Sarahs Karriere als Mixed-Martial-Arts-Kämpferin geht zu Ende, statt in den Ring zu steigen, wird sie zukünftig Kinder trainieren. Ein plötzliches Angebot aus Jordanien, die Töchter einer reichen Familie zu unterrichten – MMA sei dort gerade der letzte Schrei – hört sich da sehr exotisch und verführerisch an. Sarah sagt ja und packt ihre Sachen. Dort angekommen, muss sie bald erkennen, dass die Familie viel reicher ist als gedacht, und soviel Einfluss besitzt, dass man ihr im Hotel, wo sie untergebracht ist, nichts darüber erzählen mag. Außerdem ist unschwer zu erkennen, dass die drei jungen Frauen kein wirkliches Interesse am Sport haben. Viel lieber sitzen sie im Wohnzimmer, lackieren sich die Nägel und schauen Soaps. Dabei stehen sie immer unter Aufsicht, auch bei gelegentlichen Shopping-Ausflügen begleitet sie ein Bodyguard. Als aufgeklärte Frau aus dem Westen denkt sich Sarah ihren Teil, und als sie gefragt wird, glaubt sie, Nour, Shaima und Fatima helfen zu können und zu müssen.
„Mir war wichtig, dass das Publikum Sarah folgt und sich dieselben Fragen stellt wie sie. Auch Sarah sieht nie das ganze Bild. Trotzdem bleibt die Frage, ob sie solidarisch agieren soll. Dieser Zweifel sollte bis zum Ende bestehen. Mich hat dabei die Geschichte von Prinzessin Latifah, der Tochter des Königs von Dubai, inspiriert. Sie ist mit ihrer finnischen Capoeira-Lehrerin geflüchtet. Tatsächlich kam aber nicht die Prinzessin heil davon, sondern die Europäerin. Das fand ich interessant und wollte dieses Gefühl in Mond wiedergeben: Wem glaubt man? Was ist wirklich passiert? Sind meine eigenen Vorurteile im Weg?” Kurdwin Ayub im ray-Magazin
Nach Sonne ist dies der zweite Teil einer geplanten Trilogie der kurdisch-österreichischen Regisseurin Kurdwin Ayub, die dafür beim Filmfestival von Locarno mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde.
Credits:
AT 2024, 93 Min, deutsch/arabisch/englische OmU Regie: Kurdwin Ayub Kamera: Klemens Hufnagl, Schnitt: Roland Stöttinger, mit: Florentina Holzinger, Andria Tayeh, Celina Antwan, Nagham Abu Baker, u.a.
Nick Cave ist eine feste Größe in der Musik, aber die Band, mit der alles angefangen hat, kennen nur wenige. Schade eigentlich, vielleicht ändert dieser Film das ein bisschen, der sich nicht als Vehikel für bekannte Musiker versteht, die darüber sprechen, wie am tollsten dieser oder jener völlig unbekannt gebliebene Musiker mal war, sondern als spannender Reisebericht. Fünf Knilche reißen aus Australien aus, um es in London zu etwas zu bringen. Ihre Band The boys next door wird dort zur Birthday Party. Das Überleben in der Stadt, wo sie auf engstem Raum zusammenhocken, während das wenige Geld für Drogen verpufft, formen den brachialen, nackten Kreissägensound der Musiker mit, der kaum von den notorisch monotonen Beats gebändigt werden kann. Dazu erlebt Cave als Sänger die widersprüchlichen Gefühle einer Achterbahnfahrt durch fremder Leute Hinterhöfe und beyond (Deep in the woods a funeral is swinging). Schließlich schafft es die Band nach West-Berlin und ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit den richtigen Leuten, freundet sich hier mit Mitgliedern von Die Haut und den Einstürzenden Neubauten an. Am Sound ändert der Heimathafen in der Fremde nichts, er bleibt schroff, psychotisch und flext sich kreischend durchs Gehirn. Deshalb kein Durchbruch oder kommerzieller Erfolg, die Birthday Party zehrt von der Substanz. Schließlich ist sie aus und der Saal leergefegt. Aber vor der Tür stehen schon die Bad Seeds, Crime and the City Solution und These immortal Souls und es geht weiter durch Nächte, die mal schöner waren als anderer Leute Tage.
