Erinnert der Film an Tagebuch eines Lanpfarrers von Bresson oder eher an Die Aussenseiterbande von Godard? Wer Kaurismäkis Fallende Blätte gesehen hat, weiß, wovon die Rede ist, und auch, dass die Polizei keine Chance hatte. Für alle anderen: Eine Verschiebung der Erdachse löst eine Abfolge seltsamer Geschehnisse in der beschaulichen Kleinstadt Centerville aus. Während Sherriff Cliff Robertson (Bill Murray) noch rätselt, ist sich sein Kollege Ronald Peterson (Adam Driver) sicher: Es muss sich um eine Epidemie von Zombies handeln. Diese haben es allerdings nicht nur auf die Bürger von Centerville abgesehen, sondern auch auf Dinge, mit denen sie sich bevorzugt zu Lebzeiten beschäftigt haben. So wandeln sie auf den Straßen – hungrig nach Menschenfleisch, Kaffee und gerne auch einem Gläschen Chardonnay.
Credits:
USA 2019, 103 Min., engl. OmU Regie & Buch: Jim Jarmusch Darsteller: Bill Murray, Adam Driver, Tilda Swinton, Chloë Sevigny, Danny Glover, Caleb Landry Jones, Selena Gomez, Austin Butler, Luka Sabbat, Rosie Perez, Eszter Balint, Iggy Pop, Sara Driver, RZA, Carol Kane, Larry Fessenden, Tom Waits.
Tsutomu Mizukami war neun Jahre alt war, als ihn seine Eltern aus Armut in ein Zen-Kloster in Kyoto schickten. Mit 13 hatte er genug und rannte fort, nahm aber die ihm dort begonnene Liebe fürs Kochen mit. Er wurde Amateur-Bauer und Amateur-Koch, wie er sagt, – und Schriftsteller. Die Essensvorbereitung sei kein bloßer äußerer Ablauf, das Kochen nach Zen bestehe darin, das meiste aus den Lebensmitteln zu machen. Der Mönch ist dafür verantwortlich, das Feld mit der Küche zu verbinden, so die verfassten Lehren. Yuji Nakaes Film Das Zen Tagebuch folgt der autobiografischen Erzählung des Autors (der auch bekannt war für seine Krimis mit sozialen Themen), und verbindet diese mit Geschichten aus dem Leben des in den Bergen allein lebenden Protagonisten. Er nimmt sich Zeit, um von Einsamkeit, dem literarischen Schaffensprozess, den punktuellen, aber wichtigen Kontakten und über Ernährung zu erzählen. Tsutomu baut Gemüse an, sammelt Pilze, Adler- und Straußenfarne, Wassersellerie, Udo-Spargel, Kakis – alles, was die Natur hergibt: „du sollst das Gemüsefeld fragen, was du kochen sollst“ heißt eine der Zen-Regeln, die er befolgt. Seine gekochten, eingelegten, getrockneten Köstlichkeiten teilt er gerne mit anderen, besonders mit Machiko, seiner Lektorin. Sie kommt gelegentlich von Tokio hinauf in die Berge, um ihn an die Fertigstellung seines neuen Buches zu erinnern – und das Essen zu genießen. Und eines Tages muss unerwartet eine große Gesellschaft bekocht werden … Durch seine spielerische Komponente und faszinierende Einfachheit ist Das Zen Tagebuch fast eine Komödie über Zen im Alltag, nimmt aber dabei seine Hauptfigur, den Schriftsteller, sehr ernst. Die Verantwortung und Achtung gegenüber den Dingen. die wir zum Leben brauchen, stehen in Verbindung mit der Gelassenheit gegenüber den Herausforderungen angesichts des immer bevorstehenden Todes. Ein abgeschiedener Ort in den Bergen ist wahrscheinlich ein guter Ausgangspunkt, um so zu leben. Es kann aber auch einem:er gewöhnlichen Städter:in nicht schaden, sich dem, ähnlich wie Machiko, gelegentlich anzunähern.
