Zwei ungleiche Unternehmer – der hochintelligente Innovator Mike Lazaridis und der knallharte Geschäftsmann Jim Balsillie – tun sich zusammen. Mit einem Gerät, das der eine erfunden hat und der andere vermarktet, haben sie innerhalb von zehn Jahren weltweit Erfolg. Es nennt sich BlackBerry und revolutioniert die Art, wie die Welt arbeitet, spielt und kommuniziert. Aber gerade als das BlackBerry zu neuen Höhenflügen ansetzt, beginnt es im Nebel der Smartphone-Kriege, Managementkrisen und Ablenkungsmanöver schon wieder die Orientierung zu verlieren, was schließlich zum Zusammenbruch eines der erfolgreichsten Unternehmen in der Geschichte der Technologie- und Geschäftswelt führt. Johnsons frühere Werke (The Dirties, Operation Avalanche) zeigen Filmfreaks, die getrieben sind von der Idee, selbst mit der Kamera etwas auf Film zu bannen, das in Wirklichkeit unglaublich, wenn nicht unmöglich erscheint. Seine Geschichten handeln von scheinbar unscheinbaren Menschen, die etwas erreichen wollen, das bisher noch niemandem gelungen ist. Mit dem ihm eigenen, beißenden Humor verblüfft er uns dieses Mal mit der Story von zwei Kanadiern, die zwischen gemeinsamen Filmabenden ein Werkzeug erfanden, das aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken ist.
„Dank einer nostalgisch-ironischen 90er und 00er Ästhetik, der permanenten Gegenüberstellung von Geek-Kultur und Corporate Warfare und unzähligen Film‑, Game- und Pop/Rock-Zitaten gelingt Johnson dabei eine Tragikomödie, die sich wieselflink zwischen Wayne’s World, The Social Network und Wallstreet bewegt.„ Sennhausers Film Blog
Credits:
CA 2023, 121 Min., engl. OmU Regie: Matt Johnson Kamera: Jared Raab Schnitt:Curt Lobb mit Jay Baruchel, Glenn Howerton, Matt Johnson, Cary Elwes, Saul Rubinek, Michael Ironside, Rich Sommer, Sungwon Cho, Michelle Giroux, Mark Critch
Eine zufällige Begegnung am Fluss, ein flüchtiges Zusammensein, ein Tag Auszeit – Tatsunari Otas Film erkundet eine Welt ohne Produktivität und findet Freude an Müßiggang und Verspieltheit – wunderschön in seiner Beiläufigkeit, überraschend in Details. Eine junge Frau recherchiert für ein neues Reiseprojekt. Von der Burg, die sie sucht, ist jedoch außer einer Hinweistafel nichts mehr zu finden. Auf dem Weg zurück zur Bahn kommt sie an ein Flussbett und entdeckt auf der anderen Seite einen Mann, der geschickt Steine übers Wasser springen lässt. Nach anfänglicher Unsicherheit spazieren sie zusammen am Fluss entlang, und als er verschiedene Spiele vorschlägt, vergisst sie allmählich Arbeit und Zeit. Beide vertiefen sich in die Suche nach ihren „Lieblingssteinen”, jonglieren mit Ästen und verbringen Zeit miteinander, als wären sie wieder Kinder. Doch als die Sonne untergeht, geht die Zeit, die sie gemeinsam verbracht haben, zu Ende. Vertändelt man seine Zeit beim Schauen eines Films, der seinen Blick auf das Vertändeln von Zeit, das Spiel, und scheinbar unnützes Tun richtet? John Berra von Screen-Daily meint, ganz sicher nicht: „Die Aufnahmen des Kameramanns Yuji Fukaya sind geradezu hypnotisierend. Er nutzt die Academy Ratio, um ein Gefühl der Abgeschlossenheit in der ländlichen Umgebung zu erzeugen. … Obwohl eine Reihe von angemessen zurückhaltenden Arrangements des Komponisten Shu Oh sparsam eingesetzt wird, besteht die Hauptbegleitung in Naru Sakamotos Sounddesign, das das sanfte Plätschern des Baches und andere natürliche Elemente mit tranceartiger Wirkung unterstreicht. An Ogawa und Tsuchi Kano sind in ihren namenlosen Rollen völlig ungekünstelt und stellen ein Paar sehnsüchtiger, aber vorsichtiger Seelen dar, ohne dass es einer Hintergrundgeschichte bedarf. Diese flüchtige Freundschaft hat einen ganz eigenen Rhythmus, aber wer sich darauf einlässt, wird in There Is A Stone einen lohnenden Ausflug finden, der aus dem scheinbar Alltäglichen behutsam besonders echte Momente herausholt.“
