Caught by the tides ist Jia Zhangkes experimentellster Film und einer seiner besten. Einerseits ist der Film eine Art Coda, eine Wiederholung oder eine Variation von Asche ist reines Weiss (2019). Caught by the tides beginnt, wie der ältere Film, 2001 in Datong. In beiden Filmen sind die Hauptfiguren die Tänzerin Qiaoqiao (Tao Zhao) und der Gangster Guo Bin, der allerdings in Asche von Fan Liao, in Caught by the tides von Zhubin Li gespielt wird. In beiden Filmen sind sie ein Paar, dann werden sie getrennt, und sie sucht ihn einige Jahre später. Die Parallelen gehen noch weiter, aber Asche ist reines Weiss war noch eine Art Neo-Noir, in Caught by the tides ist die Liebesbeziehung aufs extremste reduziert. Qiao und Bin reden nicht ein einziges Mal miteinander. Erst in der allerletzten Szene spricht Qiao ein Wort: „Ha!“. Ihre Beziehung im Film besteht nur aus Gesten. Dafür ist die reine filmische Wucht von Caught by the tides noch größer. Es gibt drei Episoden: 2001 in der Bergarbeiterstadt Datong in Nordchina, 2006 in Fengjie, einer Stadt im Einzugsgebiet des monumentalen „Drei Schluchten“-Staudamms, die komplett umgesiedelt wurde, und 2022 in Zhuhai, Südchina und wieder zurück in Datong, das sich gewaltig verändert hat. Die „drifting generation“ nennt Jia die Generation seiner Hauptfiguren. In den ersten zwanzig Jahren des Jahrhunderts fand in China ein gewaltiger Wandel statt. In Jias Film spiegelt sich dieser Wandel. Caught by the tides ist ein Film, der Treibgut sammelt, Überreste untergegangener Welten und über Bord geworfener Traditionen der Gemeinschaft. Der Film ist aber auch eine Feier des widerständigen Unkrauts, der Menschen, die ziellos durch diese Welt treiben. Einige gehen verloren, viele Abschiede werden genommen, einigen gelingt es, eine neue Art von Gemeinschaft zu finden, und sei es, wie Qiaoqiao, in einer Laufgruppe, die sich die Stadt und die Straßen auf ihre Art zu eigen macht.“ Tom Dorow | indiekino
Credits:
Feng liu yi dai CN 2024, 110 Min., chin. OmU Regie: Jia Zhang-Ke Kamera: Yu Lik-Wai, Eric Gautier Schnitt: Yang Chao, Lin Xudong, Matthieu Laclau mit: Zhao Tao, Li Zhubin, Pan Jianlin, Lan Zhou
„Wenn ich morgen Abend zurückkomme, gibt es keine Heimlichkeiten mehr”, verspricht Diddi seiner neuen großen Liebe Una. Er will die Beziehung mit seiner langjährigen Freundin Klara beenden, aber soweit kommt es nicht. Am nächsten Tag explodiert ein Straßentunnel und Diddi ist unter den Opfern. Im Freundeskreis kümmert man sich liebevoll vor allem um Klara, und Una muss allein mit ihrer unendlichen Trauer zurecht kommen. Dennoch setzt sie sich der Situation aus, trinkt mit den anderen auf den Freund. Das Treffen mündet in eine spontane Party mit exzessivem Tanz. Verschiedene Arten zu trauern stehen nebeneinander, fließen ineinander. Klara, die von der kongenialen Zusammenarbeit von Una und Diddi bei deren Kunststudium weiß, sucht Unas Nähe. Als beide aufeinander zugehen, ist unklar, ob sie von der Tiefe der Verbindung wusste, es scheint eher, als ob die Intensität beider Trauer sich anzieht. Am Ende des Tages, der Film umspannt 24 Stunden, spricht Klara den nächsten Tag an: „Es wird seltsam sein, morgen aufzuwachen“, überlegt sie, „Weißt du, was du tun wirst?“