Mutiny In Heaven, ausschließlich von Originalmitgliedern der Post-Punk-Band The Birthday Party erzählt, beschreibt, wie Nick Cave und seine Schulfreunde ihr Publikum mit konfrontativen Auftritten, gesetzlosem Gothic-Horror und einem anarchischen Lebensstil aufschreckten. Mit nie zuvor gezeigten persönlichen Archivaufnahmen, unveröffentlichten Tracks und Konzertmitschnitten sowie Graphic Novel-Sequenzen des deutschen Comiczeichners Reinhard Kleist bietet Mutiny in Heaven einen mitreißenden Sitzplatz in der nicht ganz ungefährlichen ersten Reihe eines der vielleicht legendärsten Live-Acts der Musikgeschichte.
Nick Cave and the Birthday Party in a pub in Kilburn, London, UK on 22 October 1981. (Photo by David Corio/Redferns)
Credits:
AU 2023, 99 Min, engl. OmU Regie: Ian White Kamera: Craig Johnston Schnitt: Aaron J. March mit: Phil Calvert, Nick Cave, Mick Harvey, Rowland S. Howard, Tracy Pew
Der Film beginnt mit einem richtigen Knall: genau dann, als er auf den Knopf zur Sprengung eines Wohnblocks drückt, und dieser mit einer Wolke aus Steinstaub in die Knie geht, erleidet der Bürgermeister des Quartiers einen Herzinfarkt. Interims-Nachfolger wird Pierre, ein bürokratischer Kinderarzt, dem zu der Gegend und den Problemen der Bewohner des politisch ungeliebten Viertels nur wenig mehr einfällt, als hart durchzugreifen. Zunächst mehr aus Überforderung und auf Druck, nimmt er den erstbesten Vorfall zum Anlass, einen Komplex sofort komplett evakuieren zu lassen, und die Bewohner:innen auf die Straße zu setzen, und das im Dezember. Als Pierre offiziell zur Wahl aufgestellt wird, beschließt die junge Haby, die als Praktikantin im Archiv des Rathauses arbeitet und im Viertel wohnt, gegen ihn zu kandidieren. In ihrer Umgebung gibt es aber auch einige, die nicht mehr an eine Verbesserung ihrer Situation mit legalen und demokratischen Mitteln glauben. In seinem aufsehenerregendem Spielfilm Die Wütenden – Les Misérables war Ladj Ly auch schon in einer Banlieue unterwegs. Dort aufgewachsen, kennt er, was er zeigt, und klagt an, was er dort sieht und erlebt. In Die Unerwünschten – Les Indesirables ist weniger radikal als sein Debüt, aber ebenso engagiert und wütend. Seine filmisch umgesetzten Beobachtungen sind präzise, und trotz der klar verteilten Sympathien verfällt er nicht in ein reines Gut-Böse-Schema. „Ly inszeniert das Chaos mit Präzision; er sorgt dafür, dass man die Wut spürt, die sich durch die Gemeinschaft zieht, untermalt sie aber oft mit ruhiger Musik und verbringt Zeit in den Sitzungssälen, wo die Gewalt im Stillen ausgeübt wird, mit Papier und Stiften. Der Film kocht vor Wut darüber, wie die Hebel der Macht zur Unterdrückung eingesetzt werden, aber er ist auch ein Prozessfilm, der die Situation nicht ausreizt und relativ ruhig bleibt, bis die die Wut schließlich überkocht.“ The Wrap