Michael Meyns | programmkino.de
Credits:
Tsuchi o kurau jûnika getsu JP 2022, 111 Min., japan. OmU Regie: Yûji Nakae Kamera: Hirotaka Matsune Schnitt: Ryuji Miyajima Buch: Yûji Nakae nach der Erzählung „Tsuchi wo Kurau Hibi – 12 Monate von der Erde essen” von Mizukami Tsutomu mit: Kenji Sawada, Takako Matsu, Fumi Dan, Naomi Nishida, Toshinori Omi, Koihachi Takigawa
30 Meter über der Erde ist eine neue Gemeinschaft entstanden. In den Baumkronen des Hambacher Forsts, der 2018 zum Mittelpunkt der klimapolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland wird, leben Menschen in selbstgebauten Baumhäusern und versuchen, die drohende Rodung zu verhindern, indem sie sich selbst als Gewicht in die Waagschale werfen. Der Filmstudent Steffen Meyn dokumentiert den teilweise friedlichen, teilweise rigorosen, teilweise aggressiven Kampf der Aktivistinnen gegen die Zerstörung der Natur zwei Jahre lang mit einer 360°-Helmkamera. Dann stürzt er während einer polizeilichen Räumung vom Baum und stirbt. Der Dokumentarfilm von Meyns Freundinnen und Kommilitoninnen Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff basiert auf diesem Filmmaterial. Die Zweifel des Protagonisten werden darin genauso deutlich wie seine freundliche Beharrlichkeit und sein Bemühen, eine Haltung zur Radikalität der Szene zu finden. Zusätzlich haben die Regisseurinnen Interviews mit Aktivist*innen geführt, bei denen die Erfahrungen im „Hambi“ tiefe Spuren hinterlassen haben. Es geht um die Frage, wie weit Aktivismus gehen muss. Und wie weit er gehen darf.
Mit Music for Black Pigeons zeichnen die Filmemacher Jorgen Leth und Andreas Koefoed das Porträt des dänischen Gitarristen Jakob Bro. 14 Jahre lang haben sie zugehört und zugesehen, wie dessen Kompositionen zu Musik werden, in Ensembles mit den ganz großen Jazzmusikern, mit Bill Frisell, Andrew Cyrille, Lee Konitz, Thomas Morgan, Mark Turner, Paul Motian, Joe Lovano, Joey Baron, Palle Mikkelberg und und und … Ja, auch Midori Takada ist dabei, diese außergewöhnliche Schlagzeugerin, die so meditativ leise die Klangschalen streicht und dann gewaltig donnernd die Paukenkessel traktiert. Es wird keiner der Titel ganz gespielt, kein Set aus dem Konzertsaal fertig übernommen. Das Konzert findet im Studio statt, bei den konzentrierten Proben, der gemeinsamen Einstimmung auf etwas, von dem keiner der Mitwirkenden weiß, ob es wahr werden wird. Und das dann doch geschieht, weil alle teil haben an dem Riesenkosmos des Jazz, weil sie alle die Musik ihrer berühmten Vorväter in der Seele tragen. Und wenn es passiert, wenn den Musikern ein Take glückt, so wie er nur glücken kann, dann geht ein Lächeln auf in ihren Gesichtern. Als Music for Black Pigeons 2022 bei den Filmfestspielen in Venedig lief, wurde er von Jazz-Affinados gefeiert als der ultimative Musikfilm überhaupt. Vielleicht ist das übertrieben, aber einer der zweitschönsten nach Jazz on a Summer’s Day (Newport 1958) ist er allemal. Elizabeth Bauschmid | indiekino
Credits:
DK 2022, 92 Min., Englisch, Dänisch, Japanisch OmU Regie: Jørgen Leth und Andreas Koefoedmäki Kamera: Adam Jandrup, Dan Holmberg, Andreas Koefoed Schnitt: Adam Nielsen mit: Jakob Bro, Lee Konitz, Thomas Morgan, Paul Motian, Bill Frisell, Mark Turner, Joe Lovano, Andrew Cyrille, Palle Mikkelborg, Jon Christensen, Manfred Eicher, Midori Takada
Ein utopischer Ort der Menschlichkeit mitten in Paris
Wie ein elegantes Holzschiff liegt die Adamant am rechten Seine-Ufer im Herzen von Paris vor Anker. In diese einzigartige, 2010 eröffnete Tagesklinik kommen Erwachsene mit psychischen Störungen, die therapeutisch begleitet werden, sich hier vor allem aber kreativ entfalten: Sie schreiben Chansons, veranstalten Filmfestivals, dichten, malen und zeichnen. Das Team der Adamant zeigt tagtäglich, wie es in Zeiten eines Gesundheitssystems in der Krise gelingen kann, zugewandt und offen auf Menschen mit psychischer Erkrankung einzugehen. Aus sensiblen Beobachtungen und Gesprächen mit den Adamant-„Passagier*innen“ entsteht das leichtfüßige Portrait einer Einrichtung, deren Existenz Hoffnung macht.
Der Franzose Nicolas Philibert gehört seit seinem Publikumserfolg SEINUNDHABEN zu den großen Dokumentarfilmemachern Europas. Für AUFDERADAMANT wurde er auf der Berlinale 2023 mit dem Hauptpreis des Festivals, dem Goldenen Bären, ausgezeichnet.
