In den 80er Jahren wurde Nan Goldin in New York als Underground-Künstlerin bekannt, mittlerweile zählt sie zu den renommiertesten Fotografinnen weltweit. Ihre Werke hängen in den großen Museen, möglich macht diese Einkäufe auch finanzstarke Mäzene, wie z.B. die Sackler-Familie. Viel Geld geben diese Leute aus, um Kunst zu unterstützen. Verdient wurde dieses Geld in diesem Fall vor allem mit OxyContin, einem zwar legalen, aber hochgradig abhängig machendem Schmerzmittel, das für hunderttausende Tote und unzählige Drogenabhängige in den USA verantwortlich ist. Obwohl die extreme Suchtgefahr (schon 3 Tabletten des Opioids reichen dazu aus) bekannt ist, blieb das Pharmaunternehmen bei seiner aggressiven Werbekampagne und beeinflusste und kaufte weiterhin Ärzte, damit sie das Medikament verschreiben. Nan Goldin war eines der Opfer. 2014 bekam sie bekam sie das Schmerzmittel nach einer Operation verschrieben und kämpfte jahrelang gegen ihre Abhängigkeit. Nach ihrem erfolgreichen Entzug schloss sie sich 2018 dem Protest gegen die Sacklers an, initiierte Aktionen in Museen, wo ihre Fotos ausgestellt wurden, wie dem Guggenheim oder der National Gallery. Der in Venedig mit dem goldenen Löwen preisgekrönte Film teilt sich in zwei Stränge. Er beschert uns ein Wiedersehen mit den Anfängen der Queer- und LGBT-Szene in New York, der Factory und dem Punk. Dazwischen immer wieder Proteste und Aktionen in Museen und Galerien, wie dem Guggenheim und der Tate. Der letztendliche Erfolg (die Firma Purdue Pharma meldete Konkurs an) kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass weltweit Stiftungen sich mit Kunstsponsoring quasi reinwaschen wollen, und Institutionen dabei gerne mitmachen – auch die finanziellen Entwicklungen auf dem Kunstmarkt tragen ihren Teil dazu bei. „Was All the Beauty and the Bloodshed vor allem zeigt, sind zwei Dinge: Dass ziviler Ungehorsam durchaus einen Effekt haben kann, und was für eine interessante Künstlerin Nan Goldin ist.“ MM | programmkino.de
Credits:
US 2022, 117 Min., engl. OmU, Regie: Laura Poitras Kamera: Nan Goldin mit: Nan Goldin, David Armstrong, Marina Berio
Trailer:
All the Beauty and the Bloodshed (OmU Trailer) – Nan Goldin, Laura Poitras
Die 17-jährige Suzume hat früh ihre Mutter verloren und lebt bei ihrer Tante in einer Kleinstadt auf Japans südlicher Hauptinsel Kyushu. Auf dem Schulweg lernt sie einen rätselhaften jungen Mann namens Souta kennen, der auf der Suche nach einer Tür ist. Sie folgt ihm in die Berge und stößt zwischen Ruinen auf eine alte, marode Tür. Einem Impuls folgend dreht sie den Knauf und entfesselt so das Unheil, das von der Tür zurückgehalten wurde. Überall in Japan öffnen sich weitere Türen, hinter denen sich Gefahren für die nichts ahnende Bevölkerung verbergen. Gemeinsam machen Suzume und Souta sich auf, sie alle wieder zu schließen. Bei dieser epischen Abenteuerreise von Anime-Regisseur und Drehbuchautor Makoto Shinkai folgen wir Suzume auf ihrer verzweifelten Suche nach den Unheilstüren kreuz und quer durch Japan, geraten fernab der Metropolen in entvölkerte Landstriche und erkennen, dass die Reise auch die Freiheitssuche einer jungen Frau ist, die erwachsen werden will. Suzume ist ein einfühlsames Porträt, eine Studie über eine gefährdete, kämpferische Nation – und ein Signal der Widerstandskraft in einer Zeit, in der die Menschheit den Zorn von Mutter Erde zu spüren bekommt.
Das Filmfestival Achtung Berlin!, bei dem wir mittlerweile zum fünften Mal Spielort sind, präsentiert zwar Produktionen aus Berlin, ist aber nicht an den Ort gebunden.
