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Mond

Mond

Ein Film von Kurdwin Ayub.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Sarahs Karriere als Mixed-Martial-Arts-Kämpferin geht zu Ende, statt in den Ring zu stei­gen, wird sie zukünf­tig Kinder trai­nie­ren. Ein plötz­li­ches Angebot aus Jordanien, die Töchter einer rei­chen Familie zu unter­rich­ten – MMA sei dort gera­de der letz­te Schrei – hört sich da sehr exo­tisch und ver­füh­re­risch an. Sarah sagt ja und packt ihre Sachen. Dort ange­kom­men, muss sie bald erken­nen, dass die Familie viel rei­cher ist als gedacht, und soviel Einfluss besitzt, dass man ihr im Hotel, wo sie unter­ge­bracht ist, nichts dar­über erzäh­len mag. Außerdem ist unschwer zu erken­nen, dass die drei jun­gen Frauen kein wirk­li­ches Interesse am Sport haben. Viel lie­ber sit­zen sie im Wohnzimmer, lackie­ren sich die Nägel und schau­en Soaps. Dabei ste­hen sie immer unter Aufsicht, auch bei gele­gent­li­chen Shopping-Ausflügen beglei­tet sie ein Bodyguard. Als auf­ge­klär­te Frau aus dem Westen denkt sich Sarah ihren Teil, und als sie gefragt wird, glaubt sie, Nour, Shaima und Fatima hel­fen zu kön­nen und zu müssen.

Mir war wich­tig, dass das Publikum Sarah folgt und sich die­sel­ben Fragen stellt wie sie. Auch Sarah sieht nie das gan­ze Bild. Trotzdem bleibt die Frage, ob sie soli­da­risch agie­ren soll. Dieser Zweifel soll­te bis zum Ende bestehen. Mich hat dabei die Geschichte von Prinzessin Latifah, der Tochter des Königs von Dubai, inspi­riert. Sie ist mit ihrer fin­ni­schen Capoeira-Lehrerin geflüch­tet. Tatsächlich kam aber nicht die Prinzessin heil davon, son­dern die Europäerin. Das fand ich inter­es­sant und woll­te die­ses Gefühl in Mond wie­der­ge­ben: Wem glaubt man? Was ist wirk­lich pas­siert? Sind mei­ne eige­nen Vorurteile im Weg?” Kurdwin Ayub im ray-Magazin

Nach Sonne ist dies der zwei­te Teil einer geplan­ten Trilogie der kur­disch-öster­rei­chi­schen Regisseurin Kurdwin Ayub, die dafür beim Filmfestival von Locarno mit dem Spezialpreis der Jury aus­ge­zeich­net wurde.

Credits:

AT 2024, 93 Min, deutsch/arabisch/englische OmU
Regie: Kurdwin Ayub
Kamera: Klemens Hufnagl,
Schnitt: Roland Stöttinger,

mit: Florentina Holzinger, Andria Tayeh, Celina Antwan, Nagham Abu Baker, u.a.

Trailer:
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Mutiny in Heaven

Ein Film von Ian White. 

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Nick Cave ist eine fes­te Größe in der Musik, aber die Band, mit der alles ange­fan­gen hat, ken­nen nur weni­ge. Schade eigent­lich, viel­leicht ändert die­ser Film das ein biss­chen, der sich nicht als Vehikel für bekann­te Musiker ver­steht, die dar­über spre­chen, wie am tolls­ten die­ser oder jener völ­lig unbe­kannt geblie­be­ne Musiker mal war, son­dern als span­nen­der Reisebericht. Fünf Knilche rei­ßen aus Australien aus, um es in London zu etwas zu brin­gen. Ihre Band The boys next door wird dort zur Birthday Party. Das Überleben in der Stadt, wo sie auf engs­tem Raum zusam­men­ho­cken, wäh­rend das weni­ge Geld für Drogen ver­pufft, for­men den bra­chia­len, nack­ten Kreissägensound der Musiker mit, der kaum von den noto­risch mono­to­nen Beats gebän­digt wer­den kann. Dazu erlebt Cave als Sänger die wider­sprüch­li­chen Gefühle einer Achterbahnfahrt durch frem­der Leute Hinterhöfe und bey­ond (Deep in the woods a fun­e­ral is swin­ging). Schließlich schafft es die Band nach West-Berlin und ist zur rich­ti­gen Zeit am rich­ti­gen Ort mit den rich­ti­gen Leuten, freun­det sich hier mit Mitgliedern von Die Haut und den Einstürzenden Neubauten an. Am Sound ändert der Heimathafen in der Fremde nichts, er bleibt schroff, psy­cho­tisch und flext sich krei­schend durchs Gehirn. Deshalb kein Durchbruch oder kom­mer­zi­el­ler Erfolg, die Birthday Party zehrt von der Substanz. Schließlich ist sie aus und der Saal leer­ge­fegt. Aber vor der Tür ste­hen schon die Bad Seeds, Crime and the City Solution und These immor­tal Souls und es geht wei­ter durch Nächte, die mal schö­ner waren als ande­rer Leute Tage.