„Rúnarssons Film verzichtet auf ein einfaches Melodrama und erforscht stattdessen still und mit allen Sinnen die plötzlichen Verbindungen, die der Tod zwischen den Lebenden herstellt. Die Zukunft wartet in der Schwebe; den Tag zu überstehen ist schon Drama genug.“ Variety
„Ich meine, alle Geschichten wurden bereits erzählt. Alle Emotionen wurden auf die eine oder andere Weise im Kino, in anderen Künsten oder in der Literatur vermittelt. Aber meistens werden Trauer und der Effekt eines Verlustes von jemandem über einen längeren Zeitraum dargestellt. Doch eine gleichaltrige Person zu verlieren, während man noch jung ist, ist eine so brutale Erfahrung, weil in den ersten Tagen alle Grenzen zwischen den verschiedenen Emotionen in deinem Kopf zu verschwimmen beginnen. In der einen Minute fühlst du dich schwerelos, in der nächsten Minute weinst du oder hast einen hysterischen Lachanfall. … Und manchmal interessiere ich mich einfach mehr für diese Grautöne des Lebens.“ R. Runarsson
Das Filmfestival Achtung Berlin!, bei dem wir mittlerweile zum siebten Mal Spielort sind, präsentiert zwar Produktionen aus Berlin und Brandenburg, ist aber nicht an den Ort gebunden.
Nach allen Filmvorstellungen folgt ein Q&A mit dem Filmteam. Das Programm im fsk:
Sonntag, 6.4.
13:30 Bürglkopf, Lisa Polster, Dokfilm, 78 Min. (Berlin Spotlights) [Tickets]
Screenshot
Auf dem Tiroler Bürglkopf, in 1.300 Metern Höhe, befindet sich das gleichnamige Rückkehrzentrum, weit abgelegen von Zivilisation und Stadt. Menschen im Asylverfahren werden dort untergebracht und sollen mit Rückkehrberatung, vor allem aber unter dem Druck der Isolation, zur Ausreise aus Österreich bewegt werden. Während Urlauber:innen mit hochmodernen Gondeln auf die Gipfel befördert werden, müssen die Bewohner des Bürglkopfs drei Stunden Fußweg auf sich nehmen, um vom Lager ins Tal zu gelangen. Die Alpenlandschaft wird zum Schauplatz eines Aufeinandertreffens von Geflüchteten, Dorfbewohner:innen und Tourist:innen.
Deutschland, Österreich | 2025 | 78 Min. Sprache [deutsch], [englisch], [arabisch], [dali], [somali] UT [deutsch], [englisch] Berlin-Premiere Regie, Buch Lisa Polster Kamera Jasmin Schwendinger Schnitt Maira Vazquez Leven
In Lützerath verläuft für Blinker, Ronni und die Bundestagsabgeordnete Kathrin Henneberger die 1,5 Grad-Grenze. Auf unterschiedliche Art kämpfen sie für den Erhalt des Dorfes im rheinischen Braunkohlerevier. Während Blinker auf Barrikaden setzt und Ronni sich auf die Medienstrategie der Besetzung konzentriert, versucht die örtliche Grünen-Abgeordnete den Protest zu unterstützen und muss eine schwere Niederlage einstecken, als die Ampelkoalition dem Kohlekompromiss mit RWE zustimmen – der zwar den Ausstieg bis 2030 festhält, aber Lützerath dem Konzern opfert. Nach der Räumung bleiben Bilder der Zerstörung, Erinnerungen und erst langsam heilende Wunden.