Credits:
Ishi ga aru – 石がある Jp 2022, 104 Min., japan. OmU Regie: Tatsunari Ota Kamera: Yuji Fukaya Schnitt: Keiko Okawa mit:An Ogawa, Tsuchi Kanou
Das beeindruckende Debut des Iren Colm Bairéad ist ein ruhiger, ein stiller Film. Zurückhaltend wie seine Hauptfigur, die neunjährige Cáit, lebt vom genauen Hinschauen, Spüren, von vorsichtigem Herantasten. Zu Beginn versteckt sie sich vor ihren Geschwistern im hohen Gras, und wird von der Kamera entdeckt. In den 80-er Jahren war Armut in der Republik Irland kein Fremdwort, und auch der Hof von Cáits Familie ist unretabel. Man lebt beengt, der Vater verspielt und vertrinkt das wenige Geld, die Mutter vernachlässigt fast zwangsläufig die Kinderschar. Als sie erneut ein Kind erwartet, wird aussortiert, und das familienunkonforme Mädchen zeitweise bei einem entfernt verwandten Ehepaar untergebracht. Seán und Eibhlín sind vergleichsweise wohlhabend und können die Kleine gut aufnehmen. Während Eibhín sich rührend um Cáit kümmert, verhält sich Seán zunächst abweisend und unfreundlich. Dass sich dies grundlegend ändert, ist quasi filmgemäß vorbestimmt, doch die Annäherung von Kind und Ersatzvater wird auf eine selten schöne und undramatische Weise gezeigt. Kleine Gesten, Blicke und Ermunterungen zeugen von zunehmender Vertrautheit, wenn es auch in dieser Familie Geheimnisse gibt. „ … Diese Cáit mag nicht viel sprechen. Dafür aber nimmt sie mit allen Sinnen wahr, aufmerksam und sensibel. Und der Film tut es mit ihr. Colm Bairéad lässt die Kamera zu einem Sinnesorgan des künftigen Erinnerns werden; er erzählt ohne die üblichen dramaturgischen Konflikte, sucht nie das große Drama. Wohltuend ist das und unaufdringlich. Das ist auch das beste Adjektiv, um diesen Film zu beschreiben – nichts drängt sich auf, alles ist inwendiges Erleben. … Cáit solle sich nicht ob ihrer Schweigsamkeit sorgen, sagt Séan einmal am Strand zu ihr; zu viele Menschen würden die Chance verpassen, nichts zu sagen, und dabei viel kaputt machen. Dasselbe gilt auch für viele Filme, die es verpassen, mit den Bildern zu erzählen, und stattdessen alles zerreden. Das Debüt von Colm Bairéad findet darin seine eigene meisterhafte Form.“ Sebastian Seidler | Filmdienst
Credits:
An Cailín Ciúin IR 2022, 95 Min., gälisch, englische OmU Regie: Colm Bairéad Kamera: Kate McCullough Schnitt: John Murphy mit: Carrie Crowley, Andrew Bennett, Catherine Clinch
Hochschwanger sitzt Sandra im Gefängnis und kämpft energisch darum, dass ihr Kind auch nach der Geburt bei ihr bleibt. Doch die Sozialarbeiterin und das Jugendamt sind skeptisch, ob sie ihr das zutrauen. Sie befürchten, wenn Sandra unter Druck gerät, fällt sie in alte Muster zurück und hat sich nicht im Griff. Erst durch geschickt in die Erzählung eingewobene Rückblenden erfahren wir, wie es überhaupt so weit kommen konnte.” (Filmfest München) Das Impulsive, die Unberechenbarkeit und die Gewaltausbrüche der Hauptfigur machen es nicht leicht, einen Zugang zur Hauptperson zu finden, was aber genau die Intention des Films ist: Nicht durch eilige Schuldzuweisungen die Ambiguität der Protagonistin zu unterlaufen. Eine Figur vollständig verstehen zu können, vielleicht auch beugen zu wollen, wird in den besten Momenten zurecht widersprochen. So bleibt immer ein Rest in der Schwebe und wir dürfen uns nur ein wenig nähern, was aber ausreicht, um letztlich ein großes Mitgefühl zu erzeugen.
