Rose und ihr älterer Bruder Sam haben eine enge Bindung. Als Sam der Vergewaltigung beschuldigt wird, soll Rose im Rahmen der Ermittlungen gegen ihn aussagen. Das stellt sowohl die Beziehung der beiden als auch Roses moralische Integrität auf die Probe. Regisseurin Sarah Miro Fischer erkundet in Schwesterherz eine innige Geschwisterbeziehung. Sie untersucht, inwiefern die Nähe zu einer Person den Blick auf die Realität verstellen kann und welche Ereignisse die Kraft haben, auch die engsten Bindungen zu zerstören. In ihrer Arbeit mit den Schauspieler*innen legt sie besonderen Wert auf körperlichen Ausdruck, um Geschichten auch jenseits des gesprochenen Worts erzählen zu können.
Credits:
DE/ES 2025, 96 Min., Deutsch, Englisch OmU Regie: Sarah Miro Fischer Kamera: Selma von Polheim Gravesen Schnitt: Elena Weihe mit: Marie Bloching, Anton Weil, Proschat Madani, Laura Balzer, Jane Chirwa
Masha, ein belarussisches Model, träumt von einer Karriere in China. Misha arbeitet in einer Minsker Leichhalle und erweckt die Toten in seinen Ölgemälden zum Leben. Die beiden Außenseiter fühlen sich auf ungewöhnliche Weise voneinander angezogen und streifen gemeinsam durch die warmen Sommernächte. Misha eröffnet Masha eine unbekannte Welt, die ihr Gefühl von Schönheit und Sterblichkeit auf die Probe stellt. WHITESNAIL ist die fragile Liebesgeschichte zweier Außenseiter, die erkennen, dass sie nicht alleine auf der Welt sind.
Ein alter Ginkgobaum im botanischen Garten in Marburg steht im Mittelpunkt dieses poetisch angehauchten filmischen Essays. Der Baum ist stiller Zeuge dreier Lebensgeschichten zu unterschiedlichen Zeiten. Im Jahr 1908 versucht die erste Studentin der Uni Marburg, Grete (Luna Wedler), mit ihrer Kamera verborgene Naturmuster zu entdecken. 1972 erfährt der Student Hannes (Enzo Brumm) durch die stille Begegnung mit einer Geranie eine innere Wandlung. Und 2020 reist ein Neurowissenschaftler (Tony Leung Chiu-wai) aus Hongkong an, um ein ungewöhnliches Experiment an und mit dem Ginkgobaum vorzunehmen. Sein Ziel: Tiefere Einblicke in die menschliche Seele zu erlangen.
In „Silent Friend“ ist es kein menschlicher Charakter, der die einzelnen Elemente miteinander verbindet. Es sind die Pflanzen und vor allem der majestätisch anmutende, fast 25 Meter hohe Ginkgobaum, der als Bindeglied der drei Episoden fungiert. Allein dieser Umstand macht „Silent Friend“ schon rein inhaltlich ungewöhnlich. Der Baum ist stummer Zeuge der Zeit, die unaufhörlich vorbeirinnt und der Leben, die sich vor ihm abspielen.
Überhaupt nimmt Ildikó Enyedi das „Silent“ im Filmtitel mehr als wörtlich. Der erste abendfüllende Film der ungarischen Regisseurin und Drehbuchautorin seit vier Jahren ist geprägt von Ruhe, Entschleunigung und einer andächtigen Aura. Sie erzählt langsam und besonnen. Ergänzend kommen, passend dazu, lange Einstellungen und Kamerafahrten sowie außergewöhnliche Blickwinkel und Perspektiven hinzu. Wenn Enyedi zwischen den Ästen hindurchfilmt, regelrecht in die Blätter hineinzoomt und verschiedener Pflanzen mal aus der Ferne, mal in Close-Ups zeigt, dann kommen wir der Natur (optisch) auf besondere Weise nah.
Die Kameraarbeit von Gergely Pálos und der gesamte visuelle Stil zählen ohnehin zu den großen Stärken. Das Besondere: Jede Episode ist in einem anderen Filmmaterial (16mm, 35mm, digital) gehalten und die Optiken der jeweiligen Zeitebenen variieren stark. So unterscheiden sich die Episoden nicht nur inhaltlich und thematisch, sondern ebenso in ihrer Wirkung und sorgfältig durchkomponierten Ästhetik.