Deutschland | 2025 | 110 Min. Sprache [deutsch] UT [englisch] Berlin-Premiere
Regie Lukas Reiter Buch Christoph Hans, Lukas Reiter Recherche Louise Wassermé Kamera Lukas Reiter Schnitt Christoph Hans
Barbara Morgenstern, Pionierin des lyrischen Elektro-Pop, arbeitet an einem neuen Album. In ihrer Wohnung entstehen erste Texte und Harmonien. Bei den Proben mit ihrer Band feilt sie an Arrangements. Dann sehen wir Aufnahmen der legendären Berliner Hansa-Studios, Pressefotos, die Gestaltung des Plattencovers, ein erstes Musikvideo, die Tourplanung. Im Hintergrund gibt es Fragen: Wie experimentell darf das Album werden, wie politisch soll es sein, in welchem Format kann es live präsentiert werden? Am Ende steht Morgenstern auf der Bühne, um das erste Mal für ihre Fans die Lieder von ihrem neuen Album„In anderem Licht“ zu spielen.
Deutschland | 2024 | 109 Min. Sprache [deutsch] UT [englisch] Berlin-Premiere
Regie Sabine Herpich mit Barbara Morgenstern Kamera, Schnitt Sabine Herpich
An einem Sommertag treffen sich die Geschwister Freddy, Luise und Theo, um das Haus ihrer Kindheit auszuräumen und zu verkaufen. Doch hinter ihrer fröhlichen Fassade liegt unausgesprochenes Misstrauen. Da stößt Luise auf ein Foto ihrer großen Liebe Sergei, der vor vielen Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Weil sie sich nicht erinnern kann, das Bild je aufgenommen zu haben, versucht sie manisch dessen Herkunft nachzuvollziehen. Schicht um Schicht enthüllt sich dabei eine Familiengeschichte über Privilegien und Schuld – und die Geschwister nähern sich endlich einem Schatten, den sie lange nicht losgeworden sind.
Deutschland | 2024 | 88 Min. Sprache [deutsch] UT [englisch] Berlin-Premiere
Regie Oliver Moser Schauspiel Paul Boche, Bea Brocks, Odine Johne, Hannah Schutsch Buch Linda König, Oliver Moser Kamera Malte Siepen Schnitt Isabella Kohl, Oliver Moser
Montag 7.4.
18:30 Spielerinnen, Aysun Bademsoy, 86 Min. (Wettbewerb Dokumentarfilm) [Tickets]
Eine filmische Langzeitbeobachtung türkischer Fußballspielerinnen in Berlin-Kreuzberg: 30 Jahre nach MÄDCHENAMBALL nimmt die Regisseurin die nächste Generation in den Blick. In Deutschland geboren und aufgewachsen, fragen auch sie sich, ob sie hier wirklich angenommen werden. Auch ihr Leben scheint von einem kulturellen Riss bestimmt. Während wir einerseits die Welt der Töchter heute erleben – zwischen Instagram, Selbstfindung und familiärer Verantwortung – zeigt das vielschichtige Portrait in Rückbezügen auf die 1990er Jahre auch, wie die ältere Generation in Erinnerungen an eine Jugend schwelgt, in der das Fußballspiel ihnen Raum für Emanzipation bot.
Deutschland | 2024 | 86 Min. Sprache [deutsch] [türkisch] UT [englisch] Berlin-Premiere
Regie Aysun Bademsoy mit Arzu Çalkılıç, Türkan Çelik, Nalan Keleş, Nazan Yavaş, Selina Çelik, Duygu Yavaş, Defne Yavaş u.v.a. Kamera Isabelle Casez, Ines Thomsen Schnitt Maja Tennstedt
Holles Bruder Sven lebt seit Jahrzehnten in stiller Isolation im Elternhaus. Was in ihm vorgeht, bleibt für alle ein Rätsel. Holle hat den Rückzug ihres Bruders nie ganz hingenommen, dennoch konzentriert sie sich auf ihre neue Berufung als Geistesheilerin. Doch als ihre Mutter ins Krankenhaus eingeliefert wird, wird Holle zunehmend mit dem sich verschlechternden Zustand ihres Bruders konfrontiert und möchte ihm helfen. Während sich ihre anderen Geschwister abwenden, spürt Holle ein noch viel größeres Problem auf sich zukommen.