Jan Peters, Dokumentarfilm, 100 Min. (Wettbewerb Dokumentarfilm),OF (deutsch)
Eine Tasche, gefüllt mit unbelichteten und zum Teil abgelaufenem Analog Filmmaterial: Der Filmemacher nimmt dies zum Anlass, einen Monat lang jeden Tag eine dreiminütige Rolle zu belichten. Neben der Verbindung von Alltäglichem und Politischem geht es ihm dabei vor allem um die Frage nach dem Bild und Filmgeschichte mit großem ‚G‘ betrachtet er mit gleicher Herangehensweise wie die eigenen Familienaufnahmen. Die Fragen danach, welche Bilder wann, mit welcher Technik, von wem und für wen hergestellt werden, ergänzt Peters mit Fragen nach der Relevanz von verwendetem Klebstoff und Montage. Alle 31 Filmrollen, aus denen Eigentlich eigentlich Januar besteht, kommentiert er – und wird immer wieder vom abrupten Ende der Rolle mitten im Satz unterbrochen.
Uraufführung 46. Duisburger Filmwoche
Regie Jan Peters Dramaturgie Marie-Catherine Theiler Darsteller:in Ada, Agnes Meyer-Brandis, Alexandra Münzner, Alexandra Scheele-Baer, Alix Kokula, Alma Amrami Peters Farbkorrektur Mikola Debik Ton Pit Przygodda Musik Pit Przygodda Produktion Jan Peters
Sönje Storm, Dokumentarfilm 85 Min. (Wettbewerb Dokumentarfilm, Berlin-Premiere), OmeUT (deutsch, plattdeutsch) mit englischen UT
350 ausgestopfte Vögel. 3000 Schmetterlinge, Pilze, Käfer. Die Sammlung ist obsessiv und poetisch. Objekte wurden in akribischer Arbeit präpariert und sortiert, Fotografien über Stunden, Tage und Wochen mit der Hand koloriert: Regisseurin Sönje Storm öffnet in ihrem Film den Nachlass ihres Urgroßvaters, des Bauern Jürgen Friedrich Mahrt (1882−1940). Während des Ersten Weltkriegs zum Fotografen ausgebildet, beobachtet dieser ab 1919 die Veränderungen in seiner Heimat Schleswig-Holstein und dokumentiert die menschlichen Eingriffe in die Naturlandschaften sowie die Zerstörung von Ökosystemen – Bilder aus der Frühzeit des Anthropozäns.
Uraufführung 65. DOK Leipzig
Regie, Buch: Sönje Storm Kamera: Alexander Gheorghiu Schnitt: Halina Daugird Ton Enno Grabenhorst, Lukas Lücke, Torsten Pinne, Tobias Rüther, Hannes Schulze, Roman Pogorzelski Musik Dominik Eulberg, Bertram Denzel, Henry Reyels Animation Mieke Ulfig Produzentin Sönje Storm Produktion stormfilm produktion
Anne Oren, Spielfilm, 86 Min. (Wettbewerb Spielfilm, Berlin-Premiere), OmeUT (deutsch, englisch) mit englischen UT
Nach dem Nervenzusammenbruch ihrer Schwester Zara muss die introvertierte Eva deren Job als Geräuschmacherin übernehmen. Für einen Werbespot vertont sie das Verhalten eines Pferdes – und vertieft sich so leidenschaftlich in die Arbeit, dass ihr ein Schweif aus dem Steißbein wächst. Mit dem Schwanz wird auch Evas sexuelles Begehren immer größer. Sie beginnt eine SM-Affäre mit einem Botaniker, der Farne erforscht, und erlebt ihren Körper auf eine noch nie empfundene Weise. Erotik, Fantasy und Performancekunst verbinden sich zu einer surrealistischen Feier des Andersseins und ‑begehrens. Ein transgressiver, kaum fassbarer Film voller neuer und faszinierender Reize. Uraufführung 75. Locarno Film Festival Regie Ann Oren Buch Ann Oren, Thais Guisasola Schauspiel Simone Bucio, Sebastian Rudolph, Simon(e) Jaikiriuma Paetau, Catherine Mayer, Bjørn Melhus, Sarah Nevada Grether (Stimme) Kamera Carlos Vasquez Schnitt Ann Oren, Haim Tabakman Ton Robert Hefter, Danylo Okulov Szenenbild Ilaria Di Carlo Kostüm Anna Philippa Müller Musik Daniela Lunelli aka Munsha, äbvsd, VTSS Produzent:in Kristof Gerega, Sophie Ahrens, Fabian Altenried Produktion Schuldenberg Films Verleih Salzgeber
Seine Mutter gibt dem Kommunismus die Schuld, sein Onkel einem Erbstreit, die anderen schweigen. Regisseur Dieu Hao Do erforscht die Zersplitterung seiner Familie, die der Amerikanische Krieg in Vietnam auf drei Kontinente verstreut hat. Mehr als 1,5 Millionen Menschen versuchten nach dem Fall von Saigon am 30. April 1975 vor dem kommunistischen Regime zu fliehen, viele davon – auch die Familie des Regisseurs – gehörten zur chinesischen Minderheit. Fast 50 Jahre nach ihrer Flucht ist ihr Kontakt so gut wie abgebrochen. Wie haben sich Traumata durch Verfolgung und Gewalt in die Körper und Seelen der Überlebenden und die ihrer Kinder eingeschrieben?