Einige Gemeinsamkeiten zwischen den Figuren der lose miteinander verknüpften Einzelgeschichten gibt es allerdings durchaus. Sie alle, von Grete über den Studenten bis hin zum Neurowissenschaftler, stellen sich folgende Fragen: Was nehmen Pflanzen wahr? Und wie kann man mit ihnen in Kontakt treten bzw. kommunizieren? Die Kernfrage, die Enyedi antreibt, geht nochmals weiter und tiefer. Sie erforscht in „Silent Friend“ zuvorderst die Aspekte der (menschlichen) Verbundenheit mit der Natur und wie sich die Wechselwirkungen zwischen den Lebewesen genau manifestieren. Die Pflanze als beeindruckendes, sensitives Geschöpf, das dem Menschen Kraft und Halt geben kann – nach der Betrachtung von „Silent Friend“ hallt vor allem diese Botschaft lange nach.
Ebenso bleiben die überzeugenden darstellerischen Leistungen im Gedächtnis. Allen voran Luna Wedler im historischen Erzählstrang und Tony Leung Chiu-wai faszinieren mit feinfühligen, nuancierten Performances. Mit würdevoller Zurückhaltung agieren sie in ihren Rollen und lassen den Pflanzen Raum für Entfaltung und, im wahrsten Sinne, Wachstum. Björn Schneider | programmkino.de
Credits:
DE/HU/FR 2025, 147 Min., deutsch, englische OmU Regie: Ildikó Enyedi Kamera: Gergely Pálos Schnitt: Károly Szala mit: Tony Leung Chiu-wai, Luna Wedler, Enzo Brumm, Sylvester Groth, Martin Wuttke, Johannes Hegemann, Rainer Bock, Marlene Burow, Léa Seydoux
Ein einfacher Unfall, Gewinner der Goldenen Palme von Cannes, ist eine furchtlose Leistung des Filmemachers Jafar Panahi – zugleich hochpolitisch und zutiefst menschlich. Mit unerbittlicher Klarheit stellt der Film moralische Fragen nach Wahrheit und Ungewissheit, Rache und Gnade. Als der Automechaniker Vahid zufällig auf den Mann trifft, der ihn mutmaßlich im Gefängnis gefoltert hat, entführt er ihn, um Vergeltung zu üben. Doch der einzige Hinweis auf Eghbals Identität ist das unverkennbare Quietschen seiner Beinprothese. Auf der Suche nach Gewissheit wendet sich Vahid an einen zerstreuten Kreis anderer, inzwischen freigelassener Opfer. Doch je tiefer sie in ihre Vergangenheit eintauchen und je mehr ihre unterschiedlichen Weltanschauungen aufeinanderprallen, desto größer werden die Zweifel: Ist er es wirklich? Und was hieße Vergeltung überhaupt?
„Die Figuren des Films sind zwar fiktiv, doch die Geschichten, die sie erzählen, basieren auf realen Ereignissen, die von echten Gefangenen erlebt wurden. Echt ist auch die Vielfalt dieser Figuren und ihrer Reaktionen. Einige werden sehr gewalttätig und von Rachegelüsten getrieben. Andere wiederum versuchen, einen Schritt zurückzutreten und über langfristige Strategien nachzudenken. Einige waren stark politisiert – oder wurden es. Andere waren es überhaupt nicht und wurden fast zufällig verhaftet. Letzteres trifft auf Vahid, die Hauptfigur, zu: Er war ein Arbeiter, der einfach nur seinen Lohn einforderte. Das Regime macht keinen Unterschied zwischen diesen Menschen. Jede der anderen Figuren repräsentiert eine der vielen, mehr oder weniger fest organisierten Oppositionsgruppen. Diese Gruppen geraten oft aneinander, sogar hinter Gittern. Sie alle sind sich einig, dass sie das Regime ablehnen, aber darüber hinaus gehen die Meinungen auseinander. Seit dem Tod von Mahsa Amini und dem Aufkommen von „Frau, Leben, Freiheit” hat sich die Ablehnung des Regimes weit verbreitet. Oft wissen die Menschen jedoch nicht, womit sie es ersetzen sollen. Das sieht man heute deutlich: Zum Beispiel zeigen sich viele Frauen nun ohne Hidschab in der Öffentlichkeit. Eine solche Form des massiven zivilen Ungehorsams war vor wenigen Jahren noch undenkbar. Die Szenen im Film, die mit unverschleierten Schauspielerinnen auf der Straße gedreht wurden, spiegeln jedoch die heutige Realität wider. Es sind die iranischen Frauen, die diesen Wandel herbeigeführt haben.„ Jafar Panahi
Credits:
Yek tasadef sadeh یک تصادف ساده, IR/FR/LU 2025, 102 Min., farsi OmU Regie: Jafar Panahi Kamera: Amin Jafari Schnitt: Amir Etminan mit: Vahid Mobasseri, Maryam Afshari, Ebrahim Azizi, Hadis Pakbaten
François Ozon greift einen Stoff aus den 1940er-Jahren auf: den existenzialistischen Romanklassiker Der Fremde von Albert Camus. Darin wartet ein junger Franzose in den 1930er-Jahren in Algerien in einer Gefängniszelle auf seine Hinrichtung, weil er einen Mann getötet hat. Ozon entfaltet das Drama um den seinem Tod entgegensehenden Meursault (Benjamin Voisin) und die in Rückblenden sich entfaltenden Ereignisse, die zu dem Mord geführt haben, in schwarz-weißen Bildern, die in ihrer fast überirdischen Schönheit in ihren Bann schlagen und zugleich Rätsel aufgeben, weil sie in einer seltsamen, spannungsvollen Reibung zur Geschichte stehen.
