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Sturmhöhe

Ein Film von Andrea Arnold.

[indie­ki­no Club]

Der Klassiker Wuthering Heights – Sturmhöhe, ein­zi­ger Roman der jun­gen Emily Brontë, wur­de schon oft ver­filmt, hier aber erst­mals von einer Regisseurin. Es war ein die Erfüllung eines Traumes der Britin Andrea Arnold, bis­her bekannt für zeit­ge­nös­si­sche Regiearbeiten. Sie behan­delt nur die ers­te Hälfte des Buches, und schaff­te ein radi­ka­les Werk, das beim Filmfest Venedig ver­stör­te und begeis­ter­te. Nicht, dass die Rolle des auf­ge­nom­me­nen Sohnes Heathcliff mutig und nicht inkon­se­quent von einem schwar­zen Schauspieler inter­pre­tiert wird, son­dern die extre­me Reduzierung des Stoffes auf die Kraft der Elemente, die Sinnlichkeit der Darstellung, die Entkleidung von jeder Romantik ohne Verleugnung des Emotionalen machen den Film zu einer beson­de­ren Erfahrung. Die Geschichte der aus­sichts­lo­sen Liebe zwi­schen dem frem­den Jungen und Cathy, Tochter des Hauses, ist geprägt von Standesdünkel und Verzweifelung, Macht und Ohnmacht und kor­re­spon­diert mit der rau­hen und auch unwirt­li­chen, aber reiz­vol­len Umgebung  der Yorkshire Dales. Die Regisseurin drang dabei vor zum Kern des Romans, der bei sei­ner Veröffentlichung 1847 in die vik­to­ria­ni­sche Epoche ein­schlug wie ein Blitz. 
„Arnolds Interpretation erlangt ihren Zauber durch eine Achtsamkeit für die ein­zel­nen Ingredienzien … . Dieses erreicht sie – obschon das para­dox erscheint – gera­de durch einen pro­non­cier­ten Realismus der Darstellung, der fern jeder Verklärung ist. Dazu gehört auch ein fei­nes Gehör für die viel­fäl­ti­gen Naturgeräusche sowie der Verzicht auf sol­che Musik, die nicht zur Handlung gehört, wie etwa ein­fa­che Lieder, die Cathy singt. Erst zum Abspann ertönt der weh­mü­ti­ge Song «The Enemy» der Band Mumford & Sons.“  Susanne Ostwald, NZZ 

GB 2011, 128 Min., engl. OmU
Regie: Andrea Arnold
mit Kaya Scodelario, Nichola Burley, Steve Evets, James Howson, Shannon Beer, Solomon Glave

Kinder der Hoffnung

ein Film von Yael Reuveny. 

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

In „Schnee von Gestern“ nahm sich die Regisseurin der Geschichte ihrer Großmutter und deren Bruder an. Diesmal fährt sie zurück in ihre Geburtstadt, um Gleichaltrige nach ihrem bis­he­ri­gen Lebensweg zu befra­gen. 32 Kinder gab es 1988 in der Klasse von Reuveny, die damals 8 Jahre alt war, in einer Schule in Petach Tikwa, was soviel bedeu­tet wie „Tor der Hoffnung.“ Hoffnungsträger waren die Kinder, die ihre Familien und den Staat Israel stär­ken und gemein­sam eine fried­li­che und siche­re Zukunft auf­bau­en soll­ten. In Super-8-Aufnahmen aus der Kindheit und poin­tier­ten Kurzporträts ihrer dama­li­gen Mitschülerinnen und Mitschüler über­denkt die in Berlin leben­de Filmemacherin Yael Reuveny ihr eige­nes Selbstverständnis und das ihrer Generation, auch ange­sichts der andau­ern­den Kriege und Konflikte.

Credits:

DE/IL 2020, 84 Min., hebräi­sche OmU
Regie & Buch Yael Reuveny

Trailer:
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Die Geschichte meiner Frau

ein Film von Ildikó Enyedi. 