Deutschland | 2025 | 96 Min. Sprache [deutsch] UT [englisch] Deutschland-Premiere
Regie, Buch Tim Ellrich Schauspiel Jenny Schily, Ursula Werner, Manfred Zapatka, Jens Brock, Johannes Zeiler, Kirsten Block, Peter Scheider Kamera Konstantin Pape Schnitt Tobias Wilhelmer
Ramona und Nico sind Freundinnen, sie haben gerade die Schule abgeschlossen. Doch anstatt sich Gedanken um ihre Zukunft zu machen, lassen sie sich lieber vom aufgeheizten Berliner Sommer treiben. Sie hängen rum und schießen mit einer Zwille, ein Fenster geht zu Bruch. Als sie den geliebten Vogel des Nachbarn unfreiwillig freilassen, müssen sie raus – in eine politisch aufgeladene Welt, auf die sie eigentlich gar keine Lust haben. Ein Roadtrip zu Fuß durch Berlin beginnt – auf der ziellosen und halbherzigen Suche nach dem entflogenen Federvieh und dem kleinen Bruder, ringen die Beiden um ihre Freundschaft, den Glauben an sich selbst und stolpern unerwartet in andere hoffnung gebende Lebensgeschichten.
Deutschland | 2024 | 75 Min. Sprache [deutsch] UT [englisch] Berlin-Premiere
Regie, Buch Sorina Gajewski Schauspiel Bella Lochmann, Pola Geiger, Rio Kirchner Kamera Hannes Schulze Schnitt Raffaello Lupperger
Mitten in der ostdeutschen Provinz wird ein wohl konserviertes Skelett aus dem Moor gezogen. Das Dorf fängt an zu spekulieren: Wer könnte das gewesen sein? Ein desertierter Wehrmachtssoldat? Ein verzweifelter LPGler? Der ominöse 3. Mann vom BND? Wann ist der Mensch versunken – und warum? Die Fälle ungeklärten Verschwindens der letzten 100 Jahre werden aufgerollt und heizen die Gerüchteküche an. Tine, die wegen ihres Engagements in einer politischen Gruppe gerade eigentlich ganz andere Sorgen hat, stellt eigene Nachforschungen an – bis alle Fäden auf wundersame Weise beim Haus ihres Vaters zusammenlaufen.
Deutschland | 2025 | 133 Min. Sprache [deutsch] UT [englisch] Berlin-Premiere
Regie, Buch Laura Laabs Schauspiel Hannah Ehrlichmann, Hermann Beyer, Jule Böwe, Andreas Döhler, Camill Jammal, Jenny Schily, Uwe Preuss, Rainer Reiners, Matthi Faust Kamera Carlos Vasquez Schnitt Emma Gräf
Aus dem sorgenfreien Lifestyle-Urlaub, den Désirée mit ihrem Lover Elias und ihrem besten Freund Sal geplant hatte, wird ein Selbstfindungstrip in der Wüste. Désirées Mutter dreht ihr den Geldhahn zu und lässt sie aus dem Ferienhaus mit Pool werfen. In der kargen Landschaft Fuerteventuras bewegen sich die drei Freunde wie auf einem leeren Feld der Sinnsuche. Sie begehren einander, fordern sich heraus, schlüpfen in neue Rollen. Es entspinnt sich ein Spiel, über dem das alles bestimmende Dreieck aus Class, Race und Gender schwebt.