Der Kamerablick, der ein geradezu erotisches Verhältnis zu der Welt an den Tag legt, scheint ein Widerspruch zu Meursaults Apathie zu sein. Während der junge Mann durch sein Leben treibt, ohne von dem berührt zu werden, was er erlebt – vom Tod der Mutter zu Beginn über die Affäre mit einer ihn liebenden jungen Frau bis letztendlich zum impulsiven Akt der Tötung –, ist der Blick der Kamera umso zugeneigter. Die sparsam, aber sehr wirkungsvoll eingesetzte Musik versucht hartnäckig, Meursaults Kälte gegenüber Menschen und Dingen etwas entgegenzusetzen. Während es in dem Roman um einen Menschen geht, der nichts wertschätzen kann, weil er den Glauben an eine transzendente Dimension verloren hat und jenseits der Dinge keinen höheren Sinn erkennen kann, scheint Ozon diese Materialität durchaus zu genügen, um die Welt zu lieben. Felicitas Kleiner | Filmdienst
Credits:
L’Étranger FR 2025, 120 Min., französische OmU Regie: François Ozon Kamera: Manu Dacosse Schnitt: Clément Selitzki mit: Benjamin Voisin, Rebecca Marder, Pierre Lottin, Denis Lavant, Swann Arlaud
Das Dorf Pirin liegt am „äußersten Rand Bulgariens“ und ist Schauplatz einer Trilogie, deren zweiter Teil, Mayor Shephard Widow Dragon (2021), während „achtung Berlin“ schon bei uns zu sehen war. Im letzten Teil offenbaren sechs Haustiere die dunkle Seite menschlicher Ängste und des Aberglauben: eine Katze, ein Hund, ein Esel, eine Ziege, ein Pferd, ein Lamm. Stille Beobachter ist ein filmisch äußerst origineller Film über imaginäre Welten in geschlossenen Gemeinschaften, irgendwo zwischen Dokumentarfilm und Folk-Horror – alles aus der stillen Perspektive der Tiere betrachtet. Eine Witwe vermutet die Seele des verstorbenen Mannes in ihrer Katze Matsa, ebenso wie der Esel Kirka der verzauberte Sohn seines Halters in anderer Gestalt sein könnte. Die Besitzer müssen sehr auf diese Tiere aufpassen, da andere im Dorf in ihnen gefährliche Vampire vermuten, wie alle Tiere ohnehin kein leichtes Leben haben und stets durch die Menschen gefährdet sind. „Direkt in anfänglichen Close-Ups zeigen Teile von Tiergesichtern die sechs Stars von Silent Observers. Ziegennase, Eselsauge, Hundeschnauze, Pferdenüstern, Katzenöhrchen und Schafwolle werden nacheinander in einem bewusst verkleinerten, und damit fokussierten Format präsentiert, begleitet von traditionellem Frauengesang, die Dorfszenerie getüncht in intensives Blau-Orange. Von vornherein experimentell, geben die ersten Minuten den ästhetischen Ton an, der in diesem Film bis zuletzt gehalten wird – meditativ, natürlich, mehr auf Stimmung bedacht als auf ein kohärentes Narrativ. Einen stringenten Faden bilden jedoch die bemerkbaren Persönlichkeiten der genannten Tiere, der Umgang der Dorfbewohnenden mit ihnen sowie die teils herzliche, teils beklemmende Atmosphäre in Pirin.“ Elias Schäfer | film-rezensionen.de
STILLE
Credits:
DE/BG 2024, 95 Min., bulgarische OmU Regie: Eliza Petkova Kamera: Constanze Schmitt Schnitt: Eliza Petkova, Hannes Marget
Audiodeskriptionen, Untertitel und Hörverstärkung mit der Greta App