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Kapitän Jakob Störr ist auf Landgang. In einem Café ver­kün­det er, er wer­de die nächs­te Frau hei­ra­ten, die das Lokal betritt. Es ist Lizzy, eine undurch­schau­ba­re Schönheit. Überraschenderweise ist sie mit Störrs Vorschlag ein­ver­stan­den – doch sein Glück bleibt nicht lan­ge unge­trübt. Immer wie­der ist er wochen­lang auf hoher See und fragt sich, was die lebens­lus­ti­ge Lizzy wohl trei­ben mag, wenn er nicht da ist. Der Kapitän ver­irrt sich zuneh­mend in einem Labyrinth aus Leidenschaft und Eifersucht, ist zwi­schen inni­ger Liebe und Misstrauen hin- und hergerissen…

Nach ihrem Berlinale-Gewinner «On Body and Soul» insze­niert die viel­fach preis­ge­krön­te Regisseurin Ildikó Enyedi mit «The Story of My Wife» erneut ein aus­ser­ge­wöhn­li­ches Liebes-Epos. Léa Seydoux («Saint Laurent», «Spectre – 007») ver­leiht Lizzy gros­sen Charme, an ihrer Seite glänzt Gijs Naber als Jakob Störr. In wei­te­ren Rollen sind die jun­ge Schweizerin Luna Wedler, Louis Garrel und Josef Hader zu sehen. Basierend auf dem gleich­na­mi­gen Roman des nobel­preis-nomi­nier­ten unga­ri­schen Autors Milán Füst zeich­net «The Story of My Wife» ein atmo­sphä­ri­sches Bild vom Europa der wil­den 1920er-Jahre und erzählt dabei eine so zeit­lo­se wie uni­ver­sel­le Geschichte über die Liebe mit all ihren Irrungen und Wirrungen. Eine tief­grün­di­ge, poe­ti­sche Film-Perle Ein Film von klas­si­scher Eleganz mit magisch-opu­len­ten Bildern.

Credits:

The Story of my Wife
HU / FR/ DE 2021, 169 Min., engl. OmU
Regie: Ildikó Enyedi
Buch: Ildikó Enyedi, nach dem Roman von Milán Füst
Kamera: MARCELL RÉV
Schnitt: KÁROLY SZALAI
mit: Léa Seydoux, Gijs Naber, Louis Garrel, Luna Wedler, Ulrich Matthes

Trailer:
THE STORY OF MY WIFE (Official Trailer, E/d)
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Bergman Island

ein Film von Mia Hansen-Løve. 

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Mit der klei­nen Autofähre, die vom grö­ße­ren Gotland auf das win­zi­ge Fårö führt set­zen sie über: Chris (Vicki Krieps) und Tony (Tim Roth), Filmemacher, Paar und Eltern einer Tochter, die bei den Großeltern geblie­ben ist. Denn die Eltern wol­len auf Bergmans Insel den Spuren des legen­dä­ren Regisseurs fol­gen, Inspiration fin­den und an neu­en Projekten arbei­ten. Doch dass sie aus­ge­rech­net im Bett schla­fen sol­len, in dem Bergman einst sei­nen legen­dä­ren Film „Szenen einer Ehe“ gedreht hat, der angeb­lich tau­sen­de Beziehungen been­de­te, stößt gera­de der deut­lich jün­ge­ren Chris übel auf.

Während ihr Mann Tony Inspiration spürt, fühlt sich Chris durch die Präsenz Bergmans ein­ge­schüch­tert, wäh­rend Tony pro­blem­los schreibt und im Bergman-Museum sei­ne Filme zeigt, stromert Chris ziel­los über die Insel und denkt mehr über sich und ihre Beziehung nach, als über ihren Film. Doch ist das nicht das­sel­be? Bald beginnt sie Tony von ihrem Projekt zu erzäh­len, der von der Filmemacherin Amy (Mia Wasikowska) han­delt, die für eine Hochzeit nach Fårö kommt und dort ihre Jugendliebe Joseph (Anders Danielsen Lie) wie­der trifft. Sie ver­brin­gen die Nacht mit­ein­an­der, doch es gibt kei­ne Zukunft für das Paar. Nicht zuletzt, weil Amy inzwi­schen ein Kind mit einem ande­ren Mann hat.