Deutschland | 2024 | 80 Min. Sprache [deutsch] UT [englisch] Berlin-Premiere
Regie Frédéric Jaeger Buch Frédéric Jaeger, Naomi Bechert Schauspiel Charity Collin, Mehmet Sözer, Michael Ifeandu, Tommaso Marinaro Kamera Maximilian Andereya Schnitt Maja Tennstedt
Issac, Bundeswehrsoldat, genießt den Ausgang auf der Bowlingbahn. Ein betrunkener Versuch, bei Ilona zu landen, endet in einer folgenreichen Episode: Als er ihre Schwester Edith zum Bowlen auffordert, sackt diese zu Boden und er stellt fest, dass Edith gelähmt ist. Es folgt ein Handgemenge mit anderen Gästen. Beschämt beschließt Isaac, am nächsten Tag das Bild, das die beiden Schwestern von ihm gewonnen haben, zu korrigieren. Zwischen ihm und Edith entwickelt sich eine unerwartete Freundschaft. Als Edith sich in ihn verliebt und Issac, im Glauben, sie heilen zu können, immer verzweifelter nach Sinn und Anerkennung sucht, nimmt das Unglück seinen Lauf.
Deutschland | 2025 | 104 Min. Sprache [deutsch] UT [englisch] Berlin-Premiere
Regie Lauro Cress Buch Lauro Cress, Florian Plumeyer Schauspiel Giulio Brizzi, Ladina von Frisching, Thomas Loibl, Livia Matthes, Jan Fassbender, Sira Faal, Ludwig Blochberger Kamera Jan David Gunther Schnitt Ilya Gavrilenkov
Julie gilt als eines der größten Nachwuchstalente des belgischen Tennisverbands. Als ihr Trainer Jérémy wegen fragwürdiger Arbeitsmethoden suspendiert wird, gerät Julies Welt ins Wanken. Eine Untersuchung wird eingeleitet, und alle Spielerinnen der Tennisschule sollen aussagen. Doch Julie bleibt still.
Je mehr Menschen um sie herum die Stimmen erheben, desto größer wird der Druck auf sie. Julie sieht sich mit starren Machtstrukturen und ihrer eigenen Ohnmacht konfrontiert. In der Stille wächst die Frage, wie sie ihre eigene Stärke finden kann in einer Welt, die ihr bislang die Regeln diktiert hat.
Leonardo Van Dijls fesselndes Regiedebüt erzählt eindringlich von Fremdbestimmung, Machtmissbrauch und den leisen, aber tiefgreifenden Prozessen weiblicher Selbstfindung. „Julie bleibt still“ feierte Weltpremiere im Rahmen der Semaine de la Critique beim Filmfestival von Cannes, wo der Film zwei Preise gewann.
Credits:
Julie Keeps Quiet BE/SE 2024, 100 Min., Niederländisch-französische OmU Regie: Leonardo van Dijl Kamera: Nicolas Karakatsanis Schnitt: Bert Jacobs mit: Tessa Van den Broeck, Grace Biot, Alyssa Lorette, Ruth Becquart, Koen De Bouw, Pierre Gervais, Claire Bodson und Laurent Caron
Die jugendliche Marija verbringt den Sommer bei ihrer Großmutter in einem Industriegebiet im Hinterland Litauens. Aufgrund ihres Gehfehlers wird sie schnell gemobbt und gerät in eine Prügelei mit der gleichaltrigen Kristina, die – wie viele andere Mädchen in dieser abgehängten Gegend – eine Modelschule besucht. Bald schließt sich auch Marija der kultähnlichen Institution an. Mit der Aussicht auf eine Karriere in der Modebranche werden hier Gefühle von Selbsthass normalisiert und Essstörungen sind an der Tagesordnung. Während sich eine intime Freundschaft zwischen Marija und Kristina entwickelt, geraten die Mädchen in eine sich immer schneller drehende Spirale, in der sie ihre Körper auf extreme Weise missbrauchen.
Beruhend auf eigenen Erfahrungen offenbart Regisseurin Saulė Bliuvaitė die toxischen Strukturen einer ausbeuterischen, patriarchalen Gesellschaft, mit der viele junge Frauen zu kämpfen haben. Der weibliche Körper wird zur Währung, zum manipulierbaren Objekt – oder vielleicht doch zum letzten Fluchtweg aus einer chancenlosen Situation? TOXIC ist von einer intimen Emotionalität geprägt und bezieht seine Faszination aus dem Gegensatz zwischen der Hässlichkeit eines tristen Alltags und der Schönheit echter Menschlichkeit und Zuneigung.