Mutiny In Heaven, aus­schließ­lich von Originalmitgliedern der Post-Punk-Band The Birthday Party erzählt, beschreibt, wie Nick Cave und sei­ne Schulfreunde ihr Publikum mit kon­fron­ta­ti­ven Auftritten, gesetz­lo­sem Gothic-Horror und einem anar­chi­schen Lebensstil auf­schreck­ten. Mit nie zuvor gezeig­ten per­sön­li­chen Archivaufnahmen, unver­öf­fent­lich­ten Tracks und Konzertmitschnitten sowie Graphic Novel-Sequenzen des deut­schen Comiczeichners Reinhard Kleist bie­tet Mutiny in Heaven einen mit­rei­ßen­den Sitzplatz in der nicht ganz unge­fähr­li­chen ers­ten Reihe eines der viel­leicht legen­därs­ten Live-Acts der Musikgeschichte.

Credits:

AU 2023, 99 Min, engl. OmU
Regie: Ian White
Kamera: Craig Johnston
Schnitt: Aaron J. March
mit: Phil Calvert, Nick Cave, Mick Harvey, Rowland S. Howard, Tracy Pew

Trailer:
MUTINY IN HEAVENNICK CAVES FRÜHE JAHRE | OmU Trailer
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Die Unerwünschten

Die Unerwünschten

Ein Film von Ladj Ly.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Der Film beginnt mit einem rich­ti­gen Knall: genau dann, als er auf den Knopf zur Sprengung eines Wohnblocks drückt, und die­ser mit einer Wolke aus Steinstaub in die Knie geht, erlei­det der Bürgermeister des Quartiers einen Herzinfarkt. Interims-Nachfolger wird Pierre, ein büro­kra­ti­scher Kinderarzt, dem zu der Gegend und den Problemen der Bewohner des poli­tisch unge­lieb­ten Viertels nur wenig mehr ein­fällt, als hart durch­zu­grei­fen. Zunächst mehr aus Überforderung und auf Druck, nimmt er den erst­bes­ten Vorfall zum Anlass, einen Komplex sofort kom­plett eva­ku­ie­ren zu las­sen, und die Bewohner:innen auf die Straße zu set­zen, und das im Dezember. Als Pierre offi­zi­ell zur Wahl auf­ge­stellt wird, beschließt die jun­ge Haby, die als Praktikantin im Archiv des Rathauses arbei­tet und im Viertel wohnt, gegen ihn zu kan­di­die­ren. In ihrer Umgebung gibt es aber auch eini­ge, die nicht mehr an eine Verbesserung ihrer Situation mit lega­len und demo­kra­ti­schen Mitteln glau­ben.
In sei­nem auf­se­hen­er­re­gen­dem Spielfilm Die Wütenden – Les Misérables war Ladj Ly auch schon in einer Banlieue unter­wegs. Dort auf­ge­wach­sen, kennt er, was er zeigt, und klagt an, was er dort sieht und erlebt. In Die Unerwünschten – Les Indesirables ist weni­ger radi­kal als sein Debüt, aber eben­so enga­giert und wütend. Seine fil­misch umge­setz­ten Beobachtungen sind prä­zi­se, und trotz der klar ver­teil­ten Sympathien ver­fällt er nicht in ein rei­nes Gut-Böse-Schema.
„Ly insze­niert das Chaos mit Präzision; er sorgt dafür, dass man die Wut spürt, die sich durch die Gemeinschaft zieht, unter­malt sie aber oft mit ruhi­ger Musik und ver­bringt Zeit in den Sitzungssälen, wo die Gewalt im Stillen aus­ge­übt wird, mit Papier und Stiften. Der Film kocht vor Wut dar­über, wie die Hebel der Macht zur Unterdrückung ein­ge­setzt wer­den, aber er ist auch ein Prozessfilm, der die Situation nicht aus­reizt und rela­tiv ruhig bleibt, bis die die Wut schließ­lich über­kocht.“ The Wrap