Credits:
DE 2023, 94 Min. Regie: Christina Ebelt Kamera: Bernhard Keller Schnitt: Florian Riedel mit Franziska Hartmann, Slavko Popadić, Martina Eitner-Acheampong
In ihrem zweiten Film verlässt Lila Avilés die engen Hotelzimmer ihres Debüts „The Chambermaid”, aber der Zusammenhang zwischen menschlichen Beziehungen und Innenräumen bleibt Thema. Schauplatz ist ein großes Haus, in dem Familie und Freund*innen ein zweifaches Ritual begehen: Der Maler und junge Vater Tona hat Geburtstag, und da es wohl sein letzter ist, wird zugleich Abschied gefeiert. Entsprechend hat auch der Film zwei Seelen: Hinter der Hektik und Spontaneität beim Vorbereiten und Feiern tut sich jene archaisch-spirituelle Tiefendimension auf, die im Titel anklingt. Tonas geschwächter Körper bleibt zunächst unsichtbar. Im schützenden Zimmer sammelt er Kraft für die Zeremonie, bei der er die ganze Liebe und Zuneigung erfährt, die er für seine letzte Reise braucht. So sorgsam wie der Patriarch seine geliebten Bonsaibäumchen gestaltet Avilés ihre filmische Miniatur, hilft Handlungslinien und Gefühlen auf den richtigen Weg, schneidet Nebensächliches und Überflüssiges weg. Der Film bereitet den Weggang eines Menschen vor, ist aber voller Lebenszeichen und ‑formen: Tiere, Insekten, Pflanzen und ein Defilee wunderbarer Menschen, vereint in der Kraft des Miteinanders.
„Wie der Betrachter auf den verschiedenen Elementen und Details eines großen Gemäldes aus früheren Zeiten verweilt und dann den Blick weiterziehen lässt, so erfasst auch der Film auf ruhige und bedächtige Weise diese Familie in ihrer ungewöhnlichen Situation, stellt mal den einen, mal die andere in den Mittelpunkt und wechselt dann in den Nebenraum, nimmt eine andere Perspektive ein. Das gelingt. Ist spannend und kurzweilig. Denn als Zuschauer:in zeichnet man dieses Familienportrait im Kopf nach, macht sich nach und nach ein Bild von jedem Einzelnen und der Familie als Ganzem. Dabei schweift der filmische Blick auch ab und entwirft ganz nebenbei ganz ungewöhnliche, aber großartige Kinobilder, die er durch das zurückgenommene Sounddesign einmal mehr wirken lässt. ..” Verena Schmöller | kino-zeit.de
Die „Kurzen Notizen eines Sommers“ – es wird viel per SMS kommuniziert – handeln von der Mitt-Zwanzigerin Marta, Universitätsangestellte in Madrid. Sie gerade mit ihrem Freund Leo zusammengezogen und fährt anschließend für einen kurzen Urlaub zurück in ihren Heimatort an die Atlantikküste im Norden Spaniens. So schön die Gegend dort ist, so abgehängt ist sie ökonomisch. Während die Hauptstadt für einen sicheren Arbeitsplatz und eine stabile Beziehung steht, erscheint der jungen Frau Asturien als eine Art verlorenes Paradies, wo sie sich zusammen mit den Freundinnen zurück in die Teenager-Zeit beamen kann. Dazu kommt dann noch die Begegnung mit mit ihrem Exfreund Pablo, dem sie einst den Laufpass gab. Das mögliche Abenteuer mit ihm reizt sie, und so wird die Beziehung, unverbindlich natürlich, reaktiviert. Aber zur Hochzeit von Martas Freundin ist auch Leo eingeladen. Es ist eine einfache, universelle Geschichte, die uns Diego Llorente hier in kleinen Alltagsvignetten anbietet, unaufgeregt mit Rohmerschem Touch und bewundernswert natürlich erzählt und gespielt. Ein sommerlicher Film über Lust und Liebe und Entscheidungen, die man treffen muss (oder auch nicht).