„Auf so poetische wie zärtliche Weise schildert Yi Yi die Lebens- und Gefühlswelten einer Familie, in der die Generation der Großeltern, der Kinder und Enkel zusammenleben. Der Film beginnt mit der skeptisch beäugten Hochzeit von Min-Mins jüngerem Bruder und seiner ungewollt schwangeren Freundin. Am Rande der Feier trifft Min-Mins Ehemann auf eine Ex-Freundin, die er vor 30 Jahren abrupt verlassen hatte – eine Begegnung, die ihn in eine tiefe Sinnkrise stürzt. Kurz darauf gerät Ying-Ying, die Tochter der beiden, in eine fatale Gefühlslage, während ihr jüngerer Bruder Tang-Tang sein Interesse für die Fotografie entdeckt – und für eine Mitschülerin, die ihn in der Schule schikaniert. Die parallelen, sich immer wieder berührenden Handlungsstränge sind Teil einer komplexen Erzählung über menschliche Verhaltensweisen und Schicksale, über Bedauern und Hoffnung, Schuld und Erlösung in Taipeh am Ende des 20. Jahrhunderts. Edward Yang ist als einer der zentralen Vertreter des Taiwan New Cinema untrennbar mit der in den 1980er Jahren einsetzenden ästhetischen Erneuerung des taiwanischen Kinos verbunden. Seine Filme spiegeln die spezifisch taiwanische Erfahrung von Exil, Autoritarismus und Liberalisierung sowie die Diskrepanz zwischen konfuzianischer und westlich orientierter Moderne. Die formale Kraft und Modernität seiner Filme haben Taiwan zu einem der aufregendsten Orte des Weltkinos gemacht.“ Jendrik Walendi | dhm
Yi Yi, für den Yang bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2000 den Regiepreis gewann, war sein letzter Film, bevor er 2007 mit 60 Jahren an Krebs starb. „Ich möchte meine Sichtweise niemandem aufzwingen. Ich möchte die Dinge so natürlich und neutral wie möglich darstellen und es den Zuschauern überlassen, sich ihre eigene Meinung zu bilden“, so erklärt Yang, warum er den Blick aus der Distanz liebt: um die Stille oder unangenehmen Momente, die sich im Inneren abspielen, besser darstellen zu können.
Credits:
Yi Yi – A One and a Two TW/JP 2000, 173 Min., Taiwanesisches Mandarin, Japanisch OmU Regie: Edward Yang Kamera: Weihan Yang Schnitt: Bowen Chen mit Kelly Lee, Jonathan Chang, Niazhen Wu, Elaine Jin, Issey Ogata
Zu Hause, in den Augen ihrer muslimischen Familie, ist die 19-jährige Fatima eine gute Tochter: Sie betet, hat Bestnoten und ein entspanntes Verhältnis zu ihren Eltern und den beiden älteren Schwestern. In der Schule aber raucht sie (obwohl sie Asthma hat) und hängt mit den größten Rabauken ab. Bei den homophoben Sprüchen ihrer Kumpels ist sie still – obwohl sie selbst längst weiß, dass sie wahrscheinlich lesbisch ist. Nachdem sich Fatima per Dating-App zum ersten Mal mit anderen Frauen trifft und dabei Ji-Na (Park Min-ji) kennenlernt, beginnt für sie der lange, steinige Weg raus aus dem „Schrank“, der bei Fatima eher ein Kokon ist.
Regisseurin Hafsia Herzis zweiter Langfilm DIEJÜNGSTETOCHTER (frz. La petite dernière) basiert auf dem gleichnamigen autofiktionalen Roman der algerisch-französischen Autorin Fatima Daas. Die Heldin des Films ist in keiner Welt richtig zu Hause, wächst auf inmitten unauflösbarer Widersprüche. So verschlossen ist sie, dass sie selbst die Zuschauenden stets auf Distanz hält und es ihnen schwer macht, einen richtigen Zugang zu ihr zu finden. Sie lügt ihre Dates und Freund*innen an und hat auf Schritt und Tritt Angst, enttarnt zu werden. Im Sommer mit ihrer ersten großen Liebe, der im gemeinsamen Besuch einer CSD-Veranstaltung mündet, blüht sie erstmals auf, doch das Glück ist nicht von Dauer.