Credits:

Bâtiment 5 / Les Indésirables
FR 2023, 106 Min., frz. OmU
Regie:
Ladj Ly
Kamera: Julien Poupard
Schnitt: Flora Volpelière
mit: Anta Diaw, Alexis Manenti, Aristote Luyindula, Steve Tientcheu, Aurélia Petit

Trailer:
BÂTIMENT 5 (Official Trailer, OV/d)
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Flow

Ein Film von Gints Zilbalodis. 

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Gerade noch im üppi­gen Grün des Waldes her­um­ge­streift, hat sich die Katze im Haus gemüt­lich zum Schlafen ein­ge­rollt, als sie ein sich nähern­des Rumoren wahr­nimmt – eine rie­si­ge Wasserwelle flu­tet das Land. Unsere Heldin kann sich knapp auf ein vor­bei­schwim­men­des Segelboot ret­ten. Nun glei­tet sie dahin über das Meer, durch Urwälder, an spit­zen Bergkegeln vor­bei, die aus dem Wasser ragen, an Städten, die wie unwirk­li­che rie­si­ge Paläste aus­se­hen, stets ange­spannt auf­merk­sam, mit einer Mischung aus Neugierde und Furcht.
Genau wie Gints Zilbalodis, der hier erst­mals mit einem grö­ße­ren Team arbei­tet, muss sich die klei­ne schwar­ze Katze, die bis­her allei­ne leb­te, auf Kooperation ein­stel­len. Mit an Bord kom­men näm­lich eben­falls unfrei­wil­lig ein ver­spiel­ter und gei­zi­ger Lemur, ein schläf­ri­ges Wasserschwein, der immer freund­li­che Golden Retriever, und der ver­letz­te, hilfs­be­rei­te Sekretär. Zum Überleben der Katastrophe müs­sen die fünf sich zusam­men­rau­fen, denn stets und über­all lau­ert Gefahr.
Das groß­ar­ti­ge an Flow ist, dass die­se Crew nicht ver­mensch­licht wird. Alle behal­ten ihre tie­ri­schen Eigenarten, die sie aller­dings auf der Fahrt modi­fi­zie­ren müs­sen. Die Katze wird muti­ger, der Hund vor­sich­ti­ger, der Lemur lernt zu tei­len, der ver­sto­ße­ne Sekretär über­nimmt die Führung. Nur das Wasserschwein bleibt phleg­ma­tisch wie eh und je.
Flow ist ver­träumt, episch, bedroh­lich und wun­der­schön. Das Beste von allem ist, dass die Tiere Tiere sind, wort­los und haupt­säch­lich mit ihrer eige­nen Sicherheit und ihrer nächs­ten Mahlzeit beschäf­tigt. Dennoch sind sie gezwun­gen, mit­ein­an­der aus­zu­kom­men, und sie wer­den zu mehr als der Summe ihrer pel­zi­gen und gefie­der­ten Teile. … Der Regisseur die­ser magi­schen Fabel ist Gints Zilbalodis, ein 30-jäh­ri­ger let­ti­scher Animator. Möge Hollywood ihn nie­mals mit Angeboten für Reichtum und Fortsetzungen umwer­ben …“ Ty Burr | Washington Post

Oscar für den bes­ten Animationsfilm 2025

Credits:

LV/FR/BE 2023, 84 Min., ohne Dialog
Regie: Gints Zilbalodis

Kamera: Léo Silly Pélissier
Schnitt: Gints Zilbalodis

Trailer:
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Die Schattenjäger

Die Schattenjäger

Ein Film von Jonathan Millet.

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Der ers­te Spielfilm des Dokumentarfilmers Jonathan Millet kommt als fik­ti­ver Thriller daher, vir­tu­os erzählt, genau recher­chiert grün­det er auf rea­len Begebenheiten. Er ist aber viel mehr: das Soziogramm eines höchst trau­ma­ti­sier­ten Mannes, in dem die Fragen Obsession und Wahrheit, Selbstjustiz oder Rechtsstaatlichkeit und die Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart ver­han­delt werden.