Uraufführung 44. Filmfestival Max Ophüls Preis
Regie, Buch Dieu Hao Do Kamera Florian Mag Schnitt Franziska Köppel, Werner Bednarz, Torsten Striegnitz Ton Kuan-Chen Chen, Azadeh Zandieh Musik Delphine Malausséna Redaktion Burkhard Althoff (ZDF) Produzentin Andrea Ufer Produktion Hanfgarn & Ufer Filmproduktion KoproduktionZDF – Das kleine Fernsehspiel
Mo 17.04, 20:45 WETTBEWERBMITTELLANGEFILME. Block 2, 81 Min. [Tickets]
SCHUTZBEFOHLEN
Sebastian Urzendowsky, Spielfilm, 26 Min. (Uraufführung), OmeUT (Deutsch) englische UT Vater und Sohn begeben sich auf einen Marsch durch den Wald. Auf einem verlassenen Armeegelände ringt der Sohn – zwischen militärischen Drills und Selbstverteidigungsübungen – um die Anerkennung seines Vaters. Doch noch mehr wünscht er sich, sich von dessen Erwartungsdruck befreien zu können. Uraufführung 19. achtung berlin Filmfestival Regie, Buch Sebastian Urzendowsky Schauspiel Mika Tritto, Jacob Matschenz Kamera Nikolaus Schreiber Schnitt Carolin Heinz Ton Tobias Adam Produzent:in Sarah Reß, Sebastian Urzendowsky
PERFORMER
Oliver Grüttner, Spielfilm, 55 Min. (Berlin-Premiere), OmeUT (deutsch, englisch) englische UT
Tim steht kurz vor dem Abitur. Während seiner letzten Schultage geht er mit Freunden auf Partys, absolviert Prüfungen und hat sein erstes Date mit einer Klassenkameradin. Nachts dreht er Videos von sich, in denen er seine Männlichkeit inszeniert, seinem Hass auf Frauen freien Lauf lässt – und in denen er von seinen Plänen erzählt, am letzten Schultag Amok zu laufen. Uraufführung 39. Filmfest München Regie Oliver Grüttner Schauspiel Tilman Vellguth, Jan Henrik Stahlberg, Linda Rohrer, Ursula Rennecke, Laurin Kaiser, Steffen C. Jürgens Kamera Giulia Schelhas, Moritz Friese Schnitt Kai Eiermann Ton Sum-Sum Shen, Alexandre Leser Produzent:in Henning Wagner, Bianca Gleissinger Mariam Shatberashvili, Luise Hauschild Produktion Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin, New Matter Films
Über die Begegnungen mit drei selbstbestimmten Frauen dokumentiert der Film das Leben im ukrainischen Stuschyzja, was soviel bedeutet wie ‚kalter Ort‘: Im Dreiländereck zwischen Polen und der Slowakei, wo 2019 – im Jahr von Selenskyjs Wahlerfolg – kaum noch junge Menschen leben, trifft der Regisseur eine Landwirtin, eine Postbeamtin und eine Biologin. Im Laufe des Films rückt er mit zunehmender Nähe zu den Menschen selbst ins Bild. Und die alleinstehende Bäuerin Hanna, die ihn und seinen Kameramann wie Söhne behandelt, beschreibt ein entbehrungsreiches Landleben, das in der Bergregion nahe der EU-Grenze im Niedergang begriffen scheint. Uraufführung 64. Dok Leipzig
Regie Maksym Melnyk Darsteller:innen Hanna Wudmaska, Maria Psiajka, Nelya Kowal Kamera Florian Baumgarten, Meret Madörin Schnitt Jannik Eckenstaler Ton Roman Pogorzelski Musik Maksym Melnyk Animation Florian Baumgarten, Meret Madörin Produzentin Andrea Wohlfeil Produktion Andrea Wohlfeil
