stölzl, Henrike Stolze, Günter Rohrbach, Gabriele von Arnim, Julia Voss, Willy Kristen, Wendelin Neubert, Carlo Paulus, Simon Strauß, Clemens von Lucius, Lena Winter
Trailer:
Trailer JEDERSCHREIBTFÜRSICHALLEIN – ab 24. August 2023 im Kino
Ira Sachs (zuletzt mit Little menbei uns) hat Franz Rogowski eine perfekte Rolle auf den Leib geschneidert: Tomas ist Regisseur in Paris, hat einen Film beendet und gönnt sich nach der Phase intensiver Arbeit und Verantwortung die verdiente Freizeit, wechselt die Garderobe und läßt seine kindliche Seite glänzen. Unbedarft und mit viel Sinn für Grenzüberschreitungen nimmt er Fahrt auf und verlangt immer mehr Freiheiten. Auf die Ehe mit Martin, der Tomas viel Geduld schenkt, fällt langsam ein Schatten, der immer länger wird, denn Tomas fängt ein Verhältnis mit Agathe an, fasziniert von sich selbst, gelingt ihm doch mühelos, sich auch in eine Frau zu verlieben. Die Ménage-à-trois nimmt also Fahrt auf, der Aufstieg zum Scherbenhaufen beginnt und Tomas wechselt wieder mal die Garderobe. „‘Ich hatte letzte Nacht Sex mit einer Frau’, sagt Tomas seinem Ehemann. Von einem Geständnis zu sprechen, würde der Sache nicht gerecht. Reue, gar Scham, empfindet Tomas gegenüber Martin nicht. Im Gegenteil, schon im nächsten Augenblick bittet er seinen Mann darum, ihm davon erzählen zu dürfen. Ohne eine Antwort abzuwarten, berichtet er von den berauschenden Gefühlen, die er schon so lange nicht mehr empfunden habe. Nüchtern betrachtet, offenbart das Drama seinen zentralen Protagonisten jäh als empathielosen Narzissten. Doch Ira Sachs, der ein besonderes Talent für das genaue Beobachten abseits professoraler Wertungen besitzt, neigt auch in dieser intimen Charakterstudie nicht zur Pathologisierung. Stattdessen versteht es Passages, den besonderen Bann, in den Tomas erst Martin und später auch Agathe – die augenscheinlich alles verändernde Frau – zieht, auf das Publikum auszuweiten.“ Arabella Wintermayr | taz
Credits:
FR 2023, 91 Min., Englisch, Französisch OmU Regie: Ira Sachs Kamera: Josée Deshaies Schnitt: Sophie Reine mit Franz Rogowski, Ben Whishaw, Adèle Exarchopoulos
30 Meter über der Erde ist eine neue Gemeinschaft entstanden. In den Baumkronen des Hambacher Forsts, der 2018 zum Mittelpunkt der klimapolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland wird, leben Menschen in selbstgebauten Baumhäusern und versuchen, die drohende Rodung zu verhindern, indem sie sich selbst als Gewicht in die Waagschale werfen. Der Filmstudent Steffen Meyn dokumentiert den teilweise friedlichen, teilweise rigorosen, teilweise aggressiven Kampf der Aktivistinnen gegen die Zerstörung der Natur zwei Jahre lang mit einer 360°-Helmkamera. Dann stürzt er während einer polizeilichen Räumung vom Baum und stirbt. Der Dokumentarfilm von Meyns Freundinnen und Kommilitoninnen Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff basiert auf diesem Filmmaterial. Die Zweifel des Protagonisten werden darin genauso deutlich wie seine freundliche Beharrlichkeit und sein Bemühen, eine Haltung zur Radikalität der Szene zu finden. Zusätzlich haben die Regisseurinnen Interviews mit Aktivist*innen geführt, bei denen die Erfahrungen im „Hambi“ tiefe Spuren hinterlassen haben. Es geht um die Frage, wie weit Aktivismus gehen muss. Und wie weit er gehen darf.