Hamid ist ein Überlebender des syri­schen Militärgefängnisses Saidnaya, es gelang ihm zu ent­kom­men und Europa zu errei­chen. Während sein Asylverfahren läuft, schließt er sich der gehei­men Yaqaza-Zelle an, einem Untergrundnetzwerk aus Zivilisten, das flüch­ti­ge Kriegsverbrecher des syri­schen Regimes auf­spürt und ver­folgt. In einem Kommilitonen an der Uni in Straßbourg glaubt er sei­nen frü­he­ren Folterer zu erken­nen. Von sei­nem Peiniger kennt er nur die Stimme und den Geruch, und muss sich daher allein auf sei­ne Intuition ver­las­sen. Die Mitglieder sei­ner gehei­men Gruppe mah­nen ihn zur Vorsicht, sie wäh­nen den Gesuchten an ande­ren Orten, und er folg­te schon ein­mal einer fal­schen Fährte.

Es ist ein Schattendasein, das Hamid führt, ein fra­gi­les Dasein in der Fremde. Er kann nie­man­dem ver­trau­en, lebt unter fal­schem Namen, ohne Freunde, und folgt nur einem ein­zi­gen Ziel.

Jonathan Millet schafft in sei­nem … ers­ten Spielfilm eine Atmosphäre der tie­fen Trauer, erzählt das Allgemeine im Persönlichen, deu­tet den gro­ßen his­to­ri­schen und auch per­sön­li­chen Überbau nur an. Ihm gelingt ein emo­tio­na­ler Blickwinkel, weil er stets ganz dicht an sei­nem Protagonisten dran ist. Adam Bessa spielt ihn mit berüh­ren­der Intensität und ste­ti­ger inne­rer Anspannung.“Britta Schmeis | epd-Film

Credits:

Les Fantômes FR 2024, 106 Min., Arab., Frz. OmU
Regie: Jonathan Millet
Kamera: Olivier Boonjing
Schnitt: Laurent Sénéchal
mit: Adam Bessa, Tawfeek Barhom, Julia Franz Richter, Hala Rajab, Safiqa El Till

Trailer:
Die Schattenjäger (Ghost Trail) Trailer Original mit dt. UT
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Bird

Ein Film von Andrea Arnold.

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Wer die Filme von Andrea Arnold kennt, weiß, dass sie ihre Figuren liebt.
Die trau­ern­de CCTV-Sicherheitsbeamtin in Red Road eben­so wie die Jugendlichen der Drückerkolonne in American Honey, die Hip-Hop-Tänzerin Mia in Fish Tank, Catherine und Heathcliff in Wuthering Heights – gleich wie rau, unge­ho­belt oder pro­ble­ma­tisch sie sich ver­hal­ten, immer lässt sie ihnen ihr Leben, nie wür­de sie jeman­den davon vor­füh­ren. Auch Luma, der rea­len Kuh aus Cow, bringt sie vol­len Respekt ent­ge­gen. In Bird beglei­ten wir die 12-jäh­ri­ge Bailey, die zusam­men mit dem Halbbruder bei ihrem durch­ge­knall­ten, viel zu jun­gen Vater Bug in einem her­un­ter­ge­kom­me­nen Wohnblock lebt, und schwer genervt von ihrer Umgebung ist. Dem plötz­lich auf­tau­chen­den Bird, einer merk­wür­di­gen Erscheinung auf der Suche nach sei­ner Familienvergangenheit, begeg­net sie zuerst auch miss­trau­isch und abwei­send. Bald aber wird der melan­cho­li­sche Fremde eine Art Vertrauter für sie, und manch­mal scheint Bailey dann eine ande­re Welt zu betre­ten.
„Schon in frü­he­ren Filmen hat die Regisseurin Andrea Arnold jun­ge Protagonist:innen in den Fokus genom­men und dabei mit kla­rem, durch­aus auch oft har­tem Blick für bit­te­re sozia­le Realitäten. Zum auf Authentizität set­zen­den Realismus der Britin gesellt sich die­ses Mal durch den von Franz Rogowski irgend­wo zwi­schen naiv und ver­lo­ren ange­leg­ten Titelhelden ein erfreu­li­cher­wei­se nicht zu dick auf­ge­tra­ge­ner magi­scher Realismus. Das kennt man von Arnold sonst so gar nicht, geht hier aber bes­tens auf.
Mit der Hauptdarstellerin Nykiya Adams gelingt der Regisseurin aber­mals eine ech­te Entdeckung, und nicht zuletzt eine Vielzahl von Tieren – von einer Halluzinogene abson­dern­den Kröte über Pferde und einen Fuchs bis hin zu einem beson­ders bedeu­tungs­vol­len Raben – ver­leiht Bird einen ganz eige­nen Touch. Vor allem aber ist der Film eine erfreu­lich sen­si­ble, ein­falls­rei­che und wie immer bei Arnold auch musi­ka­lisch prä­gnan­te Variante des sonst hin­läng­lich abge­gras­ten Coming of Age-Genres.“ Patrick Heidmann | Cineman