Credits:
ES 2023, 83 Min., span. OmU Regie: Diego Llorente Kamera: Adrián Hernandez Schnitt: Diego Llorente mit: Katia Borlado, Antonio Araque, Álvaro Quintana, Rocío Suáre
Balkrishna Doshi ist 1927 geboren, aber er war der jüngste Architekt der Welt. Alles, worüber junge Architekten heute diskutieren, setzte er schon vor Jahrzehnten um.
Seit den 60er Jahren baute er nachhaltig: mit lokalen Materialien, energiesparend, mit natürlicher Klimatisierung.
Seit den 80er Jahren baute er sozial: kostengünstige Siedlungen, die von den Slum-Bewohnern der indischen Großstädte weiterentwickelt wurden und ihnen den sozialen Aufstieg ermöglichten.
2018 erhielt er dafür den Nobelpreis der Architektur, den Pritzker Architecture Prize.
Im Januar 2023 verstarb BV Doshi hochbetagt „als ein glücklicher Mensch“, wie Regisseur Jan Schmidt-Garre schreibt.
„Ein einfühlsames Portrait eines großen Architekten, das die innige Verbindung von Mensch und gebauter Umwelt beleuchtet, die im Zentrum von Doshis Schaffen steht. Keiner der üblichen Starchitecture-Filme, sondern ein Blick auf den Menschen und auf das Indien, die Doshis Bauten geprägt haben.“
Credits:
Das Versprechen – Architekt BV Doshi D 2023, 90 Min., engl. OmU Regie: Jan Schmidt-Garre Kamera: Diethard Prengel Schnitt: Sarah. J. Levine
Sie muss erst etwas erleben, bevor sie schreiben kann, sagt die Schriftstellerin Sandra (Sandra Hüller) zu der jungen Studentin, die sie für ihre Doktorarbeit interviewt. In einem abgelegen Chalet in den französischen Alpen wohnt Sandra, die eigentlich aus Deutschland stammt, wegen ihres Mannes aber nach Frankreich gezogen ist und die Sprache gut beherrscht. Doch in der Ehe mit Samuel (Samuel Theis) scheint es zu kriseln, offenbar um das Interview zu stören lässt Samuel laute Musik laufen.
Kurz nachdem die Studentin das Haus verlassen hat wird Samuel tot aufgefunden, augenscheinlich aus der dritten Etage des Chalets gestürzt, ob durch Selbstmord oder Fremdeinwirkung bleibt offen. Die Ermittlungen der Polizei geben kein klares Bild, das Fehlen von eindeutigen Beweisen lässt auch Sandra als Tatverdächtige möglich werden. Zusammen mit ihrem Anwalt Vincent (Swann Arlaud) bereitet sie sich auf eine mögliche Anklage vor und so kommt es auch: Die Autorin steht wegen Mord vor Gericht und auch ihr Sohn Daniel (Milo Machado-Graner) muss als Zeuge aussagen.