2007 starb Ingmar Bergman auf Fårö und ist auf dem klei­nen Kirchhof der Insel begra­ben. Sein ehe­ma­li­ges Wohnhaus bie­tet inzwi­schen Künstlern an, Zeit auf der Insel zu ver­brin­gen und an Projekten zu arbei­ten. Hier ver­brach­ten auch Mia Hansen-Løve und ihr lang­jäh­ri­ger Lebensgefährte, der Regisseur Olivier Assayas Zeit, arbei­te­ten so wie die Figuren in „Bergman Island“ an Projekten. Unzweifelhaft ist Hansen-Løves Film also auto­bio­gra­phisch, so wie die meis­ten ihrer bis­he­ri­gen Filme mehr oder weni­ger von Menschen aus ihrem nächs­ten Umfeld inspi­riert waren: „Eden“ von ihrem Bruder, „Alles was kommt“ von ihrer Mutter. Doch im Gegensatz zu vie­len Filmemachern, die glau­ben, dass es aus­reicht vom eige­nen Leben zu erzäh­len, um einen inter­es­san­ten Film zu dre­hen, ist Hansen-Løve bewusst, dass das nicht genug ist: Das per­sön­li­che Erlebnis muss zu einer uni­ver­sel­len Geschichte über­höht wer­den, um Allgemeingültigkeit zu erlangen.

Und so erzählt Mia Hansen-Løve zwar auf ver­schach­tel­te Weise von zwei Filmemacherinnen, die ohne Frage auch Teile ihres eige­nen Wesens, ihrer Gedanken und Überlegungen ver­kör­pern, die aber vor allem von uni­ver­sel­len Themen erzäh­len. Nicht zuletzt von der Vereinbarkeit von Familie und Karriere, dem gesell­schaft­li­chen Druck, sich zu ent­schei­den. Ein Mann wie Bergman – der heut­zu­ta­ge ohne Frage als alter, wei­ßer Mann bezeich­net wer­den wür­de – hat­te es da ein­fa­cher: Neun Kinder von sechs Frauen hat­te er, die bis ins Erwachsenenalter fast voll­stän­dig von den Frauen oder Dienstmädchen auf­ge­zo­gen wur­den. Nur so hat­te der Workaholic die Zeit, sich ganz sei­ner Kunst hin­zu­ge­ben, dut­zen­de Filme zu dre­hen und qua­si neben­bei noch am Theater zu inszenieren.

Auch Mia Hansen-Løve hat inzwi­schen ein Kind mit Assayas, von dem sie seit eini­gen Jahren getrennt ist, auch ihre Surrogate Chris und Amy befin­den sich in ähn­li­chen Situationen, auf die sie jedoch ganz unter­schied­lich reagie­ren. Wie sehr „Bergman Island“ auto­bio­gra­phisch ist, dar­über lässt sich reich­lich spe­ku­lie­ren. Vor allem aber ist Hansen-Løve ein wun­der­bar rei­cher Film über das Wesen einer (bzw. meh­re­rer) Künstlerinnen gelun­gen, die in einer oft nur schein­bar frei­en Welt nach sich selbst und ihrem Gleichgewicht suchen. Dass „Bergman Island“ zudem eine leich­te, ver­spiel­te Hommage an einen der Säulenheiligen des Kinos ist, macht ihn nur noch vielschichtiger.

Michael Meyns | programmkino.de

Credits:

FR/BE/SW/DE/MX 2021, 112 Min., engl. OmU
Regie & Buch: Mia Hansen-Løve
Kamera: Denis Lenoir
Schnitt: Marion Monnier
mit: Vicky Krieps, Tim Roth, Mia Wasikowska, Anders Danielsen Lie, Melinda Kinnaman, Joel Spira


Trailer:
Bergman Island – Official Trailer | HD | IFC Films
im Kino mit deut­schen Untertiteln
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Kurdisches Filmfilmfestival 2021: Experimentalfilmprogramm