Credits:

GB 2023, 119 Min., engl. OmU,
Regie: Andrea Arnold
Kamera: Robbie Ryan
Schnitt: Joe Bini
mit: Barry Keoghan, Franz Rogowski, Nykiya Adams, Jason Edward Buda, Jasmine Jobson, James Nelson-Joyce
Kayleigh Frankie Box

Trailer:
BIRD l Deutscher OmU Trailer
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The Village next to Paradise

Ein Film von Mo Harawe.

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Der Eröffnungsfilm des letz­ten Afrikamera-Filmfestivals hat vie­le über­ra­schen­de Aspekte, ohne Wundertüte zu sein. Trotz Bürgerkrieg und pre­kä­rem Leben im Postkolonialismus geht es ruhig zu, die Sprache ist ein­fach und der Ton lako­nisch. Die drei Mitglieder einer unfrei­wil­li­gen Patchworkfamilie im Dorf Paradise in Somalia haben ihre eige­nen Sorgen. Mamargades Job als tra­di­tio­nel­ler Leichenbestatter wird bald von Maschinen über­nom­men, sei­ne Schwester Araweelo lebt in Scheidung und muss sich neu ori­en­tie­ren, und Ziehsohn Cigaal wird wegen Lehrermangels aufs Internat geschickt, was er nicht will, und wofür auch eigent­lich kein Geld da ist.
Der soma­lisch-öster­rei­chi­sche Drehbuchautor und Regisseur Mo Harawe lie­fert mit sei­nem Debütfilm einen sel­te­nen Einblick in ein Land, das kaum je auf der gro­ßen Leinwand zu sehen ist.
„Doch trotz der zahl­rei­chen per­sön­li­chen Rückschläge, die Harawe fast neben­bei in einen grö­ße­ren, poli­ti­schen Kontext ein­bet­tet, ist The Village Next to Paradise kei­ne Leidenspassion. Bild und Ton stre­ben dem ent­ge­gen: Die Primärfarben leuch­ten vor dem san­di­gen Hintergrund, Musik wird in Form von Liedern aus der Region sehr gezielt ein­ge­setzt. … Weltkino im bes­ten Sinn. Harawe gibt Einblicke in das Leben in einer Gegend, das so bis­lang kaum zu sehen war. Das gelingt ihm ohne Ausstellen von Fremdheit, Elend oder Sentimentalität. Fast sind sei­ne Charaktere zu resi­li­ent für das Leben in einer Wirklichkeit, in der eine Frau Worte sagen kann wie: ‚Es hat kei­nen Sinn, Kinder zu bekom­men. Sie haben kei­ne Zukunft und ster­ben jung.‘“
Valerie Dirk, Der Standard

​THE VILLAGE NEXT TO PARADISE ist der ers­te soma­li­sche Film, der jemals in der pres­ti­ge­träch­ti­gen Sektion „Un Certain Regard“ in Cannes gezeigt wurde.

Credits:

DE/FR/AU/SO 2024, 133 Min., Somali OmU
Regie: Mo Harawe
Kamera: Mostafa El Kashef
Schnitt: Joana Scrinzi, aea
mit
Ahmed Ali Farah, Anab Ahmed Ibrahim, Ahmed Mohamud Saleban

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Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte

Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte

Ein Film von Klára Tasovská. 