Der Film spielt in Rukla, sieben Monate vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine. In dem litauischen Ort hat die NATO tausend Soldatinnen und Soldaten stationiert, Manöver und Übungen finden das ganze Jahr über statt, ihre Kampfbereitschaft ist täglich spürbar. Das richtet die Bewohner:innen von Rukla zwischen West und Ost aus, hier haben alle eine Meinung: Soldatin Nina, Ortsvorsteherin Vilma, Georgi und seine Frau Marytje sowie Vlada begegnen den politischen (Außen)verhältnissen auf sehr unterschiedliche Weise. Trotz aller Spannung prallen die verschiedenen Perspektiven nicht aufeinander, sondern treten gleichberechtigt ins Bild. Das unscheinbare Rukla hält sie in Balance.
Uraufführung 44. Filmfestival Max Ophüls Preis
Regie, Buch Steffi Wurster Kamera Alexander Gheorghiu Schnitt Maja Tennstedt, Janina Herhoffer Ton Ignas Lungevicius, Ignas Mateika, Hannes Schulze Redaktion Burkhard Althoff (ZDF) Produzent Tobias Büchner Produktion Büchner Filmproduktion KoproduktionZDF – Das Kleine Fernsehspiel
Brenda Akele Jorde, Dokumentarfilm, 89 Min. (Wettbewerb Dokumentarfilm) Berlin-Premiere, OmdUT [englisch, porturgiesisch, deutsch, zulu] deutsche UT
Der Film zeichnet das Porträt einer von den Wirrungen der Weltgeschichte zerrissenen Familie zwischen Deutschland, Mosambik und Südafrika. Im Zentrum steht die afrodeutsche Sarah. Sie will ihrer Tochter Luana die Beziehungen ermöglichen, die ihr selbst als Kind fehlten. Die beiden reisen ins südliche Afrika, um Luanas, aber auch Sarahs Vater zu treffen. Die Begegnung mit Luanas Vater stellt alle drei vor große Herausforderungen. Sarahs Vater Eulidio wiederum erinnert an die fast vergessene und ungerechte Geschichte der mosambikanischen Vertragsarbeiter in der DDR. In seinen nostalgischen Tagträumen kehrt er zurück zum Ursprung seiner europäischen Familie und ihrer plötzlichen Trennung.
Uraufführung 65. DOK Leipzig
Regie, Buch Brenda Akele Jorde Co-Regie David-Simon Groß, Malte Wandel Protagonist:innen Eulidio Daniel Nhambiro, Sarah Deichsel, Luana Deichsel, Eduardo Pinto Goenha Kamera David-Simon Groß Schnitt Laura Espinel Ton Till Aldinger, Brenda Akele Jorde, André Estevão Bahule Musik Lenna Bahule Redaktion Rolf Bergmann (rbb) Produzent:in Florian Schewe, Miriam Henze Produktion Film Five Koproduktion Filmuniversität Babelsberg KONRADWOLF, Rundfunk Berlin-Brandenburg
Tanja Egen, Spielfilm, 84 Min., OmeUT (Deutsch) englische UT
Nina ist Schauspielerin und lebt selbstbestimmt mit Mann und Kind in Amsterdam. Doch die Beerdigung ihrer geliebten Oma, der Mutter ihrer Mutter, reißt sie da raus. Zurück im Ruhrgebiet wird sie mit dem verdrängten Familienleben ihrer Heimat konfrontiert. Ninas Mutter gelingt es zwar beinahe, in der Geschäftigkeit der Beerdigungsorganisation ihre Trauer vor dem Rest der Familie zu verbergen – doch Ninas Anwesenheit und gewisse Dynamiken im Mutter-Tochter Gefüge werfen Fragen auf. Mit jeder erneuten Stornierung ihres Rückfluges wird klar: Nina lernt, ihre Eltern in ihr Leben zu lassen und sich wirklich auf das ihre einzulassen. Warum nicht auch mal ihnen – oder der verstorbenen Oma zu Liebe – über den eigenen Schatten springen? Oma Marie jedenfalls würde sich freuen.