Weite Teile von Justine Triets „Anatomy of a Fall“ spielen vor Gericht, minutiös wird die langwierige Verhandlung geschildert, die Aussagen von Sandra, Daniel und anderen Zeugen. Doch auch wenn der Titel deutlich auf Otto Premingers Klassiker „Anatomy of a Murder“ anspielt hat Triet anderes im Sinn als einen bloßen Gerichtsfilm. Sie erzählt von der schwierigen, oft nicht zu beantwortenden Suche nach der Wahrheit, nach Fakten, vom meist zum scheitern verurteilten Versuch, sich anhand von wenigen Indizien, versprengten Aussagen, Tonbandaufzeichnungen und anderen Hinweisen, ein klares Bild zu machen.
Unweigerlich muss man hier an #metoo denken, an die unzähligen Fälle, in denen in den letzten Jahren ein Mensch unter Verdacht geriet und schnell auf Grund weniger Hinweise, einzelnen Zeugenaussagen von der öffentlichen Meinung verurteilt wurde, mal zu recht, mal aber auch zu unrecht.
In „Anatomy of a Fall“ ist es nun interessanterweise eine Frau, deren Ambivalenzen sie verdächtig macht, die aber vor allem eine komplexe Person ist, die nicht einfach auf einen klaren Nenner zu bringen ist. Allein die Sprache macht es schwierig: Als Deutsche in einem fremden Land, gut Französisch sprechend, aber vor Gericht dann doch auf das universelle Englisch zurückgreifend, was allerdings für keinen der Beteiligten die Muttersprache ist. Lost in Translation sozusagen, was erst recht für manche Zeugenaussagen gilt, aber auch für scheinbar objektive Tonbandaufnahmen. Einen Streit zwischen dem Paar hatte Samuel insgeheim aufgenommen, der nun als Beweis der Anklage dient. Doch wie eindeutig ist das, was man da hört eigentlich? Anfangs unterlegt Triet die Tonbandaufnahme noch mit den Bildern des Streites, später springt sie in den Gerichtssaal zurück, so dass man nur hört, aber keine Bilder mehr sieht. Und wenn dann Geschirr zerbricht, Dinge zu Boden fallen muss man sich fragen, was denn da genau passiert ist und letztendlich zum Schluss kommen, dass man es nicht genau weiß.
Das mag unbefriedigend sein, gerade vor Gericht, gerade in der Realität, wenn es um #metoo-Vorwürfe geht, aber gerade in solchen Fällen darf sich eine demokratische Gesellschaft glücklich schätzen, dass die Unschuldsvermutung gilt. In diesem Sinne ist es nur konsequent, wie Justine Triet ihren Film enden lässt, wie sie sich einer klaren Antwort in Bezug auf Sandras Schuld entzieht. In der Rolle der undurchschaubaren Schriftstellerin brilliert Sandra Hüller, die zum zweiten Mal mit Triet zusammenarbeitete und mit ihrer Darstellung stark dazu beigetragen haben dürfte, das ihre Regisseur als erst dritte Frau nach Jane Campion und Julia Ducournau mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde.