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Ein Fotofilm, mon­tiert aus tau­sen­den Aufnahmen der Fotografin Libuše Jarcovjáková, unter­legt mit Texten aus ihren Tagebüchern. Das Kaleidoskop eines erfüll­ten Lebens, hart und uner­bitt­lich abge­run­gen und erkämpft, was mög­lich schien. Ohne sich zu scho­nen, um aus dem Vollen schöp­fen zu kön­nen. All das ist in den schwarz/weißen Momentaufnahmen greif­bar und spür­bar.
Dem Grau des real exis­tie­ren­den Sozialismus und der Depression nach der Niederschlagung des Prager Frühlings ent­flieht die Fotografin in die Ritzen, die es damals zumin­dest in Prag gab. Weil ihre Eltern als unzu­ver­läs­sig gal­ten, wur­de Libuše Jarcovjáková lan­ge das Studium an der Kunstschule ver­sperrt, sie muss­te sich erst als Arbeiterin bewäh­ren. Schichten in einer Druckerei, dort arbeiten/saufen/schlafen. In Kneipen leben, lan­ge in der ein­zi­gen Schwulenbar am Ort. Sprachkurse für viet­na­me­si­sche Vertragsarbeiter, nackig daheim mit Freunden und noch ein paar Gläser mehr. Die Kamera erlebt alles mit, sach­lich, neu­tral und grob­kör­nig. Durch einen Zufall kommt sie nach Japan und wird Modefotografin, denn das Leben schreibt die schlech­tes­ten Drehbücher. Dabei wird sicht­bar, über welch viel­sei­ti­ges Repertoire sie ver­fügt. Aber geleck­te Modeaufnahmen lie­gen ihr eben nicht und sie fährt zurück. Zu Prag und Tokio gesellt sich schließ­lich West-Berlin, der sur­rea­le Ort, der von Oktober bis April aus­schließ­lich in Grautönen exis­tier­te. Libuše Jarcovjáková arbei­tet hier u.a. als Zimmermädchen, denn als Künstlerin ent­deckt und aner­kannt wird sie erst sehr spät. Noch bin ich nicht… ist ein wil­der Bilderrausch aus der Untersicht, vol­ler Empathie für die, die im Spiegelreflex strah­len.
In wel­cher Welt lebe ich? Wer bin ich? Wie möch­te ich leben? Aus Libuše Jarcovjákovás Werk von zehn­tau­sen­den Negativen und dut­zen­den Tagebüchern hat die tsche­chi­sche Regisseurin Klára Tasovská einen poe­ti­schen Filmessay mon­tiert. Noch bin ich nicht, wer ich sein möch­te erzählt von einem beson­de­ren Künstlerinnenleben und einer bewe­gen­den Reise in die Freiheit, die sich über sechs Jahrzehnte spannt und von der sowje­tisch „nor­ma­li­sier­ten“ ČSSR der spä­ten 1960er und frü­hen 70er über das Ost-Berlin der 80er bis ins Prag nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und von heu­te führt.

Credits:

Ještě nej­sem, kým chci být
CZ/SK/AU 2024, 90 Min., tsche­chi­sche Originalfassung mit deut­schen Untertiteln
Regie:
Klára Tasovská
Schnitt: Alexander Kashcheev

Trailer:
NOCH BIN ICH NICHT, WER ICH SEIN MÖCHTE Trailer Deutsch | German [HD]

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A real Pain

A Real Pain

Ein Film von Jesse Eisenberg.

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Allein sitzt Benji (Kieran Culkin) am Flughafen in New York, inmit­ten von hek­ti­schen Reisenden scheint er ein Pol der Ruhe zu sein. Er war­tet auf sei­nen Cousin David (Jesse Eisenberg), der die Idee zu einer Reise in die gemein­sa­me Vergangenheit gehabt hat. Beider Großmutter ist vor kur­zem gestor­ben, ihr Erbe ermög­licht den Cousins, die sich einst Nahe stan­den, aber inzwi­schen nur noch wenig Kontakt haben, eine Reise nach Polen, in das Land ihrer Vorfahren.

Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges konn­te ihre jüdi­sche Großmutter flie­hen, zurück in ihre Heimat reis­te sie nie wie­der. In Warschau schlie­ßen sich die Cousins einer Reisegruppe an, als deren Leiter James (Will Sharpe) fun­giert, ein bri­ti­scher Akademiker, der dem­entspre­chend aka­de­misch über die Orte des Grauens berich­tet, die die Gruppe besucht.