Credits:
Sur l’Adamant FR/JP 2022, 109 Min., frz. OmU Regie, Kamera, Schnitt: Nicolas Philibert, Regie unter Mitwirkung von Linda De Zitter
Seit 30 Jahren dreht Aki Kaurismäki Filme, die das Bild seiner finnischen Heimat im Ausland geprägt haben. Eigentlich hatte er sich schon zur Ruhe gesetzt, mit „Fallen Leaves“ hat Kaurismäki nun doch noch einen Film gedreht, einen seiner schönsten. Eine zarte Liebesgeschichte in Helsinki, ein Film, der in jedem Moment ein Kaurismäki-Film ist, völlig aus der Zeit gefallen und dabei durch und durch eigen.
In der finnischen Hauptstadt Helsinki (bzw. der Kaurismäki-Version von Helsinki) leben Ansa (Alma Pöysti) und Holappa (Jussi Vatanen) bescheidene Leben. Sie arbeitet in einem Supermarkt, räumt die Regale ein und nimmt bisweilen eine Packung abgelaufener Wurst mit nach Hause, weswegen sie bald entlassen wird. Er arbeitet auf dem Bau – zumindest noch – lebt in einem Container und geht gelegentlich mit seinem Freund zur Karaoke, an der er aber nicht teilnimmt, denn: Harte Jungs singen nicht. Noch wissen die beiden Nichts voneinander, leben vor sich hin, in einer zeitlosen Welt, die weder bewusst die Vergangenheit darstellt, noch deutlich die Gegenwart.
Das Radio in Ansas Küche etwa, scheint aus den 60er Jahren zu stammen, aber sie hört darin Nachrichten, die auf den aktuellen Krieg in der Ukraine Bezug nehmen. Fernseher gibt es in dieser Welt dagegen nicht, die Moderne scheint noch keinen Einzug gehalten zu haben. Irgendwann kommt es zu einer ersten Verabredung – man sieht sich Jim Jarmuschs „The Dead don’t die“ im Kino an – doch bevor Ansa und Holappa wie der kleine Tramp und das Mädchen in den Sonnenaufgang gehen können, wollen noch einige Hindernisse überwunden werden.
Ein eigenartiges Gefühl hinterlässt Aki Kaurismäkis „Fallen Leaves“: Ein neuer Film des finnischen Kultregisseurs ist dies, der sich dennoch in jedem Moment, in praktisch jedem Dialog, jeder Geste, jedem Schauplatz bekannt anfühlt. Als hätte es Kaurismäki zum diesmal vielleicht endgültigen Ende seiner Karriere darauf angelegt, ein Pastiche seiner bisherigen Arbeiten zu drehen, eine Art Best Of-Kaurismäki.
Die Welt, die er dabei zeigt, scheint sich seit den 80er Jahren, als Kaurismäki begann, Filme zu drehen, kaum geändert zu haben. Damals war das karge Set-Design wohl nur wenig von der finnischen Realität entfernt, im Laufe der Jahre hat sich dagegen Finnland selbst weit mehr entwickelt als die Filme des im Ausland wohl berühmtesten Finnen.
Kein Regisseur und auch sonst kein Künstler dürfte das Bild von Finnland stärker geprägt haben als Kaurismäki. Das Bild eines wortkargen, melancholischen Volkes, dass das Leben lakonisch an sich vorbeiziehen lässt ist dabei im Lauf der Jahre entstanden, ist die Welt, in der Kaurismäkis Filme spielen, unverwechselbar geworden. In gewisser Weise ist „Fallen Leaves“ also pure Nostalgie, erlaubt es dem Zuschauer einmal mehr in die bekannte, auch die heile, Kaurismäki-Welt einzutauchen, in der die Dinge sich im Lauf der Jahrzehnte nicht verändert haben. Doch die Kaurismäki-Nostalgie funktioniert anders als etwa der Versuch allzu vieler Serien und Filme der letzten Jahre, sich auf eine Reise in die 80er oder 90er Jahre zu begeben und eine nur vermeintlich einfachere Zeit wiederaufleben zu lassen.
Kaurismäkis-Filme haben bei allem Realismus, bei aller Sympathie für die Arbeiterklasse („Fallen Leaves“ soll als Weiterführung der um 1990 entstandenen Proletarischen Trilogie verstanden werden), immer auch etwas Irreales, etwas Märchenhaftes. Das Finnland, das Kaurismäki zeigt, hat so vermutlich nie existiert, es war schon Mitte der 80er Jahre eine Illusion und ist es 40 Jahre später noch viel mehr. Allein an der Lust, sich von Kaurismäki, seinen einzigartigen Figuren und seinem speziellen Blick auf die Welt verzaubern zu lassen hat sich nichts geändert.
Michael Meyns | programmkino.de
Credits:
Kuolleet lehdet FI 2023, 81 Min., finn. OmU Regie: Aki Kaurismäki Kamera: Timo Salminen Schnitt: Samu Heikkilä mit: Alma Pöysti, Jussi Vatanen
Trailer:
Fallen Leaves (2023) | Trailer | Aki Kaurismäki Alma Pöysti | Jussi Vatanen
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