Uraufführung 73. Internationale Filmfestspiele Berlin
Regie Tanja Egen Buch Tanja Egen, Esther Preußler Schauspiel Friederike Becht, Marion Ottschick, Peer Martiny, Jasmina Music, Aleksandra Corovic, Stefanie Meier Kamera Claudia Schröder Schnitt Nicolas Dusollier Ton Daria Somesan Szenenbild Jana Donis, Hella Vohrmann Kostüm Eugenia Giesbrecht Musik Paul Eisenach, Jonas Hofer Redaktion Jakob Zimmermann (ZDF) Producerin Tanja Egen, Annika Pacyna Produktion Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin KoproduktionZDF – Das kleine Fernsehspiel
Manchmal ist es doch erstaunlich, was im Nachbarland so möglich ist: Die Arbeiterkammer Wien ist seit über 100 Jahren eine unabhängige, selbstfinanzierte zentrale – und wirksame – Interessenvertretung der Beschäftigten und Anlaufstelle für die vielen, die um ihre Rechte kämpfen. Erstaunlich ist aber auch, dass die diversen Regierungen ihr noch nichts anhaben konnten. Die rote Faust im Foyer markiert die Institution als historische Errungenschaft der Arbeiterbewegung. Dass sich ihre Idee in der digitalen Gegenwart nicht überlebt hat und sogar höchst notwendig ist, zeigt die Nachfrage: Es herrscht reger Betrieb. Einer Frau soll während der Elternteilzeit gekündigt werden. Einem Mann hat seit Monaten keinen Lohn bekommen, Lohnzettel gibt es keine. Ein anderer ahnt, dass ihm sein Arbeitgeber beim nächsten Mitarbeitergespräch eine einvernehmliche Kündigung nahelegen wird, nach 25 Jahren im Betrieb. Sie alle sind Hilfesuchende, die in den ersten Minuten von Wulffs Dokumentarfilm bei der Arbeiterkammer Beratung bekommen, ganz selbstverständlich. Besonders beeindruckend ist dabei auch die Vielsprachigkeit: Beraterinnen wechseln ansatzlos zwischen Deutsch und Serbisch, es gibt fließende Gebärdensprachen-Simultanübersetzung, bei juristischen Beratungen sitzen Übersetzer dabei und assistieren. Es ist, immer wieder, diese Selbstverständlichkeit, die so beruhigend und zugleich ergreifend ist, gegenüber Paketboten, Verpackerinnen, Bauarbeitern, Facharbeiterinnen, bei Arbeitsunfällen, Lohnbetrug, der Verweigerung von Sozialleistungen. Im Direct-Cinema-Stil gibt der Film den Menschen, deren individuelle Geschichten sich hinter abstrakten Begriffen wie Krise, Rezession und Arbeitsmarktverwerfungen verbergen, und den in dieser Institution arbeitenden, ein Gesicht, und vor allem: „Nichts daran ist auch nur einen Moment trocken, denn es geht um die Essenz des Menschlichen.“ ORF
Credits:
AT 2022, 120 Min., Deutsch, Serbokroatisch, Türkisch, Ungarisch OmU, Regie: Constantin Wulff Kamera: Johannes Hammel, Michael Schindegger Schnitt: Dieter Pichler
Christos Nikou erzählt in seinem Regieerstling von Aris, einem eher einsam wirkenden Mann mittleren Alters, der eines Tages nicht mehr weiss, wer er ist und wo er hingehört. Am Ort, an dem man ihn betreut, macht man Tests und ordnet seinen Gedächtnisverlust einem Phänomen zu, das sich breitgemacht hat und von dem viele betroffen sind. Eine Therapie soll auch Aris helfen, wieder zu sich zu kommen, oder müsste man sagen: Ein neues Sich zu finden? Der von Erinnerung Unbelastete kann, wenn man das positiv betrachten will, neu anfangen. Es gibt sogar ein Programm, das ihm beim Aufbau eines Bewusstseins helfen soll; Aris bekommt banale Aufgaben geliefert, die er erfüllen und zu denen er mit einer Instantkamera jeweils ein Bild festhalten soll: Fahrradfahren, Kinobesuch, Ausgang. Über die Aufgaben bilden sich neue Erinnerungen und, wer weiss, so etwas wie eine Identität. Aris ist nicht allein, auch das gehört zu seinen Lernschritten. Da taucht eine Anna auf, die das gleiche Regenerations-Programm durchläuft. Kannten sich die beiden vor dem Gedächnisverlust? Oder passen sie zusammen? Schaffen einfache Erfahrungen eine neue Identität? Definiert diese sich übers Erinnern? Der Spielfilm aus Griechenland provoziert Fragen und wirkt mit unserer Pandemieerfahrung noch amüsanter, als er es ohnehin ist. Der Humor, der ihn prägt, ist aber ein lakonischer und stiller. Wir sind eingeladen zu Betrachtungen einer surrealen Welt, von der wir inzwischen wissen, dass sie so surreal nicht ist, und vor allem: Unsere eigene Welt kann schlagartig recht surreal werden.“ Walter Ruggle „Christos Nikou hat bei Yorgos Lanthimos’ Dogtooth als Regieassistent gearbeitet. Dessen Vorliebe für Versuchsanordnungen, Lebensskripte und „unwahrhaftige“ Beziehungen haben in Nikous Debut deutliche Spuren hinterlassen. Auch das blutleere Spiel und der surreale Humor sind Attribute einer bestimmten Ausformung des „neuen griechischen Kinos“. Apples ist jedoch deutlich vager angelegt als die Arbeiten von Lanthimos, auch menschenfreundlicher, weniger garstig. Hinter Aris’ Auftreten finden sich Anzeichen von Melancholie und aufrichtiger Trauer – und eine Einsamkeit, die mehr als Erinnerungsverlust ahnen lässt. Dass die Geschichte in zirkulären Bewegungen und repetitiven Mustern fortschreitet, entfaltet ganz eigenen Charme.“ Esther Buss
Credits:
Mila GR 2020, 90 Min., griechische OmU, Regie & Kamera: Christos Nikou Schnitt: Giorgos Zafeiris mit: Aris Servetalis, Sofia Georgovasili, Anna Kalaitzidou, Argiris Bakirtzis
Basierend auf realen Ereignissen erzählt dieses kraftvolle Debüt von Rassismus, Fake News und den Aufstieg der neuen Rechten. Irina ist alleinerziehende Mutter aus der Ukraine, die in einer tschechischen Kleinstadt lebt. Eines Nachts wird ihr 13-jähriger Sohn Igor überfallen und schwer verletzt. Als er aus der Narkose erwacht, beschuldigt er die Roma-NachbarInnen. Während die Polizei ermittelt, solidarisiert sich die ganze Stadt mit Mutter und Sohn und kämpft an der Seite von Irina für Gerechtigkeit. Doch als eine große Kampagne anrollt, bei der verschiedene Akteure aus Medien, Politik und Zivilgesellschaft den Vorfall für ihre eigenen Zwecke nutzen wollen, wird Irina unsicher… (Filmfest HH) Der slowakische Regisseur Michal Blaško hat mit Victim einen modernen neorealistischen Film gedreht, der sich nüchtern an Themen unserer Zeit abarbeitet: an Rassismus, Fake News und politischer Instrumentalisierung von Täter-Opfer-Narrativen. Mit dokumentarisch anmutenden Bildern folgt die Kamera von Adam Mach der Heldin bei dem Versuch, ihr Glück zu machen. Kein Leichtes, Irinas erstes Einbürgerungsgesuch wurde wegen Kleinigkeiten abgelehnt, sie begegnet Fremdenfeindlichkeit und verdient schlecht beim Reinigungsdienst. Victim ist ein kühl-kalkuliertes, kluges Debüt. (EPD, Jens Balkenborg)
Credits:
Obeť CZ/DE/SK 2022, 91 Min., Ukrainisch/TschechischOmU, Regie: Michal Blaško Kamera: Adam Mach Schnitt: Peter Hasalík mit: Vita Smachelyuk, Gleb Kuchuk, Igor Chmela