Großaufnahme von Lokita (Joely Mbundu): Die 16-jährige aus Benin mit den kurzen, jungenhaften Haaren hat Angst. Trauer füllt ihre Augen, ganz leicht zuckt ihre Nase. Ansonsten blickt sie reglos an der Kamera vorbei, in die Enge gedrängt wie ein gefangenes Tier. Zu hören ist die Stimme einer Frau. Sie schießt Fragen ab wie Pfeile, knapp und messerscharf, als wäre dies ein Kreuzverhör vor Gericht. Aber Lokita sitzt nicht vor einem Ankläger. Sondern in einer Behörde, die berechtigte Anliegen sachlich prüfen soll. Das Mädchen braucht eine Aufenthaltsgenehmigung in Belgien. Dafür muss sie lügen, anders als Tori (Pablo Schils), ihr elfjähriger Kompagnon, den sie bei der Flucht übers Meer kennen gelernt und ins Herz geschlossen hat. Tori darf bleiben, weil er unter 14 ist. Wäre Lokita Toris ältere Schwester, bekäme sie ebenfalls einen Schutz vor Abschiebung, deshalb sagt sie die Unwahrheit. Die Frau in der Behörde scheint solche Strategien zu kennen. Sie bohrt nach, bleibt unerbittlich, verlangt schließlich einen DNA-Test. Als Lokita wieder draußen ist, bricht sie weinend zusammen.
Von der Frau in der Behörde ist nur die Stimme zu hören. Mit gutem Grund verweigern die Regisseure Luc und Jean-Pierre Dardenne, die auch gemeinsam das Drehbuch geschrieben haben, den Blick auf die Sachbearbeiterin. Ihnen geht es nicht um individuelles Fehlverhalten, nicht um möglicherweise sadistische Neigungen oder auch nur um verborgene Vorurteile. Es geht um uns alle hier in Europa, die wir wegschauen vor dem unvorstellbaren Leid, das minderjährigen Geflüchteten zugefügt wird, bis hin zu Sklaverei, sexuellem Missbrauch oder gar Mord. Die Brüder Dardenne beschäftigten sich schon länger mit dem Thema, auch in ihrem vorletzten Film „Das unbekannte Mädchen“ (2016) spielte es eine Rolle. Den Anstoß zu „Tori und Lokita“, so erzählen sie es in einem Interview, gab dann ein Artikel darüber, wie viele Jungen und Mädchen spurlos aus Notunterkünften und Wohngruppen verschwinden. Es sollen geschätzt 15 bis 20 Prozent der Aufgenommenen sein.
Bevor Lokita vollends in die Hände von Drogen- und Menschenhändlern gerät, lernen wir sie und Tori in knappen, berührenden Alltagssituationen kennen. Vor dem Schlafengehen albern sie miteinander herum wie echte Geschwister, kuscheln sich ins Bett, helfen einander mit einem Lied aus der Heimat in den Schlaf. Ihre Sangeskünste tragen sie auch in der Pizzeria vor, in der sie für einen Hungerlohn arbeiten – ein ergreifender Moment. Ohne dass der Film es aussprechen muss, machen die Bilder klar, wie innig diese Freundschaft ist, die die beiden alle Härten der Flucht hat überstehen lassen. Was auch immer die feindliche Umwelt den „Geschwistern“ antut – solange sie einander haben, bleiben sie bewundernswert stark im Kampf um die nackte Existenz. Die enge Bindung ist wichtiger als alles, was man sonst zum Überleben braucht. Darauf zu verzichten, wird den beiden zum Verhängnis, als sich Lokita darauf einlässt, als Gegenleistung für einen gefälschten Pass für drei Monate eine geheime Cannabis-Plantage zu pflegen, wie in einem Gefängnis, ohne Ausgang, eingesperrt Tag und Nacht, selbst ohne Handy-Empfang.
Als der jüngste Film der Altmeister im Wettbewerb von Cannes 2022 Premiere hatte, warfen ihm Teile der Kritik vor, er trage zum Werk der Brüder nichts Neues bei. Daran ist richtig, dass sich die inzwischen 71- und 74-Jährigen nicht neu erfinden. Aber der Vorwurf übersieht, wie brillant die Filmemacher inzwischen das Genre des Sozialrealismus beherrschen, wie konzentriert, ökonomisch und straff ihr zwölfter Spielfilm die Handlung vorantreibt. Und vor allem, wie sie ihre cineastische Kunstfertigkeit dazu nutzen, das Publikum teilhaben zu lassen an dem Schicksal der beiden Geflüchteten. Dem Sog dieser Bilder kann man sich nicht entziehen, Wegschauen wird ersetzt durch Empathie. Sich der Wahrheit stellen zu müssen, mag nicht immer angenehm ein. Aber es wird zumindest gelindert durch die intensive Darstellung der beiden Laienschauspieler.