(Wichtiger Hinweis: Dieser Film behandelt Themen im Zusammenhang mit Essstörungen und Körperbildproblemen und beinhaltet Darstellungen von Anorexie, Bulimie und Binge-Eating. Diese Inhalte könnten für Menschen mit einer Essstörung oder einer entsprechenden Vergangenheit belastend sein. Beratungsstellen finden: www.bundesfachverbandessstoerungen.de / www.bzga-essstoerungen.de Anonyme und kostenfreie Onlineberatung: www.ANAD-dialog.de Hinweis in Kooperation mit ANAD-dialog erstellt.)
Eine Mischung aus Polit-Thriller und Drama im Schatten der Frankfurter Hochfinanz-Skyline – in Angelina Maccarones fünften Kinofilm treffen dort für eine kurze Zeit vier Personen schicksalshaft aufeinander. Die Eltern der jungen Juristin Amina stammen aus Marokko, deshalb gilt es für die konservative Europapolitikerin Mathilda als cleverer Schachzug, sie als persönliche Assistentin zu gewinnen. Mathildas guter Freund aus Jugendtagen, der Brite Richard, hat lange in Marokko gelebt. Jetzt kommt er zurück und braucht für Malik, einen von ihm illegal eingeschleusten Schützling, ein sicheres Versteck, und fragt ausgerechnet die Politikerin um Hilfe für ein Visum und Unterkunft. Ihrem eigenen politischen Credo widersprechend willigt sie ein, und beauftragt Amina, auf den jungen Mann in ihrer Wohnung aufzupassen. Doch Malik, der von einem besseren Leben in Europa träumt, will sich nicht einsperren lassen. Konsequent erzählt der Film aus den vier Perspektiven, wodurch sich nach und nach erst das ganze Bild ergibt. „Die Perspektiven bündeln sich zu einem kaleidoskopartigen Porträt der gegenwärtigen, von wachsendem gegenseitigen Misstrauen gekennzeichneten Gesellschaft. Dabei enthält sich Angelina Maccarone jeglicher Wertung. Sie zeigt die Bilder, ohne zu sympathisieren oder Partei zu ergreifen. Und Gewissheiten lässt sie ebenfalls nicht zu. Wer sich anfangs ein Urteil über eine der Personen gebildet hat, wird es irgendwann revidieren müssen. Ganz wie im wirklichen Leben sind die Dinge meist nicht so, wie sie zu sein scheinen…. Angelina Maccarone hat sich mit „Klandestin“ zudem auf die Spuren Claude Chabrols begeben. Sie hat eine Polit-Thriller-Handlung mit politischer Analyse und beißender Gesellschaftskritik verknüpft, ohne dabei die intelligente Unterhaltung des Publikums zu vernachlässigen.“ Gaby Sikorski | Programmkino.de
Vor ein paar Jahren hatten wir die Freude, den vielfach ausgezeichneten Dokumentarfilm Mein Vietnam von Thi Hien Mai und Tim Ellrich innerhalb unserer Reihe „Dok-Termin“ vorstellen zu dürfen, einen sehr persönlicher Einblick in das Leben der Eltern der Regisseurin. In seinem Spielfilm-Debüt schildert Ko- Regisseur Tim Ellrich jetzt ebenfalls eine Geschichte aus seiner nächsten Familie. Holle, esoterische Therapeutin, Tochter und Schwester, muss sich als einzige um ihren Bruder Sven kümmern, bei dem vor vielen Jahren Schizophrenie diagnostiziert wurde. Er verweigerte jede Behandlung und lebt seither zurückgezogen auf dem Dachboden im Haus der Eltern, die sich allmählich, mit zunehmendem Alter, von ihm überfordert fühlen. Als ihre Mutter ins Krankenhaus kommt, verbringt Holle immer mehr Zeit mit Sven und beim Vater, und vernachlässigt ihre eigene Beziehung dabei sträflich. »Die markante formale Gestaltung von Im Haus meiner Eltern schiebt der allzu direkten Deutung als autobiografische Nabelschau einen Riegel vor. Mit Schwarz-weiß-Bildern und einem schmalen Bildformat verleiht Ellrich der Geschichte einen universellen Charakter. … Das eindrucksvollste Element des stillen Dramas ist die Darstellung des psychisch erkrankten Sven. Fernab klischeehafter Darstellungen von Schizophrenie zeigt Ellrich die Erkrankung als Rückzug ins Innere, womit eine Auflösung für die anderen verbunden ist.“ Christian Horn | FilmDienst Das grandios gespielte und strengem schwarz-weiß gehaltene Familiendrama wurde in IFF Rotterdam mit dem Preis der Jury ausgezeichnet.