Die Azhar-Universität in Kairo gilt als eine der einflussreichsten und renommiertesten Elitenschmiede der islamischen Welt. Hier zu studieren, ist der Traum vieler junger muslimischer Männer, und für Adam, Sohn eines Küstenfischers, wird dieser Traum wahr. Kurz nach seiner Ankunft in dieser weitgehend geschlossenen Gesellschaft, hat die Institution mit einer Erschütterung zu kämpfen, als der Großimam, das Oberhaupt der Universität, unerwartet stirbt. Mögliche Nachfolger stellen sich auf, mit unterschiedlichen Sichtweisen und Unterstützern. Besonders den ägyptischen Staatsorganen liegt viel daran, einen passenden und willfähigen Kandidaten an die Spitze zu hieven. Der Inlands-Geheimdienst wird beauftragt, den Machtkampf für sich zu gewinnen. Gerade aber wurde dessen bester Informant am Campus enttarnt, und da kommt dem zwielichtigen Agenten Oberst Ibrahim der unerfahrene Adam, ohne Angehörige und Freunde dort unterwegs, gerade recht. Schon bei der Nil-Hilton-Affäre zeigte Regisseur Tarik Saleh, dass ihm das Genre liegt. Thrillergemäß verschachtelt, aber ohne ablenkende dramaturgische Volten schauen wir jetzt in eine ganz andere Welt, von der nicht viel nach außen dringt, die aber auf der ganzen Welt wirkt. „Saleh dient das Genrekino nicht als bloßer Vorwand, um ein Bild der brodelnden politischen Verhältnisse zu zeichnen. Die Kairo Verschwörung verrät seine aufrichtige, innige Begeisterung für dessen Traditionen. Saleh nimmt kühn Maß an John le Carrés Spionageromanen. Seine Intrige ist beinahe ebenso raffiniert konstruiert: ein schäbiges Figurenschach der Binnenkämpfe und Rivalitäten im Geheimdienst, das den Tod Unschuldiger als Kollateralschaden verbucht. Ibrahims Vorgesetzter ist ein Soziopath, in dessen Augen eine bedrohliche Zuversicht glüht. Ibrahim selbst ist ein listenreicher Gegenspieler, der sich nicht aus der Verantwortung für seinen Schützling stehlen mag.“ Gerhard Midding, epd-Film
Credits:
Boy from Heaven SE/FR/FI2022 121 Min., arab. OmU Regie: Tarik Saleh Kamera: Pierre Aïm Schnitt: Theis Schmidt mit: Tawfeek Barhom, Fares Fares, Mohammad Bakri, Makram J. Khoury
Eine traditionelle Schneiderei in einer der engen Gassen der Altstadt von Salé in Marokko – hier führt das Ehepaar Mina und Halim seit vielen Jahren den Betrieb seines Vaters mit Hingabe und handwerklichem Können fort. Die Auftragslage ist gut, doch das Geschäft wird schwieriger, die Kund*innen erwarten immer schnellere Lieferung und niedrigen Preis bei gleicher Qualität. Zudem schwächt Mina eine Krankheit mehr, als sie zugeben will. Glücklicherweise kommt Youssef, ein neuer Lehrling, in die Werkstatt, der mit großem Interesse und Geschick an die Arbeit geht. Schnell zieht der hübsche junge Mann die Aufmerksamkeit Halims auf sich. Mina, die weiß, dass ihr Mann auch Männer liebt, reagiert zunächst eifersüchtig und gereizt. In dieser schwierigen Situation jedoch, mit Ihrer Krankheit und angesichts des Verbotes von Homosexualität in Marokko, müssen alle drei lernen, füreinander da zu sein.
Dem Film, der viel von Blicken und Gesten, und weniger von Dialogen lebt, ist die Sanftheit der Stoffe gleichsam eingenäht, ebenso wie die Kamera kunstvolle Handwerksarbeit leistet. Nach ihrem hochgelobten Debut Adam erzählt die marokkanische Regisseurin Touzani erneut vom Wunsch nach Verbindung, Freiheit und Schutz, und auch diesmal stellt sie wieder die beengten Wohn- und Arbeitsverhältnisse der Protagonisten in ein Spannungsverhältnis mit einer übergeordneten Idee von Weite und Größe.