Montag, 18.10. 2021, 19:00 EXPERIMENTAL PROGRAMM – [Tickets]
The Spot von Kani Kamil / 2:33’ / UK / 2015 Kooperationsprojekt zwi­schen Shero Abbas und Kani Kamil aus dem Jahr 2015 und Teil des Forschungsprojekts zur Not der Frauen im Südkurdistan. Die weib­li­che Hand behaup­tet sich als wahr­heits­ge­treu­er Geschichtenerzähler.
Personae von Havin al-Sindy/ DE / 2019/20/ 11’12“ Die Arbeit „Personae“ ist ein Prozess, wel­ches sich auf meh­re­ren Ebenen mit den Themen der Mehrsprachigkeit und der Beziehung beschäf­tigt und sich dabei per­for­ma­ti­ven und male­ri­schen Mittel bedient.
blue beard today’s tale von Khadija Baker / 15:00’ / CAN / 2021 Khadija Baker erzählt in ihrer Videoarbeit das fran­zö­si­sche Volksmärchen Blaubart aus femi­nis­ti­scher Perspektive, um den anhal­ten­den Missbrauch des weib­li­chen Körpers zu durch­bre­chen. 
Bad People, Bad News von Cemile Sahin / DE / 202140′ Historischer Ausgangspunkt für die essay­is­ti­sche Filminstallation Bad People, Bad News bil­det die Geschichte um das von Saddam Hussein 1989 errich­te­te Monument „Schwerter von Kadesia“. Ausgehend von der Entstehungsgeschichte des Monuments the­ma­ti­siert die Arbeit die Frage, wie Ideologien von Diktaturen ein Teil der Geschichtsschreibung wer­den.
Pre-Image (Blind as the Mother Tongue) von Hiwa K / ENG / 18 min / 2017
To remem­ber, some­ti­mes you need other archaeo­lo­gi­cal tools says the voice over in Hiwa K’s Pre-Image (Blind as the Mother Tongue). The video depicts the artist wal­king across fields, was­te­lands, estates, going from Turkey to Athens and then to Rome, a path that mir­rors his own jour­ney as a child, when he fled Iraqi Kurdistan and rea­ched Europe by foot. His “Pre-images” are frag­ments of a path who­se final desti­na­ti­on is uncertain.

Am Dienstag, den 19.10.2021, 19:00 Uhr Kurzfilmwettbewerb, Block II – [Tickets]
90 min Ausgewählte Kurzfilme von auf­stre­ben­den kur­di­schen und inter­na­tio­na­len Filmemacher*innen lau­fen in dem Kurzfilmwettbewerb des 11. Kurdischen Filmfestivals. Mit Filme von: Kardinal Hemn, Saman Mustefa, Mehmet Karagöz, Dana Karim, Jwan Abdo, Asghar Laei, Mohammad Farajzadeh 

mehr: https://kurdisches-filmfestival.de/

Walchensee forever

ein Film von Janna Ji Wonders.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Regisseurin Janna Ji Wonders erzählt die Geschichte der Frauen ihrer Familie über ein Jahrhundert. Verbindendes Element und stil­ler Chronist ist der baye­ri­sche Walchensee, an dem die Familie 1920 ein Ausflugscafé eröff­net, das bis heu­te exis­tiert. Die impo­san­te Gründerin Apa ver­macht ihrer Erstgeborenen Norma das Unternehmen, das die­se ohne zu kla­gen bis ins hohe Alter führt. Normas Töchter Anna und Frauke ver­las­sen den See. Sie wol­len sich befrei­en und berei­sen als Musikerinnen die Welt. Doch sie keh­ren zurück und leben in einer Kommune um Rainer Langhans. Frauke, die sich nach der gro­ßen Liebe sehnt, kommt auf mys­te­riö­se Weise ums Leben und wird für die Hinterbliebenen zum Irrlicht. Die rast­lo­se Anna zieht in die USA, wo sie unge­plant eine Tochter bekommt. Von den Schatten der Vergangenheit geru­fen, kehrt sie mit Tochter Janna zurück an den Walchensee, wo Großmutter Norma für die Enkeltochter zur wich­ti­gen Bezugsperson wird. Als Regisseurin sucht Janna Antworten auf die Fragen wie: Was ist Heimat? Wie sehr prägt mich mei­ne Herkunft? Was zählt am Ende wirk­lich? Und fin­det Anhaltspunkte in der Verbundenheit von vier Generationen von Frauen mit unter­schied­li­chen Lebenskonzepten.