Credits:
DE 2025, 95 Min, Regie: Tim Ellrich Kamera: Konstantin Pape Schnitt: Tobias Wilhelmer mit: Jenny Schily, Ursula Werner, Manfred Zapatka und Jens Brock
Simóns Verhältnis zu seiner Mutter ist schon länger schwierig. Wirklich zu Hause fühlt er sich nur bei Pehuén und den anderen an der Schule für Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Dort hat er das Gefühl, er selbst sein zu dürfen, auch wenn er anders ist als alle anderen.
In lose verbundenen Vignetten tauchen wir in das Leben einer Gruppe verhaltensorigineller Jugendlicher ein. Unser Titelheld fühlt sich vor allem an der Seite von Pehuén und Colo wohl (wie die anderen kognitiv Eingeschränkten von Laien gespielt) – einmal, als die beiden Sex haben, steht er sogar für sie Schmiere. Doch irgendwann fragt sich, was Simón an dieser Schule eigentlich verloren hat und warum er sich hier zugehörig fühlt. Luis’ ungewöhnliches Drama stellt unsere Wahrnehmung von Menschen, die wir als „anders“ qualifizieren, auf die Probe. Sein Plädoyer lässt vieles offen, aber keinen Zweifel: Verbundenheit kann nur durch Offenheit entstehen. (Roman Scheiber)
Am stärksten im Fokus steht das freundliche Verwischen von Grenzen zwischen den Identitäten und Orientierungen im Film Sehnsucht / Sex. Es ist zugleich der lustigste Teil der Trilogie. Der Film startet mit Aufnahmen vom Osloer Umland: Auffahrtstraßen, Industriegebiet, im Gemeindeschwimmbad ziehen Menschen ihre Bahnen. Dann beginnt ein namenloser Mann , Schornsteinfeger, Familienvater, Mitte vierzig, von seinem verwirrenden Traum zu erzählen – einfach so, beim Mittagessen im Pausenraum. David Bowie und er, erzählt der Mann, seien sich in seinem Traum in einer Toilette begegnet, und Bowie hätte ihn gemustert, als wäre er, der Schornsteinfeger, eine Frau. Die Blicke seien nicht abwertend gewesen, einfach nur anders. Nein, eigentlich sogar angenehm. Sein bester Freund, ebenfalls Schornsteinfeger, Familienvater, Mitte vierzig, hört ihm aufmerksam und verständnisvoll zu. Dann erzählt er, wie ihm jüngst ein Klient nach getaner Arbeit Zeichen gegeben habe, an ihm interessiert zu sein. Erst habe er gezögert, dann hätten sie Sex gehabt. »Wie er mich angesehen hat, das habe ich noch nie erlebt«, sagt der Freund. »Als hätte er Lust auf mich. Regelrecht schamlos.« Später erzählt der Freund auch seiner Ehefrau von dem Sex. Sein Argument: Gerade weil es mit einem Mann gewesen sei und er ganz offen darüber spreche, habe er sie nicht betrogen. Doch das sieht die Ehefrau ganz anders….“ Hannah Pilarczyk | Der Spiegel Und natürlich besteht auch hier viel Gesprächsbedarf.