Gerade noch im üppigen Grün des Waldes herumgestreift, hat sich die Katze im Haus gemütlich zum Schlafen eingerollt, als sie ein sich näherndes Rumoren wahrnimmt – eine riesige Wasserwelle flutet das Land. Unsere Heldin kann sich knapp auf ein vorbeischwimmendes Segelboot retten. Nun gleitet sie dahin über das Meer, durch Urwälder, an spitzen Bergkegeln vorbei, die aus dem Wasser ragen, an Städten, die wie unwirkliche riesige Paläste aussehen, stets angespannt aufmerksam, mit einer Mischung aus Neugierde und Furcht. Genau wie Gints Zilbalodis, der hier erstmals mit einem größeren Team arbeitet, muss sich die kleine schwarze Katze, die bisher alleine lebte, auf Kooperation einstellen. Mit an Bord kommen nämlich ebenfalls unfreiwillig ein verspielter und geiziger Lemur, ein schläfriges Wasserschwein, der immer freundliche Golden Retriever, und der verletzte, hilfsbereite Sekretär. Zum Überleben der Katastrophe müssen die fünf sich zusammenraufen, denn stets und überall lauert Gefahr. Das großartige an Flow ist, dass diese Crew nicht vermenschlicht wird. Alle behalten ihre tierischen Eigenarten, die sie allerdings auf der Fahrt modifizieren müssen. Die Katze wird mutiger, der Hund vorsichtiger, der Lemur lernt zu teilen, der verstoßene Sekretär übernimmt die Führung. Nur das Wasserschwein bleibt phlegmatisch wie eh und je. „Flow ist verträumt, episch, bedrohlich und wunderschön. Das Beste von allem ist, dass die Tiere Tiere sind, wortlos und hauptsächlich mit ihrer eigenen Sicherheit und ihrer nächsten Mahlzeit beschäftigt. Dennoch sind sie gezwungen, miteinander auszukommen, und sie werden zu mehr als der Summe ihrer pelzigen und gefiederten Teile. … Der Regisseur dieser magischen Fabel ist Gints Zilbalodis, ein 30-jähriger lettischer Animator. Möge Hollywood ihn niemals mit Angeboten für Reichtum und Fortsetzungen umwerben …“ Ty Burr | Washington Post
Der erste Spielfilm des Dokumentarfilmers Jonathan Millet kommt als fiktiver Thriller daher, virtuos erzählt, genau recherchiert gründet er auf realen Begebenheiten. Er ist aber viel mehr: das Soziogramm eines höchst traumatisierten Mannes, in dem die Fragen Obsession und Wahrheit, Selbstjustiz oder Rechtsstaatlichkeit und die Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart verhandelt werden.
Hamid ist ein Überlebender des syrischen Militärgefängnisses Saidnaya, es gelang ihm zu entkommen und Europa zu erreichen. Während sein Asylverfahren läuft, schließt er sich der geheimen Yaqaza-Zelle an, einem Untergrundnetzwerk aus Zivilisten, das flüchtige Kriegsverbrecher des syrischen Regimes aufspürt und verfolgt. In einem Kommilitonen an der Uni in Straßbourg glaubt er seinen früheren Folterer zu erkennen. Von seinem Peiniger kennt er nur die Stimme und den Geruch, und muss sich daher allein auf seine Intuition verlassen. Die Mitglieder seiner geheimen Gruppe mahnen ihn zur Vorsicht, sie wähnen den Gesuchten an anderen Orten, und er folgte schon einmal einer falschen Fährte.
Es ist ein Schattendasein, das Hamid führt, ein fragiles Dasein in der Fremde. Er kann niemandem vertrauen, lebt unter falschem Namen, ohne Freunde, und folgt nur einem einzigen Ziel.