Credits:


DE 2020, 110 Min., dt, engl. OmU,
Regie: Janna Ji Wonders
Kamera: Janna Ji Wonders, Sven Zellner, Anna Werner
Schnitt: Anja Pohl

Trailer:
WALCHENSEE FOREVER – offi­zi­el­ler Trailer [HD]
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Online für Anfänger

ein Film von Benoît Delépine & Gustave Kervern. 

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

In einer Provinzvorstadt sind drei Nachbar*innen mit den Auswirkungen der schö­nen neu­en Social-Media-Welt kon­fron­tiert. Marie, die von den Familienbeihilfen ihres Gatten lebt, hat Angst, wegen eines Sextapes den Respekt ihres Sohnes zu ver­lie­ren. Bertrand kann bei Werbeanrufen nicht Nein sagen und kämpft um das Wohl sei­ner Tochter, die im Internet gemobbt wird. Christine steht durch ihre TV-Serien-Abhängigkeit vor dem Nichts und fragt sich, war­um ihre Bewertung als Uber-Fahrerin nicht steigt. Die drei Einzelkämpfer*innen sind unfä­hig, allein eine Lösung für ihre Probleme zu fin­den, bis sie sich zusam­men­tun und den Tech-Giganten den Kampf ansa­gen. Effacer l’historique, vor­der­grün­dig eine Situationskomödie, beschreibt tref­fend wie weni­ge ande­re Filme die Realität im 21. Jahrhundert: Es gibt weder Geschichte noch Geschichten, weder links noch rechts. Statt eines Vorgesetzten, der unse­ren Gehorsam ein­for­dert, beherrscht uns eine unsicht­ba­re, Daten spu­cken­de Cloud und ver­schlingt unse­re Identität. Delépines und Kerverns drit­ter Berlinale-Beitrag ist eine empa­thi­sche Hommage an die „Abgehängten“, die uns und unse­rer Wahrnehmung der Wirklichkeit einen Spiegel vorhalten.

Silberner Bär 70. Berlinale

Credits:

Effacer l’historique
FR 2020, 110 Min., frz. OmU,
Regie: Benoît Delépine & Gustave Kervern
Kamera: Hugues Poulain
Schnitt: Stéphane Guillot Elmadjian
mit: Blanche Gardin, Denis Podalydès, Corinne Masiero


Trailer:
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Ghosts

ein Film von Azra Deniz Okyay. 

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]]

Ein belie­bi­ger Tag in der nahen Zukunft, ein Stromausfall legt das Leben in der tür­ki­schen Metropole Istanbul still, auch wenn die Werbung im Autoradio eine unbe­schwer­te Zukunft ver­spricht. Nicht in den ele­gan­ten Vierteln der Innenstadt spielt „Ghosts“, nicht dort, wo wohl­ha­ben­de Istanbuler einem west­li­chen Lebensstil nach­ei­fern, son­dern am Rand der Megalopolis, in Vierteln, die von bau­fäl­li­gen Gebäuden geprägt sind, vom täg­li­chen Kampf ums Überleben erzählen.

In die­sen Straßen leben die vier Protagonisten von „Ghosts“, drei Frauen und ein Mann, deren Wege sich im Verlauf der 90 Minuten immer wie­der kreu­zen. Da ist Didem (Dilayda Gunes), die davon träumt, durch ihre Leidenschaft zum Tanzen Geld zu ver­die­nen, die sich momen­tan aber noch mit Gelegenheitsjobs durch­schlägt. Iffet (Nalan Kurucim) arbei­tet bei der Müllabfuhr und ver­sucht mit zuneh­men­der Verzweiflung Geld auf­zu­trei­ben, um ihren Sohn zu unter­stüt­zen, der im Gefängnis sitzt und sich Angriffen aus­ge­setzt sieht. Die Aktivistin Ela (Beril Kayar) kämpft gegen die betrü­ge­ri­schen Machenschaften der öffent­li­chen Verwaltung, die zur Gentrifizierung der Stadt bei­trägt und lang­jäh­ri­ge Mieter aus ihren Wohnungen ver­treibt. Ein Teil die­ses Systems ist Rasit (Emrah Ozdemir), der zu völ­lig über­höh­ten Preisen Räume an syri­sche Flüchtlinge vermietet.