Peter Gutting | programmkino.de
Credits:
BE/FR 2022, 88 Min., frz. OmU Regie & Buch: Luc und Jean-Pierre Dardenne Kamera: Benoît Dervaux Schnitt: Marie-Hélène Dozo, Valène Leroy mit: Pablo Schils, Joely Mbundu, Marc Zinga, Nadège Ouedraogo, Charlotte De Bruyne
Sie ist Österreicherin, er Schweizer, sie Lyrikerin, er Dramatiker, sie draufgängerisch und verwundbar, er verwegen und bisschen Biedermann: Ingeborg Bachmann und Max Frisch sind bereits so etwas wie internationale Stars der Kulturszene, als sie sich im Sommer 1958 in Paris erstmals begegnen. Die vier Jahre danach versuchen sie sich in großer Liebe und offener Beziehung zwischen Zürich, seiner Heimatstadt, und Rom, ihrer Wahlheimat. Frisch neidet ihr den Ruhm; Bachmann nervt sein Schreibmaschinengeratter und seine Eifersucht sowieso. Sie ist emanzipiert, versuchsweise frei, mobil, produktiv; in Berlin schreibt sie die berühmte Rede „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“. Dass und vor allem wie sehr sie leidet, erkennt sie erst hinterher, mit Adolf Opel in der Wüste, bei Hans Werner Henze in Italien. Von Trotta verwebt die Zeiten des Vor- und Nach-der-Katastrophe. Sie inszeniert direkt, nüchtern und elegant. Ronald Zehrfeld als korpulenter Pfeifenraucher und Vicky Krieps (nach der Sisi in einer weiteren Kultfigur-Rolle): kongenial. Nicht vom fatalen Ende Bachmanns handelt dieser Film, sondern von ihrem Hoffen auf Liebe und Respekt, in der Literatur wie im Leben.
Credits:
Schweiz / Österreich / Deutschland / Luxemburg 2023 Deutsch, Französisch, Italienisch OmU Regie & Buch: Margarethe von Trotta Kamera: Martin Gschlacht Schnitt: Hansjörg Weißbrich Mit: Vicky Krieps, Ronald Zehrfeld, Tobias Resch, Basil Eidenbenz, Luna Wedler, Marc Limpach, Roberto Carpentieri, Katharina Schmalenberg
Trailer:
INGEBORGBACHMANN | Trailer deutsch | Jetzt im Kino!
Wir verwenden Cookies, um unsere Website und unseren Service zu optimieren.
Funktionale Cookies
Immer aktiv
Die technische Speicherung oder der Zugang ist unbedingt erforderlich für den rechtmäßigen Zweck, die Nutzung eines bestimmten Dienstes zu ermöglichen, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wird, oder für den alleinigen Zweck, die Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz durchzuführen.
Vorlieben
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist für den rechtmäßigen Zweck der Speicherung von Präferenzen erforderlich, die nicht vom Abonnenten oder Benutzer angefordert wurden.
Statistiken
Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu statistischen Zwecken erfolgt.Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu anonymen statistischen Zwecken verwendet wird. Ohne eine Vorladung, die freiwillige Zustimmung deines Internetdienstanbieters oder zusätzliche Aufzeichnungen von Dritten können die zu diesem Zweck gespeicherten oder abgerufenen Informationen allein in der Regel nicht dazu verwendet werden, dich zu identifizieren.
Marketing
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist erforderlich, um Nutzerprofile zu erstellen, um Werbung zu versenden oder um den Nutzer auf einer Website oder über mehrere Websites hinweg zu ähnlichen Marketingzwecken zu verfolgen.