„Jonathan Millet schafft in seinem … ersten Spielfilm eine Atmosphäre der tiefen Trauer, erzählt das Allgemeine im Persönlichen, deutet den großen historischen und auch persönlichen Überbau nur an. Ihm gelingt ein emotionaler Blickwinkel, weil er stets ganz dicht an seinem Protagonisten dran ist. Adam Bessa spielt ihn mit berührender Intensität und stetiger innerer Anspannung.“Britta Schmeis | epd-Film
Credits:
Les Fantômes FR 2024, 106 Min., Arab., Frz. OmU Regie: Jonathan Millet Kamera: Olivier Boonjing Schnitt: Laurent Sénéchal mit: Adam Bessa, Tawfeek Barhom, Julia Franz Richter, Hala Rajab, Safiqa El Till
Trailer:
Die Schattenjäger (Ghost Trail) Trailer Original mit dt. UT
Wer die Filme von Andrea Arnold kennt, weiß, dass sie ihre Figuren liebt. Die trauernde CCTV-Sicherheitsbeamtin in Red Road ebenso wie die Jugendlichen der Drückerkolonne in American Honey, die Hip-Hop-Tänzerin Mia in Fish Tank, Catherine und Heathcliff in Wuthering Heights – gleich wie rau, ungehobelt oder problematisch sie sich verhalten, immer lässt sie ihnen ihr Leben, nie würde sie jemanden davon vorführen. Auch Luma, der realen Kuh aus Cow, bringt sie vollen Respekt entgegen. In Bird begleiten wir die 12-jährige Bailey, die zusammen mit dem Halbbruder bei ihrem durchgeknallten, viel zu jungen Vater Bug in einem heruntergekommenen Wohnblock lebt, und schwer genervt von ihrer Umgebung ist. Dem plötzlich auftauchenden Bird, einer merkwürdigen Erscheinung auf der Suche nach seiner Familienvergangenheit, begegnet sie zuerst auch misstrauisch und abweisend. Bald aber wird der melancholische Fremde eine Art Vertrauter für sie, und manchmal scheint Bailey dann eine andere Welt zu betreten. „Schon in früheren Filmen hat die Regisseurin Andrea Arnold junge Protagonist:innen in den Fokus genommen und dabei mit klarem, durchaus auch oft hartem Blick für bittere soziale Realitäten. Zum auf Authentizität setzenden Realismus der Britin gesellt sich dieses Mal durch den von Franz Rogowski irgendwo zwischen naiv und verloren angelegten Titelhelden ein erfreulicherweise nicht zu dick aufgetragener magischer Realismus. Das kennt man von Arnold sonst so gar nicht, geht hier aber bestens auf. Mit der Hauptdarstellerin Nykiya Adams gelingt der Regisseurin abermals eine echte Entdeckung, und nicht zuletzt eine Vielzahl von Tieren – von einer Halluzinogene absondernden Kröte über Pferde und einen Fuchs bis hin zu einem besonders bedeutungsvollen Raben – verleiht Bird einen ganz eigenen Touch. Vor allem aber ist der Film eine erfreulich sensible, einfallsreiche und wie immer bei Arnold auch musikalisch prägnante Variante des sonst hinlänglich abgegrasten Coming of Age-Genres.“ Patrick Heidmann | Cineman
Credits:
GB 2023, 119 Min., engl. OmU, Regie: Andrea Arnold Kamera: Robbie Ryan Schnitt: Joe Bini mit: Barry Keoghan, Franz Rogowski, Nykiya Adams, Jason Edward Buda, Jasmine Jobson, James Nelson-Joyce Kayleigh Frankie Box
Der Eröffnungsfilm des letzten Afrikamera-Filmfestivals hat viele überraschende Aspekte, ohne Wundertüte zu sein. Trotz Bürgerkrieg und prekärem Leben im Postkolonialismus geht es ruhig zu, die Sprache ist einfach und der Ton lakonisch. Die drei Mitglieder einer unfreiwilligen Patchworkfamilie im Dorf Paradise in Somalia haben ihre eigenen Sorgen. Mamargades Job als traditioneller Leichenbestatter wird bald von Maschinen übernommen, seine Schwester Araweelo lebt in Scheidung und muss sich neu orientieren, und Ziehsohn Cigaal wird wegen Lehrermangels aufs Internat geschickt, was er nicht will, und wofür auch eigentlich kein Geld da ist. Der somalisch-österreichische Drehbuchautor und Regisseur Mo Harawe liefert mit seinem Debütfilm einen seltenen Einblick in ein Land, das kaum je auf der großen Leinwand zu sehen ist. „Doch trotz der zahlreichen persönlichen Rückschläge, die Harawe fast nebenbei in einen größeren, politischen Kontext einbettet, ist The Village Next to Paradise keine Leidenspassion. Bild und Ton streben dem entgegen: Die Primärfarben leuchten vor dem sandigen Hintergrund, Musik wird in Form von Liedern aus der Region sehr gezielt eingesetzt. … Weltkino im besten Sinn. Harawe gibt Einblicke in das Leben in einer Gegend, das so bislang kaum zu sehen war. Das gelingt ihm ohne Ausstellen von Fremdheit, Elend oder Sentimentalität. Fast sind seine Charaktere zu resilient für das Leben in einer Wirklichkeit, in der eine Frau Worte sagen kann wie: ‚Es hat keinen Sinn, Kinder zu bekommen. Sie haben keine Zukunft und sterben jung.‘“ Valerie Dirk, Der Standard
THE VILLAGENEXTTOPARADISE ist der erste somalische Film, der jemals in der prestigeträchtigen Sektion „Un Certain Regard“ in Cannes gezeigt wurde.