Mit Music for Black Pigeons zeichnen die Filmemacher Jorgen Leth und Andreas Koefoed das Porträt des dänischen Gitarristen Jakob Bro. 14 Jahre lang haben sie zugehört und zugesehen, wie dessen Kompositionen zu Musik werden, in Ensembles mit den ganz großen Jazzmusikern, mit Bill Frisell, Andrew Cyrille, Lee Konitz, Thomas Morgan, Mark Turner, Paul Motian, Joe Lovano, Joey Baron, Palle Mikkelberg und und und … Ja, auch Midori Takada ist dabei, diese außergewöhnliche Schlagzeugerin, die so meditativ leise die Klangschalen streicht und dann gewaltig donnernd die Paukenkessel traktiert. Es wird keiner der Titel ganz gespielt, kein Set aus dem Konzertsaal fertig übernommen. Das Konzert findet im Studio statt, bei den konzentrierten Proben, der gemeinsamen Einstimmung auf etwas, von dem keiner der Mitwirkenden weiß, ob es wahr werden wird. Und das dann doch geschieht, weil alle teil haben an dem Riesenkosmos des Jazz, weil sie alle die Musik ihrer berühmten Vorväter in der Seele tragen. Und wenn es passiert, wenn den Musikern ein Take glückt, so wie er nur glücken kann, dann geht ein Lächeln auf in ihren Gesichtern. Als Music for Black Pigeons 2022 bei den Filmfestspielen in Venedig lief, wurde er von Jazz-Affinados gefeiert als der ultimative Musikfilm überhaupt. Vielleicht ist das übertrieben, aber einer der zweitschönsten nach Jazz on a Summer’s Day (Newport 1958) ist er allemal. Elizabeth Bauschmid | indiekino
Credits:
DK 2022, 92 Min., Englisch, Dänisch, Japanisch OmU Regie: Jørgen Leth und Andreas Koefoedmäki Kamera: Adam Jandrup, Dan Holmberg, Andreas Koefoed Schnitt: Adam Nielsen mit: Jakob Bro, Lee Konitz, Thomas Morgan, Paul Motian, Bill Frisell, Mark Turner, Joe Lovano, Andrew Cyrille, Palle Mikkelborg, Jon Christensen, Manfred Eicher, Midori Takada
Als Regisseurin Sonje Strom den drei Wissenschaftlern aus Hamburg den Nachlass ihres Urgroßvaters Jürgen Mahrt im Elsdorfer Gehege in Schleswig-Holstein öffnet, können die kaum fassen, welcher Schatz ihnen da zugeführt wird: 350 ausgestopfte Vögel, 3000 Schmetterlinge, Raupen, Pilze und Käfer, geordnet in Kästen, unzählige sorgfältig handkolorierte Fotografien von Tieren, Pflanzen und Landschaften. Dazu noch ein Tagebuch, in dem der Landwirt u.a. das Verschwinden bestimmter Tier- oder Pflanzenarten festhielt. Es liefert bis heute Daten zum Artensterben und zeugt von Landschaften und Tieren, die durch den Eingriff des Menschen fast verschwunden sind. Mahrt arrangierte die von ihm ausgestopften Tiere in Feld und Flur, die Fotos verkaufte er für die in den 1920er-Jahren populären Sammelbildalben. Was war das für ein Mensch, der schon damals Beruf und Auskommen für seine Leidenschaft vernachlässigte? Der mit dem Fahrrad vom Norden Deutschlands in die Schweiz fuhr, nur um einem Freund einen seltenen Schmetterling zu zeigen und dabei die Ernte vergaß? Der sich nichts daraus machte, als Exzentriker angesehen zu werden? Der Film ist die Annäherung der Filmemacherin an den unbekannten und in mancher Hinsicht rätselhaften Urgroßvater und sein beeindruckendes Archiv. Und dann es ist es noch ein schöner Zufall, dass die Goldene Taube und die Doppelschnepfe vom Plakat zusammengefunden haben: Die toten Vögel sind oben gewann u.a. 2022 verdient den Hauptpreis bei DOK Leipzig.