Credits:
OT: Sex DE 2023, 90 Min., norw. OmU Regie: Dag Johan Haugerud Kamera: Cecilie Semec Schnitt: Jens Christian Fodstad mit: Jan Gunnar Røise, Thorbjørn Harr, Siri Forberg, Birgitte Larsen
Nach Oslo-Stories: Liebe, diesem Filmjuwel, dass sich bisher viel zu viele haben entgehen lassen, kommt hier schon der nächste Teil von Dag Johan Haugeruds Oslo-Trilogie ins Kino, und er bringt wertvolles Gepäck mit – den Goldenen Bären der letzten Berlinale. Die Tradition des Festivals, explizit politisch zu lesende Filme auszuzeichnen, wurde diesmal unterbrochen. Träume ist deswegen nicht minder aufregend. Die 17-jährige Johanne verliebt sich Hals über Kopf in ihre neue Lehrerin. Im späteren Verlangen, diese wichtige Zeit für sich festzuhalten, verpackt sie die Erlebnisse in eine Erzählung. Als erst ihre Mutter, und später auch ihre Großmutter, eine bekannte Dichterin, den Text lesen, ist die Aufregung groß. Bewunderung und Stolz, Sorge und sogar Konkurrenzangst wechseln sich ab, und zwischen den Frauen dreier Generationen gibt es viel Gesprächsbedarf. „Träume ist einerseits ein sehr einfacher Film, der eine kleine Geschichte ohne dramatische Wendungen erzählt. Andererseits ist Träume ein sehr komplexer Film, der auf mehreren klug verschachtelten Ebenen darüber nachdenkt, wie Texte, die Realität, die sie beschreiben, und die Menschen, die sie verfassen oder rezipieren, miteinander verbunden sind, und wie ihre Bedeutungen einer permanenten Veränderung unterworfen sind – je nachdem wer was wann warum wo sagt oder hört, oder auch verschweigt. Und schließlich ist Träume ein sehr freundlicher, tröstlicher Film, der von Wandelbarkeit erzählt. Wo die meisten Filme versuchen, eine mehrdeutige und unordentliche Realität in eine sinnhafte Geschichte zu verwandeln, unternimmt Träume das Gegenteil. Jede Szene, jede Person, jede Form des Diskurses fügt der Welt, die Träume abbildet, eine neue Facette hinzu, macht sie größer, offener, vielfältiger. Für mich hätte Träume einfach immer weiter gehen können.“ Hendrike Bake | indiekino
Die drei „Oslo-Stories“ bilden eine einzigartige Filmtrilogie. Liebe (Venedig Wettbewerb 2024), Träume (Berlinale Goldener Bär 2025) und Sehnsucht / Sex (Berlinale Panorama 2024) sind drei jeweils eigenständige Filme mit neuen Figuren und einer unabhängigen Geschichte, und jeder ist ein Ereignis. Getrennt voneinander werfen sie jeweils einen neuen Blick auf die Dinge, die unser Leben bestimmen. Erzählen von Liebe, Sehnsucht und Träumen, hinterfragen Identität, Gender und Sexualität, entwerfen mit faszinierenden Charakteren und klugen Dialogen gewitzt und nahbar Utopien, wie wir auch zusammenleben könnten. Und Oslo sehen wir aus der Perspektive der Protagonisten: innerstädtisch bei Träume, hoch auf den Dächern bei Sehnsucht / Sex und in Liebe wird ständig der Oslofjord mit der Fähre überquert.
Goldener Bär – Berlinale 2025
Credits:
NO 2024, 110 Min., norwegische OmU Regie: Dag Johan Haugerud Kamera: Cecilie Semec Schnitt: Jens Christian Fodstad mit: Ella Øverbye, Selome Emnetu, Ane Dahl Torp, Anne Marit Jacobsen
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