Credits:
DE/FR/AU/SO 2024, 133 Min., Somali OmU Regie: Mo Harawe Kamera: Mostafa El Kashef Schnitt: Joana Scrinzi, aea mit Ahmed Ali Farah, Anab Ahmed Ibrahim, Ahmed Mohamud Saleban
Ein Fotofilm, montiert aus tausenden Aufnahmen der Fotografin Libuše Jarcovjáková, unterlegt mit Texten aus ihren Tagebüchern. Das Kaleidoskop eines erfüllten Lebens, hart und unerbittlich abgerungen und erkämpft, was möglich schien. Ohne sich zu schonen, um aus dem Vollen schöpfen zu können. All das ist in den schwarz/weißen Momentaufnahmen greifbar und spürbar. Dem Grau des real existierenden Sozialismus und der Depression nach der Niederschlagung des Prager Frühlings entflieht die Fotografin in die Ritzen, die es damals zumindest in Prag gab. Weil ihre Eltern als unzuverlässig galten, wurde Libuše Jarcovjáková lange das Studium an der Kunstschule versperrt, sie musste sich erst als Arbeiterin bewähren. Schichten in einer Druckerei, dort arbeiten/saufen/schlafen. In Kneipen leben, lange in der einzigen Schwulenbar am Ort. Sprachkurse für vietnamesische Vertragsarbeiter, nackig daheim mit Freunden und noch ein paar Gläser mehr. Die Kamera erlebt alles mit, sachlich, neutral und grobkörnig. Durch einen Zufall kommt sie nach Japan und wird Modefotografin, denn das Leben schreibt die schlechtesten Drehbücher. Dabei wird sichtbar, über welch vielseitiges Repertoire sie verfügt. Aber geleckte Modeaufnahmen liegen ihr eben nicht und sie fährt zurück. Zu Prag und Tokio gesellt sich schließlich West-Berlin, der surreale Ort, der von Oktober bis April ausschließlich in Grautönen existierte. Libuše Jarcovjáková arbeitet hier u.a. als Zimmermädchen, denn als Künstlerin entdeckt und anerkannt wird sie erst sehr spät. Noch bin ich nicht… ist ein wilder Bilderrausch aus der Untersicht, voller Empathie für die, die im Spiegelreflex strahlen. In welcher Welt lebe ich? Wer bin ich? Wie möchte ich leben? Aus Libuše Jarcovjákovás Werk von zehntausenden Negativen und dutzenden Tagebüchern hat die tschechische Regisseurin Klára Tasovská einen poetischen Filmessay montiert. Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte erzählt von einem besonderen Künstlerinnenleben und einer bewegenden Reise in die Freiheit, die sich über sechs Jahrzehnte spannt und von der sowjetisch „normalisierten“ ČSSR der späten 1960er und frühen 70er über das Ost-Berlin der 80er bis ins Prag nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und von heute führt.
Credits:
Ještě nejsem, kým chci být CZ/SK/AU 2024, 90 Min., tschechische Originalfassung mit deutschen Untertiteln Regie: Klára Tasovská Schnitt: Alexander Kashcheev
Trailer:
NOCHBINICHNICHT, WERICHSEINMÖCHTE Trailer Deutsch | German [HD]
Allein sitzt Benji (Kieran Culkin) am Flughafen in New York, inmitten von hektischen Reisenden scheint er ein Pol der Ruhe zu sein. Er wartet auf seinen Cousin David (Jesse Eisenberg), der die Idee zu einer Reise in die gemeinsame Vergangenheit gehabt hat. Beider Großmutter ist vor kurzem gestorben, ihr Erbe ermöglicht den Cousins, die sich einst Nahe standen, aber inzwischen nur noch wenig Kontakt haben, eine Reise nach Polen, in das Land ihrer Vorfahren.
Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges konnte ihre jüdische Großmutter fliehen, zurück in ihre Heimat reiste sie nie wieder. In Warschau schließen sich die Cousins einer Reisegruppe an, als deren Leiter James (Will Sharpe) fungiert, ein britischer Akademiker, der dementsprechend akademisch über die Orte des Grauens berichtet, die die Gruppe besucht.
Neben den Cousins nimmt unter anderem ein amerikanisches Ehepaar an der Reise in die Vergangenheit teil, aber auch ein Mann aus Ruanda, der den dortigen Genozid überlebte und danach zum Judaismus konvertierte. Gemeinsam reist die Gruppe durch das gegenwärtige Polen, in dem die Spuren der einst großen jüdischen Bevölkerung nur noch schwer zu finden sind, besuchen Monumente und Mahnmale und am Ende auch das Konzentrationslager Majdanek.
Ein klassisches erzählerisches Muster verwendet Jesse Eisenberg für seinen zweiten Spielfilm, das deutschen Zuschauern bekannt vorkommen mag: Erst vor wenigen Monaten lief Julia von Heinz „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“ im Kino, in dem ebenfalls zwei Personen, dort ein Vater-Tochter Gespann, nach Polen reisen und sich auf die Spuren der Vergangenheit zu begeben. Im Gegensatz zu von Heinz ist Eisenberg allerdings selbst jüdischer Herkunft, hat Verwandte, die dem Holocaust entkamen, eine Großmutter, die aus Polen emigrierte.
Und er hat sich in den letzten Jahren, in zum Beispiel im Magazin The New Yorker erschienenen Texten, als pointierter, ironischer Beobachter erwiesen, der mit unterschwelligem Humor über existenzielles und allzu menschliches Verhalten schreibt. In seinem zweiten Film benutzt er nun eine einfache Road Movie-Struktur, auf deren Weg man den beiden scheinbar unterschiedlichen Cousins nahe kommt.
Besonders Kieran Culkin, der in den letzten Jahren vor allem durch die erfolgreiche Fernsehserie „Succession“ bekannt geworden ist, glänzt dabei als anfangs mit sich im reinen wirkender Mann, dessen Sorgen sich erst nach und nach offenbaren. Anstrengend wirkt dieser Benji oft, wenn er die Reisegruppe und ihren Leiter konfrontiert, scheinbare Wahrheiten in Frage stellt und dadurch der emotionalen Wahrheit viel näher kommt, als ihr akademischer Reiseleiter. Ganz beiläufig inszeniert Eisenberg die Reise, lässt die Dialoge und Situationen für sich stehen und erweist sich gerade durch diese Zurückhaltung als genauer Beobachter einer Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit.
Michael Meyns | programmkino.de
Credits:
US/PL 2024, 90 Min., engl. OmU Regie: Jesse Eisenberg Kamera: Michael Dymak Schnitt: Robert Nassau mit Jesse Eisenberg, Kieran Culkin, Will Sharpe, Jennifer Grey, Kurt Egyiawan, Liza Sadovy, Daniel Oreskes
Von 1905 bis 1982 lebte Henry Fonda, spielte in rund 80 Filmen mit, darunter einigen der größten Klassiker des amerikanischen Kinos: „Früchte des Zorns“, „Faustrecht der Prärie“, „Die 12 Geschworenen.“ Kaum jemand verkörperte dabei den einfachen Mann, den durchschnittlichen, aber ehrbaren Bürger so gut wie Henry Fonda, der sicher nicht zufällig im Lauf seiner Karriere immer wieder Präsidenten spielte, echte und fiktive: In „Der junge Mr. Lincoln“ verkörperte er den legendären Honest Abe, der Präsident, der zumindest auf dem Papier die Sklaverei beendete und sein Land durch den Bürgerkrieg führte, in „Angriffsziel Moskau“ einen namenlosen Präsidenten, der sein Land vor einem Nuklearkrieg bewahren will.