Viele Aspekte des Lebens in der moder­nen Türkei reißt Azra Deniz Okyay in ihrem Debütfilm an, vom Umgang mit den Flüchtlingen aus dem benach­bar­ten Syrien, über die miso­gy­nen Strukturen, die Frauen glei­cher­ma­ßen sexua­li­sie­ren, ihnen aber auch vie­le Freiheiten vor­ent­hal­ten, bis zum Kampf gegen Korruption und Machtmissbrauch, der nach fast einem Jahrzehnt der zuneh­mend auto­kra­ti­schen Herrschaft von Recep Tayyip Erdoğan immer stär­ker wird.

Zwangsläufig blei­ben man­che Ansätze sche­ma­tisch, wer­den ein­zel­ne Figuren weni­ger viel­schich­tig gezeich­net als ande­re, wirkt man­che Metapher – der Stromausfall, der droht, die Gesellschaft in Dunkelheit ver­sin­ken zu las­sen! – weni­ger sub­til als ande­re. Doch die über­zeu­gen­den Momente über­wie­gen bei wei­tem. Gerade für einen Debütfilm gelingt es Okyay außer­or­dent­lich gut, die Geschichten, die Schicksale ihrer vier Protagonisten zu gewich­ten, rhyth­misch zwi­schen den Episoden hin und her zu schnei­den und so ein viel­schich­ti­ges Porträt der moder­nen Türkei zu entwickeln.

So pes­si­mis­tisch ihr Blick auf ihr Land oft auch wirkt, so vie­le Missstände ange­deu­tet wer­den, so rück­stän­dig gera­de die Rolle der Frau oft wirkt: Hoffnungslos wirkt die Situation nicht. Gerade im Tanz fin­det Dilem und mit ihr der Film ein Ventil, ihre Energie aus­zu­le­ben, sich zu ver­lie­ren und für Momente alle Sorgen zu ver­ges­sen. Wie es nach die­sem einen Tag mit den Figuren wei­ter­geht bleibt unklar, ihr Weg ist eben­so offen wie der Weg, den die Türkei in den nächs­ten Jahren ein­schla­gen wird.

Michael Meyns | programmkino.de


Credits:

Hayaletler
TK/FR 2020, 90 Min., türk. OmU
Regie & Buch: Azra Deniz Okyay
Darsteller: Dilayda Gunes, Nalan Kurucim, Beril Kayar, Emrah Ozdemir, Ahmet Turan, Ihsan Ozgen, Ekin Aribas

Trailer:
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Titane

ein Film von Julia Ducournau. 

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Schon mit ihrem Debütfilm „Raw“ spal­te­te die jun­ge fran­zö­si­sche Regisseurin Julia Ducournau die Geister, damals vari­ier­te sie Motive des Zombiefilms, bedien­te sich quee­rer Ästhetik und blieb eben­so rät­sel­haft, wie sie es auch nun, in ihrem zwei­ten Film „Titane“ ist. Es beginnt mit einem ner­ven­den Kind namens Alexia auf dem Rücksitz eines Autos, der Vater ist abge­lenkt und baut einen Unfall. Schwer ver­letzt über­lebt das Kind und bekommt eine Platte aus Titan in den Kopf gepflanzt.

Jahre spä­ter ist Alexia erwach­sen und wird vom Model Agathe Rousselle gespielt, deren andro­gy­ne Gestalt andeu­tet, wie sehr es fort­an um Fragen von Geschlechtszugehörigkeit, Transformation, Diversität gehen wird. Alexia arbei­tet als Tänzerin auf Autoshows, räkelt sich ver­füh­re­risch auf den Motorhauben eben­so ver­füh­re­ri­scher Autos, nimmt danach ger­ne einen lech­zen­den Zuschauer zum Sex mit – und tötet ihre Lover mit dem Stich einer lan­gen Haarnadel direkt ins Gehirn.