Neben den Cousins nimmt unter ande­rem ein ame­ri­ka­ni­sches Ehepaar an der Reise in die Vergangenheit teil, aber auch ein Mann aus Ruanda, der den dor­ti­gen Genozid über­leb­te und danach zum Judaismus kon­ver­tier­te. Gemeinsam reist die Gruppe durch das gegen­wär­ti­ge Polen, in dem die Spuren der einst gro­ßen jüdi­schen Bevölkerung nur noch schwer zu fin­den sind, besu­chen Monumente und Mahnmale und am Ende auch das Konzentrationslager Majdanek.

Ein klas­si­sches erzäh­le­ri­sches Muster ver­wen­det Jesse Eisenberg für sei­nen zwei­ten Spielfilm, das deut­schen Zuschauern bekannt vor­kom­men mag: Erst vor weni­gen Monaten lief Julia von Heinz „Treasure – Familie ist ein frem­des Land“ im Kino, in dem eben­falls zwei Personen, dort ein Vater-Tochter Gespann, nach Polen rei­sen und sich auf die Spuren der Vergangenheit zu bege­ben. Im Gegensatz zu von Heinz ist Eisenberg aller­dings selbst jüdi­scher Herkunft, hat Verwandte, die dem Holocaust ent­ka­men, eine Großmutter, die aus Polen emigrierte.

Und er hat sich in den letz­ten Jahren, in zum Beispiel im Magazin The New Yorker erschie­ne­nen Texten, als poin­tier­ter, iro­ni­scher Beobachter erwie­sen, der mit unter­schwel­li­gem Humor über exis­ten­zi­el­les und all­zu mensch­li­ches Verhalten schreibt. In sei­nem zwei­ten Film benutzt er nun eine ein­fa­che Road Movie-Struktur, auf deren Weg man den bei­den schein­bar unter­schied­li­chen Cousins nahe kommt.

Besonders Kieran Culkin, der in den letz­ten Jahren vor allem durch die erfolg­rei­che Fernsehserie „Succession“ bekannt gewor­den ist, glänzt dabei als anfangs mit sich im rei­nen wir­ken­der Mann, des­sen Sorgen sich erst nach und nach offen­ba­ren. Anstrengend wirkt die­ser Benji oft, wenn er die Reisegruppe und ihren Leiter kon­fron­tiert, schein­ba­re Wahrheiten in Frage stellt und dadurch der emo­tio­na­len Wahrheit viel näher kommt, als ihr aka­de­mi­scher Reiseleiter. Ganz bei­läu­fig insze­niert Eisenberg die Reise, lässt die Dialoge und Situationen für sich ste­hen und erweist sich gera­de durch die­se Zurückhaltung als genau­er Beobachter einer Konfrontation mit der eige­nen Vergangenheit.

Michael Meyns | programmkino.de

Credits:

US/PL 2024, 90 Min., engl. OmU
Regie: Jesse Eisenberg
Kamera: Michael Dymak
Schnitt: Robert Nassau
mit Jesse Eisenberg, Kieran Culkin, Will Sharpe, Jennifer Grey, Kurt Egyiawan, Liza Sadovy, Daniel Oreskes 

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Henry Fonda for President

Ein Film von Alexander Horwath. Am 5.2. mit anschlie­ßen­dem Filmgespräch.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Von 1905 bis 1982 leb­te Henry Fonda, spiel­te in rund 80 Filmen mit, dar­un­ter eini­gen der größ­ten Klassiker des ame­ri­ka­ni­schen Kinos: „Früchte des Zorns“, „Faustrecht der Prärie“, „Die 12 Geschworenen.“ Kaum jemand ver­kör­per­te dabei den ein­fa­chen Mann, den durch­schnitt­li­chen, aber ehr­ba­ren Bürger so gut wie Henry Fonda, der sicher nicht zufäl­lig im Lauf sei­ner Karriere immer wie­der Präsidenten spiel­te, ech­te und fik­ti­ve: In „Der jun­ge Mr. Lincoln“ ver­kör­per­te er den legen­dä­ren Honest Abe, der Präsident, der zumin­dest auf dem Papier die Sklaverei been­de­te und sein Land durch den Bürgerkrieg führ­te, in „Angriffsziel Moskau“ einen namen­lo­sen Präsidenten, der sein Land vor einem Nuklearkrieg bewah­ren will.