Wenn man mit dem amerikanischen, also mit dem Hollywood-Kino aufgewachsen ist, gerade als in den 60er oder 70er Jahren geborener, dann kam man an Henry Fonda nicht vorbei. So ging es auch dem österreichischen Filmwissenschaftler, langjährigem Leiter der Viennale und Direktor des österreichischen Filmmuseums Alexander Horwarth, der 1980, als sechzehnjähriger in Paris, Henry Fonda entdeckte. So erzählt es Horwarth in seinem essayistischen Dokumentarfilm „Henry Fonda for President“, der in losen, angenehm mäandernden Linien, um Henry Fonda, Hollywood und die amerikanische Gesellschaft kreist.
Und dabei auch weit in die Vergangenheit greift, den Henry Fondas Vorfahren kamen einst aus dem alten Europa in die neue Welt, siedelten in nur scheinbar unberührter Natur, folgten dem Versprechen des amerikanischen Traums. In Nebraska, einem jener Flächenstaaten, die kaum ein Tourist jemals besucht, wurde Henry Fonda geboren, fand seinen Weg nach Hollywood und verkörperte lange jenen typischen amerikanischen Jedermann, ehrbar und kritisch – und auch ein Mythos.
Anhand zahlreicher Filmausschnitte skizziert Horwarth, wie Hollywood und damit Amerika sich durch Typen wie Henry Fonda ein idealisiertes Ebenbild schuf, wie die Selbstwahrnehmung der USA, die sich gerne als ideale Demokratie sah, als Verfechter von Recht und Anstand, als sprichwörtliche Stadt auf dem Hügel, sich in der scheinbar unpolitischen Form des Hollywood-Kinos spiegelte, die dadurch als Propaganda für die USA auf den Leinwänden der Welt zu sehen war.
Im Laufe seiner Karriere wurde jedoch auch Fonda kritischer mit sich und seinem Land, vielleicht auch durch seine bedien Kinder Peter und Jane, die gleichzeitig Hollywood Royalty waren und doch auch zu Symbolen der Gegenkultur der 60er Jahre wurden: Peter durch seine Hauptrolle in „Easy Rider“, Jane durch ihren politischen Aktivismus, der ihr den despektierlichen Spitznamen Hanoi Jane einbrachte.
So beschreibt „Henry Fonda for President“ auf sehr persönliche Weise auch den Weg einer Entfremdung im Blick auf Amerika. Die Mythen, die gerade der klassische Western der 40er Jahre verbreitete, wurden spätestens mit dem Vietnamkrieg entlarvt. Das kurz danach mit Ronald Reagen tatsächlich ein Schauspieler Präsident wurde war Zufall, passt aber irgendwie auch in das Bild eines Landes, das sich zu gern im Glanz von Hollywood und des Showbusiness sonnte. Als einer der exponiertesten Vertreter dieser Welt fungierte über viele Jahrzehnte Henry Fonda, der allerdings selbstreflexiv genug war, um schon Ende der 60er Jahre im legendären Italo-Western „Spiel mir das Lied vom Tod“, einen der übelsten Killer der Filmgeschichte zu spielen: Als Frank konterkariert Fonda sein eigenes Image und ein bisschen auch das Bild, das Amerika gerne von sich selbst hat und tötet gleich in seiner ersten Szene ein Kind. Auch eine Methode den Mythos vom amerikanischen Traum zu beerdigen, was damals Sergio Leone so bildgewaltig tat und nun Alexander Horwarth in einem klugen, vielschichtigen Essayfilm.
Michael Meyns | programmkino.de
Credits:
AT/DE 2024, 184 Min., engl./dt. Originalfassung mit deutschen und englischen Untertiteln Regie: Alexander Horwath Kamera & Schnitt: Michael Palm
Trailer:
Henry Fonda for President (2024) | Trailer | Regie: Alexander Horwath
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