Wie lan­ge sie schon so agiert bleibt offen, nach einem aus­ufern­den Gemetzel ist ihr die Polizei jedoch so sehr auf der Spur, dass sie die Identität wech­selt. Sie gibt sich als Adrien aus, ein Junge, der seit Jahren ver­misst wird. Er war der Sohn von Vincent (Vincent Lindon), der als Kapitän einer Feuerwache schon beruf­lich mit Testosterongeschwängerten Männern zu tun hat, sich sel­ber Steroide spritz und sei­nen altern­den, fal­ti­gen Körper mit Klimmzügen strafft.

Vincent nimmt Alexia als Sohn auf, auch wenn er schnell ahnt, dass die­ser Sohn nicht der ist, den er einst ver­lo­ren hat. Zumal Alexias Bauch immer dicker wird und sich nur noch mit gro­ßen Mühen und nicht uner­heb­li­chen Scherzen abbin­den lässt, denn Alexia ist schwan­ger, ver­mut­lich vom Sex mit einem Auto. Wenn die sich zuneh­mend ver­än­dern­de Frau blu­tet, tropft eine schwar­ze Flüssigkeit aus den Wunden, die an Maschinenöl erin­nert und die Frage auf­wirft, was Alexia eigent­lich ist, vor allem aber, ob es für Vincent eine Rolle spielt, wen er da eigent­lich liebt.

Bezüge zu den Body-Horror-Filmen von David Cronenberg, nicht zuletzt „Crash“, schei­nen eben­so deut­lich zu sein wir Referenzen zu Filmen wie Shinya Tsukamotos “Tetsuo: The Iron Man“, vor allem aber auch außer­fil­mi­schen Debatten über Diversität, Transsexualität oder toxi­scher Männlichkeit. Julia Ducournaus „Titane“ mutet oft wie ein Film an, der wie dazu gemacht ist, in Seminararbeiten ana­ly­siert zu wer­den, als Beispiel für ein Kino her­zu­hal­ten, dass auf moder­ne, gewag­te Weise den Zeitgeist spiegelt.

Kein Wunder, bleibt „Titane“ in sei­nem wil­den, mal ver­stö­ren­den, mal mit­rei­ßen­den, mal albern­den Spiel mit Genrebildern, exzes­si­ver Gewalt und glei­ßen­den Aufnahmen mensch­li­cher und maschi­nel­ler Körper doch so offen – man­che wer­den sagen: belie­big – dass sich unzäh­li­ge Lesarten anbie­ten. Ein Film wie ein Rorschach-Test also, ein Film, der von jeder Zuschauerin, jedem Zuschauer anders gele­sen wer­den wird, aber in jedem Fall einen Nerv der Zeit trifft.

Michael Meyns | programmkino.de

Cannes 2021 – Palme d’or

Credits:

FR 2021, 108 Min., frz. OmU
Regie & Buch: Julia Ducournau
Kamera: Ruben Impens
Schnitt: Jean-Christophe Bouzy
mit: Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Garance Marillier, Laïs Salameh, Bertrand Bonello, Dominique Frot


Trailer:
Titane (Deutscher Trailer ) – Julia Ducournau, Agathe Rousselle , Vincent Lindon
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Le Prince

ein Film von Lisa Bierwirth. 

[Credits] [Termine] [Trailer]

Ich habe mich seit hun­dert Jahren nicht mehr bewor­ben. Ich weiß gar nicht mehr wie das geht“, gesteht Kuratorin Monika (Ursula Strauss) ihrer Freundin. Dass der fast 50jährigen das jetzt bevor­steht, weiß die agi­le Kulturschaffende erst seit kur­zem. Völlig über­ra­schend erfährt sie vom Weggang ihres Vorgesetzten. Mit Peter (Alex Brendemühl), dem Leiter der Frankfurter Kunsthalle fühl­te sie sich eigent­lich freund­schaft­lich ver­bun­den. „Wann woll­test du mir das sagen“, stellt sie ihn frus­triert zur Rede. Gedankenverloren läuft sie an die­sem Abend durchs Frankfurter Bahnhofsviertel.