Credits:
DE 2022, 85 Min., deutsch, plattdeutsche OmeU Regie: Sönje Storm Kamera: Alexander Gheorghiu Schnitt: Halina Daugird
Typischer als „Asteroid City“ kann ein Wes Anderson-Film kaum sein: Vom bis ins kleinste Detail ausgestatteten Sets, über eine verspielte, verschachtelt erzählte Handlung, bis hin zu einer Besetzung, die auch in den kleinsten, kaum wahrnehmbaren Nebenrollen bekannte Schauspieler versammelt. Worum es geht: Um alles und nichts, das große Ganze, die menschliche Existenz, den Sinn des Leben.
Irgendwo im Südwesten der Vereinigten Staaten versammelt sich im Jahre 1955 eine bunt gemischte Gruppe Menschen. Anlass ist ein Sternforscherkongress im lokalen Wissenschaftszentrum, denn im Hintergrund der kleinen Gemeinde mit genau 87 Einwohnern, ragt der Krater auf, in den einst der Asteroid einschlug, der Asteroid City seinen Namen gab.
Nachwuchs-Sterngucker sind vor Ort, um ins All zu Blicken, junge Forscher, die ihre Entwicklungen vorstellen und bald kommt auch noch ein Alien zu Besuch. Was dazu führt, dass der Ort unter Quarantäne gestellt wird und das lokale Motel zum Anlaufort für die Gestrandeten wird: Den Kriegsfotografen Augie (Jason Schwartzmann), der gerade seine Frau verloren hat und mit seinem grantigen Schwiegervater (Tom Hanks) streitet. Der Filmstar Midge Campbell (Scarlett Johansson), eine Diva irgendwo zwischen Elizabeth Taylor und Marilyn Monroe, dazu die Wissenschaftlerin Dr. Hickenlooper (Tilda Swinton), der General Grif Gribson (Jeffrey Wright) und viele Andere. Sie alle hadern auf die ein oder andere Weise mit dem Leben, trauern geliebten Menschen mach, fragen sich, was das denn alles soll, suchen nach Antworten auf die großen Fragen der Menschheit oder schlicht und ergreifend dem Sinn der Existenz.
Sinn mag auch der Zuschauer in diesem besonders enigmatischen Film eines Regisseurs suchen, der einmal mehr einen Film vorgelegt hat, wie ihn nur er drehen kann. Vom ersten Moment an lässt „Asteroid City“ keinen Zweifel daran, dass es sich um einen Wes Anderson-Film handelt: Frontale Kameraperspektiven, liebevoll bis ins kleinste Detail ausgestattete Sets, seltsame Charaktere und nicht zuletzt: Eine verschachtelte Narration. Andersons voriger Film „The French Dispatch“ funktionierte in gewisser Weise wie die Bebilderung des Magazins The New Yorker, in „Grand Budapest Hotel“ zeigten wechselnde Bildformate die unterschiedlichen Zeitebenen an, ein Stilmittel, das sich auch in „Asteroid City“ wiederfindet. Ist der Hauptfilm in farbigem Scope inszeniert, so sind die Bilder der Rahmenhandlung in schwarz-weiß und dem altmodischen 4:3‑Format gefilmt. Hier sieht man eine TV-Inszenierung des Films, den man gerade sieht, aber auch Szenen mit dem Autor des Stücks selbst (Edward Norton), der bisweilen Besuch von den Schauspielern bekommt, die nach der Bedeutung der Dialoge fragen, die sie in der Haupthandlung sprechen.
Hübsch selbstreferenziell ist das, auch die geradezu absurde Ansammlung bekannter Schauspieler, die teilweise in winzigen Rollen auftreten, deutet darauf hin, dass Anderson hier auch einen Film über sich, seine Arbeitsmethode, seinen Blick auf die Welt gedreht hat. Eine wachsende Filmfamilie hat Anderson im Lauf der Jahre um sich gescharrt, Schauspieler wie Jason Schwartzman oder Willem Dafoe sind zum x‑ten Mal bei ihm dabei, andere, wie Tom Hanks oder Scarlett Johansson, sind Newcomer.