»Homosexualität ist in Marokko nicht nur ein Tabu, sondern eine Straftat, die nach Artikel 489 des Strafgesetzbuchs mit 6 Monaten bis zu 3 Jahren Gefängnis bestraft wird. Dieses Gesetz ist eine Schande, und ich glaube, dass wir uns für seine Abschaffung einsetzen müssen, in Marokko ebenso wie in anderen Ländern. „Der blaue Kaftan“ ist ein Film über die Freiheit, so zu sein, wie man ist, zu lieben, wen man lieben will, egal ob Mann oder Frau. Vor allem aber ist es ein Film über die Liebe, denn die Liebe umfasst all das.« (Maryam Touzani)
Credits:
Le Bleu du Caftan FR/MR/BE/DK 2022 124 Min., arab. OmU Regie: Maryam Touzani Kamera: Adil Ayoub Schnitt: Nicolas Rumpl mit: Lubna Aznabal, Saleh Bakri, Ayoub Missioui
Eine sich über drei Generationen erstreckende Familientragödie, der man sich nicht entziehen kann; ein Dokumentarfilm, dem man ein Denkmal bauen möchte. (Sedat Aslan, Filmfest München)
Lore war sechs Jahre alt, als ihre Mutter Marianne Seligsohn nach Auschwitz deportiert wurde. Lore Kübler ist eine „DP” – eine Displaced Person, bis zum heutigen Tag. Von morgens bis abends schreibt sie Artikel aus dem Weser-Kurier auf Karteikarten, archiviert sie in Kisten, Körben und Kartons.
Kim ist die Tochter von Lore. Kim hat ihre Musik, ihre Hunde, ihren Glauben. Kim Seligsohn kämpft gegen die Angst, um ein Stück Normalität, um den Boden unter den Füßen.
Ein Leben lang hat ihre Mutter nicht gesprochen: nicht über Marianne, Kims Großmutter, nicht über das Versteck, in dem Lore als Kind überlebt hat, nicht über Tom, Kims Bruder, der sich das Leben genommen hat. Aber Kim will reden: über die Kindheit mit Lore, über Tom, über die beschädigten Leben beider.
LIEBEANGST begleitet aus großer Nähe den Prozess der Annäherung zwischen Mutter und Tochter, ihre Wut, ihre Kraft, und eine Liebe, die immer da war, aber nicht gelebt werden konnte.
Credits:
DE 2022, 81 Min. Regie: Sandra Prechtel Kamera: Susanne Schüle Schnitt: Andreas Zitzmann
Der Mythos des Ödipus ist der virtuelle Kern dieser Meisterstudie des elliptischen Erzählens, in der jedes auch noch so kleine Detail zum Zeichen wird oder auch nicht. Ein Film, der uns von den Bergen und Stränden Griechenlands bis an die Seen um Berlin führt, von irgendwann in den 1980er-Jahren bis ins Heute. Dazwischen ein rekonstruierbares Datum: 2006. (Es geht um Fußball und zwei entscheidende Minuten für Italien.) In einem nächtlichen Sturm wird ein neugeborener Junge geborgen. Sanitäter Elias bringt ihn zu seiner Frau, die beiden nennen ihn Jon und ziehen ihn auf. Als junger Mann wird Jon überfallen und macht sich des Totschlags schuldig. Das Opfer … Die Gefängnisbeamtin Iro und er werden ein Paar. Der Kassettenrekorder spielt Barock, Playlist: Monteverdi, Bach, Pergolesi und andere. Die Ästhetik der Musik wird zum Programm. Sie spiegelt das Geschehen luzide enigmatisch, konkret abstrakt, lustvoll asketisch. Im barock-postmodernen Kino der Angela Schanelec gelten die Formeln der Affekten- und Figurenlehre. Eine intellektuell-sinnliche Herausforderung, die süchtig macht. Blind sehend.
Berlinale 2023 – Wettbewerb
Die Audioaufzeichnung des Filmgesprächs mit Angela Schanelec kann man hier hören.
Credits:
Deutschland / Frankreich / Serbien 2023, 108 Min., Griechisch, Englisch OmU Regie, Buch & Schnitt: Angela Schanelec Kamera: Ivan Marković mit Aliocha Schneider, Agathe Bonitzer, Marisha Triantafyllidou, Argyris Xafis, Frida Tarana
Trailer:
MUSIC – ein Film von Angela Schanelec (offizieller Trailer)
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