Ein Abend mit einer fol­gen­schwe­ren Begegnung. Unversehens gerät sie in eine Razzia. Eigentlich woll­te sie sich nur eine Schachtel Zigaretten holen. Doch als die Polizei das Lokal nach Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung durch­kämmt lan­det sie mit Joseph (Passi Balende) im Hinterhof. Der afri­ka­ni­sche Geschäftsmann aus dem Kongo muss sich ver­ste­cken. Denn auch er ist ohne Papiere. Dass er sich bedankt, sie zusam­men einen Kaffee trin­ken und ihre Telefonnummern aus­tau­schen, ver­gisst Monika fast wieder.

Doch Joseph mel­det sich bei ihr. Mit dem smar­ten 38jährigen ent­deckt sie im „Cafe Denis“ die pul­sie­ren­de afri­ka­ni­sche Diaspora. „Wenn ich afri­ka­ni­sche Musik und Vibes brau­che kom­me ich hier­her“, ver­rät er. Josef han­delt mit Diamanten und sucht in der Main-Metropole Investoren, die eine Mine im Kongo finan­zie­ren. Bis es so weit ist, ver­sucht er sich mit Import- und Exportgeschäften mehr oder weni­ger über Wasser zu hal­ten. „Wieso ist eine so schö­ne Frau wie du allein?“, schmei­chelt der selbst­si­che­re Charmeur. Und gibt sich gleich selbst die Antwort. „Die Männer haben Angst vor dir. Ich habe kei­ne Angst.“

Und tat­säch­lich ist die selbst­be­wuss­te, elo­quen­te Frau nicht auf den Mund gefal­len. Nicht nur ein­mal eckt sie mit ihren ehr­li­chen Kommentaren in der Kunstszene an. Mit Joseph beginnt sie ein lei­den­schaft­li­ches Verhältnis und hofft, dass ihre Liebe stark genug ist zu bestehen. Doch schon bei der ers­ten Essenseinladung mit ihren Freunden aus der Kunstszene knirscht es. Freudestrahlend erzählt Monika vom Diamantendeal ihres Freundes. „Blutdiamanten“, fragt ent­setzt ihre Freundin Ursula. Peinliches Schweigen folgt.

Als Blutdiamanten wer­den Diamanten bezeich­net, die in Konfliktgebieten unter aus­beu­te­ri­schen Bedingungen geför­dert wer­den. Der Gewinn geht in der Regel an Guerilla-Bewegungen oder loka­le Warlords. „Ich brau­che dei­ne Hilfe nicht, ich brau­che Respekt“, wehrt Joseph sich. Dass Monika ohne ihn zu fra­gen, von sei­nen Plänen erzählt, nimmt er ihr übel. Aber die­ses Missverständnis lässt sich noch klä­ren. Doch mit zuneh­men­der Nähe wird ihre Situation schwie­ri­ger. Immer wie­der ver­schwin­det Joseph. Sein Freund Ambara (Nsumbo Tango Samuel) bit­tet Monika um Geld, um ihn aus dem Gefängnis zu holen. Und auch mit der Idee zu hei­ra­ten las­sen sich die Probleme nicht ein­fach aus der Welt schaffen.

Inspiriert von einer rea­len Geschichte geht Regisseurin Lisa Bierwirth lebens­nah der Frage nach, wie sich post­ko­lo­nia­le Strukturen und Machtverhältnisse in einer euro­pä­isch-afri­ka­ni­schen Beziehung wider­spie­geln. Auch wenn ihr emo­tio­nal berüh­ren­des Drama es nicht leis­ten kann alle poli­ti­schen Hintergründe mit­zu­lie­fern, regt es an den euro­zen­tri­schen Blick zu wei­ten und das immer noch schwe­len­de Kolonialerbe kri­tisch zu hinterfragen.

Luitgard Koch |programmkino.de


Credits:

DE 2021, 125 Min. OmU
Regie: Lisa Bierwirth
Drehbuch: Lisa Bierwirth, Hannes Held
Kamera: Jenny Lou Ziegel
Schnitt: Bettina Böhler
mit: Ursula Strauss, Passi Balende, Alex Brendemühl, Victoria Trauttmansdorff

Trailer:
LE PRINCE (Offizieller Trailer) | AB 30.09. IM KINO
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