All diese Stars, die sonst meist Hauptrollen spielen, lassen sich mit augenscheinlicher Lust auf ihre oft winzig kleinen Rollen in einem Wes-Anderson-Film ein, fügen sich ein ins große Ganze. Man darf vermuten, dass die Arbeit an einem Anderson-Film ein großes Vergnügen ist, von einer Neugier geprägt, die sich auch auf der Leinwand zeigt. Von großen Fragen mag die Rede sein, von Verlust und Tod die Rede sein, doch Andersons Filme und seine Figuren sind stets von einem unerschütterlichen Optimismus geprägt, auch wenn es keine klaren Antworten gibt. Doch wenn das Leben schon rätselhaft bleibt, dann sollte es zumindest so verspielt und abwechslungsreich sein wie die Welt von „Asteroid City“, in der man gerne 100 Minuten verbringt.
Michael Meyns | programmkino.de
Credits:
US 2023, 104 Min., engl. OmU Regie & Buch: Wes Anderson Kamera: Robert D. Yeoman Schnitt: Barney Pilling mit: Tom Hanks, Jason Schwartzman, Scarlett Johansson, Jeffrey Wright, Tilda Swinton, Bryan Cranston, Ed Norton, Adrien Brody, Liev Schreiber, Hope Davis, Rupert Friend, Maya Hawke, Steve Carell, Margot Robbie, Matt Dillon, Hong Chau, Willem Dafoe, Jeff Goldblum, Rita Wilson
Trailer:
Asteroid City | Offizieller Trailer | Ed (Universal Pictures)
In einem Berliner Wohnhaus verhängt die Polizei wegen eines nicht näher spezifizierten Terrorverdachts eine Ausgangssperre. Unter dem Druck von außen werden die Loyalitäten brüchig, Beziehungen und sicher geglaubte Annahmen kollabieren, Misstrauen und Angst greifen um sich.
Wie viele unterschiedliche Lebensmodelle und Weltbilder wohl in dem äußerlich recht friedlichen Berliner Mietshaus, in dem ich wohne, auf engstem Raum miteinander koexistieren, habe ich mich schon oft gefragt. Während der Corona-Pandemie wurde in diesem kleinen wie im größeren gesellschaftlichen Rahmen das Gefühl größer, dass durchaus nicht selbstverständlich davon auszugehen ist, man könne sich mit den meisten Mitmenschen sicher auf einige Basisannahmen einigen. Mit einer ähnlichen Fragestellung arbeitet Asli Özge in BLACKBOX. In einem Berliner Wohnhaus verhängt die Polizei wegen eines nicht näher spezifizierten Terrorverdachts eine Ausgangssperre. Ein Auto wird abgeschleppt, eine Wohnung durchsucht, die eingesperrten Bewohner treffen im Hof aufeinander, der schon länger ein umkämpftes Gebiet ist. Die neue Hausverwaltung hat Mülltonnen umplatziert, eine Protestinitiative bildet sich, ein Kind hat oder hat nicht vor die Haustür gepinkelt. Ein zentraler Konflikt ist die Besitzfrage, das Haus besteht teils aus Miet‑, teils aus Eigentumswohnungen. Die Loyalitäten der Bewohner werden unter dem äußeren Druck brüchig, Beziehungen und sicher geglaubte Annahmen kollabieren, Misstrauen und Angst greifen um sich. Gefilmt ist das oft aus beengten Perspektiven: Mit Blicken von Wohnungen nach draußen, Spiegelungen in Fensterscheiben und verzerrten Bildern erzählt Özge, wie man sich gegenseitig belauert, wie alle nur einen Teil der Informationen haben und daraus ihre Realitäten konstruieren. Dass dieser Mikrokosmos als Metapher für die Gesamtgesellschaft gemeint ist, ist klar und Asli Özges Diagnosen ist wenig entgegenzusetzen. (…)
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