Herzi erzählt elliptisch und in scharf konturierten Sequenzen von Fatimas Selbstfindung. Der Film ist gespickt mit herausragenden filmischen Momenten: das Gespräch mit dem Imam etwa, der ihr vorbetet, warum ihre disparaten Lebenswelten sich nie vereinbaren lassen werden, oder der Versuch, sich gegenüber ihrer liebevollen Mutter zu outen. Schön, dass diese Geschichte für ihr lesbisches Liebespaar nicht nur Tragik, sondern auch ein Quäntchen Hoffnung bereithält.
Eva Szulkowsk | indiekino
Credits:
La petite dernière DE/FR 2025, 106 Min., Französisch, Arabisch OmU Regie: Hafsia Herzi Kamera: Jérémie Attard Schnitt: Géraldine Mangenot mit Nadia Melliti, Ji-Min Park, Aloïse Sauvage, Nemo Schiffman, Sophie Garagnon
Audiodeskriptionen, Untertitel und Hörverstärkung mit der Greta App
Trailer:
DIEJÜNGSTETOCHTER | Trailer OmU | Ab 25.12. im Kino!
Der Film wird kontrovers gesehen – manche finden sogar, dass man zum Schluss, wenn der Mann alt und krank ist, Mitleid mit dem „Todesengel von Auschwitz” bekommt. Mir ging es nicht so, denn August Diehl verkörpert Mengele von Anfang bis Ende als inhuman, arrogant und selbstmitleidig. Serebrennikov verfilmt Mengeles Zeit in Lateinamerika (mit einigen Abstechern zurück nach Deutschland) nach seiner Flucht über die „Rattenlinie” als beklemmende Geschichtsstunde, in der viel ausgesprochen und gezeigt wird, was hier niemand wissen wollte und will. Er bezieht sich dabei auf den gleichnamigen, genau recherchierten Bestseller von Olivier Guez, wobei die bestechenden Schwarz-Weiß-Bilder eindeutig keinen dokumentarischen Charakter entfalten. „Seine Haltung [Mengeles] spiegelt nicht die Banalität des Bösen wider, sondern dessen groteske Überhöhung: den Glauben an die eigene Überlegenheit, angeheizt durch ein verzerrtes Opferbewusstsein. Auf diese Weise wird der Film zu einem Kommentar über zeitgenössische Strukturen der Täterschaft und Straflosigkeit, die ohne externe Systeme der Rechenschaftspflicht fortbestehen.“ (Evgeny Gusyatinskiy | Viennale)
Credits:
FR/MX/DE/GB 2025, 135 Min., deutsch, spanische OmU, Regie: Kirill Serebrennikov Kamera: Vladislav Opelyants Schnitt: Hansjörg Weißbrich mit: D: August Diehl, Max Bretschneider, Dana Herfurth, Friederike Becht, Mirco Kreibich, David Ruland
Audiodeskriptionen, Untertitel und Hörverstärkung mit der Greta App
„Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“, lautet ein Gedanke von Cicely Saunders, Begründerin der Palliative Care. In Philipp Dörings vierstündiger Institutionsbeobachtung flirrt er in einer Präsentation auf, während eine Pflegekraft einen neuen Mitarbeiter einweist. Sie befinden sich im Berliner Franziskus-Krankenhaus. Hier dokumentiert Döring einige Monate zwischen Frühjahr und Sommer, begleitet Ärzte in die Visite und bei Gesprächen mit Angehörigen, lauscht dem internen Austausch des Teams, in dem auch Missstände nicht verschwiegen werden. Ein geschützter, seinen eigenen Gesetzen folgender Raum entsteht. In ihm werden Dialoge über Lebenswege aufgegriffen und reflektiert, Fortschritte gefeiert und sich abzeichnende Abschiede betrauert. Dabei ist Palliativstation auch ein Film über Sprache: Zwischen medizinischem Fachjargon und Dialekt changierend, manchmal nur über technische Hilfsmittel herstellbar. Döring kommt dem Sterben nah, sehr nah, aber mit ihm auch dem Leben. Sein Film hat Gewicht und beeindruckt, und erdrückt doch unter keiner Schicksalslast. Schnell wird deutlich: Das Leben, es endet wirklich erst mit dem letzten Herzschlag.
(Carolin Weidner)
Credits:
DE 2025, 245 Min., Regie, Kamera, Schnitt: Philipp Döring
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