Wenn man mit dem ame­ri­ka­ni­schen, also mit dem Hollywood-Kino auf­ge­wach­sen ist, gera­de als in den 60er oder 70er Jahren gebo­re­ner, dann kam man an Henry Fonda nicht vor­bei. So ging es auch dem öster­rei­chi­schen Filmwissenschaftler, lang­jäh­ri­gem Leiter der Viennale und Direktor des öster­rei­chi­schen Filmmuseums Alexander Horwarth, der 1980, als sech­zehn­jäh­ri­ger in Paris, Henry Fonda ent­deck­te. So erzählt es Horwarth in sei­nem essay­is­ti­schen Dokumentarfilm „Henry Fonda for President“, der in losen, ange­nehm mäan­dern­den Linien, um Henry Fonda, Hollywood und die ame­ri­ka­ni­sche Gesellschaft kreist.

Und dabei auch weit in die Vergangenheit greift, den Henry Fondas Vorfahren kamen einst aus dem alten Europa in die neue Welt, sie­del­ten in nur schein­bar unbe­rühr­ter Natur, folg­ten dem Versprechen des ame­ri­ka­ni­schen Traums. In Nebraska, einem jener Flächenstaaten, die kaum ein Tourist jemals besucht, wur­de Henry Fonda gebo­ren, fand sei­nen Weg nach Hollywood und ver­kör­per­te lan­ge jenen typi­schen ame­ri­ka­ni­schen Jedermann, ehr­bar und kri­tisch – und auch ein Mythos.

Anhand zahl­rei­cher Filmausschnitte skiz­ziert Horwarth, wie Hollywood und damit Amerika sich durch Typen wie Henry Fonda ein idea­li­sier­tes Ebenbild schuf, wie die Selbstwahrnehmung der USA, die sich ger­ne als idea­le Demokratie sah, als Verfechter von Recht und Anstand, als sprich­wört­li­che Stadt auf dem Hügel, sich in der schein­bar unpo­li­ti­schen Form des Hollywood-Kinos spie­gel­te, die dadurch als Propaganda für die USA auf den Leinwänden der Welt zu sehen war.

Im Laufe sei­ner Karriere wur­de jedoch auch Fonda kri­ti­scher mit sich und sei­nem Land, viel­leicht auch durch sei­ne bedien Kinder Peter und Jane, die gleich­zei­tig Hollywood Royalty waren und doch auch zu Symbolen der Gegenkultur der 60er Jahre wur­den: Peter durch sei­ne Hauptrolle in „Easy Rider“, Jane durch ihren poli­ti­schen Aktivismus, der ihr den despek­tier­li­chen Spitznamen Hanoi Jane einbrachte.

So beschreibt „Henry Fonda for President“ auf sehr per­sön­li­che Weise auch den Weg einer Entfremdung im Blick auf Amerika. Die Mythen, die gera­de der klas­si­sche Western der 40er Jahre ver­brei­te­te, wur­den spä­tes­tens mit dem Vietnamkrieg ent­larvt. Das kurz danach mit Ronald Reagen tat­säch­lich ein Schauspieler Präsident wur­de war Zufall, passt aber irgend­wie auch in das Bild eines Landes, das sich zu gern im Glanz von Hollywood und des Showbusiness sonn­te. Als einer der expo­nier­tes­ten Vertreter die­ser Welt fun­gier­te über vie­le Jahrzehnte Henry Fonda, der aller­dings selbst­re­fle­xiv genug war, um schon Ende der 60er Jahre im legen­dä­ren Italo-Western „Spiel mir das Lied vom Tod“, einen der übels­ten Killer der Filmgeschichte zu spie­len: Als Frank kon­ter­ka­riert Fonda sein eige­nes Image und ein biss­chen auch das Bild, das Amerika ger­ne von sich selbst hat und tötet gleich in sei­ner ers­ten Szene ein Kind. Auch eine Methode den Mythos vom ame­ri­ka­ni­schen Traum zu beer­di­gen, was damals Sergio Leone so bild­ge­wal­tig tat und nun Alexander Horwarth in einem klu­gen, viel­schich­ti­gen Essayfilm.

Michael Meyns | programmkino.de

Credits:

AT/DE 2024, 184 Min., engl./dt. Originalfassung mit deut­schen und eng­li­schen Untertiteln
Regie: Alexander Horwath
Kamera & Schnitt: Michael Palm

Trailer:
Henry Fonda for President (2024) | Trailer | Regie: Alexander Horwath

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