Gunda ist die Protagonistin dieses dokumentarischen Triptychons in mildem Schwarz-Weiß. Sie kümmert sich um ihre Kleinen und geht mit ihnen auf Entdeckungsreise, dann zieht sie sich zurück und schöpft Kraft. Vorsichtig nähert sie sich der Kamera. Weiß sie um ihr Schicksal? Was mag sie denken? Von uns halten? Gunda ist eines von mehreren hundert Millionen Schweinen, die den Planeten bewohnen; dazu kommen noch eine Milliarde Rinder, im Film vertreten durch zwei anmutig muhende Kühe, sowie über 20 Milliarden Hühner, hier ein sich durch die Welt tastendes einbeiniges Huhn. Im Schlamm wühlende, Fliegen verscheuchende und Würmer suchende Held*innen – Filmessayist Victor Kossakovsky ist und bleibt rigoros: Nach diesem Film sei Fleischkonsum ausgeschlossen. Seine Empörung über die ignorante Menschheit im Allgemeinen und die Entwürdigung dieser Lebewesen im Konkreten lässt er in eine konzeptuell minimalistische, visuell aber umso fulminantere Meditation fließen. Gunda ist ein Intimporträt. Eine Intervention in Form der Bescheidenheitsgeste. Ein Film, der den Underdogs majestätische Größe gibt. Und uns nachdenklich macht. Zumindest das.
Credits:
NO/US 2020, 93 Min. ohne Dialog Regie: Victor Kossakovsky Buch: Victor Kossakovsky, Ainara Vera Kamera: Egil Håskjold Larsen, Victor Kossakovsky Schnitt: Victor Kossakovsky, Ainara Vera
Sie waren Aktivisten, Spione, Genies im Umgang mit dem Computer: Die Hacker des Chaos Computer Clubs waren die Aufklärer in einer Zeit, in der die Computertechnik für Viele ein Fremdwort war – zumindest aber ein Buch mit sieben Siegeln, das inmitten eines böhmischen Dorfs lag. Die Mitglieder des CCC zeigten darum auch mit wenig Aufwand, wo die Tücken in der fortschreitenden computerisierten Welt lagen. Das Passwort einer Sparkasse errieten sie einfach, indem sie als erstes die Telefonnummer des Benutzers ausprobierten. Das Ergebnis war korrekt.
Am Anfang des CCC stand Wau Holland, Deutschlands erster digitaler Bürgerrechtler. Er gründete den Club, machte mit spektakulären Hacks auf sich aufmerksam. Er stand für den ungehinderten sozialen Austausch mit den Mitteln der Technik, einer Digitalisierung, die Heilsbringer sein konnte, die aber auch immer mit Gefahren verbunden war, wenn der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft dadurch unterminiert wurde.
Der Film „Alles ist eins. Außer der 0.“ dringt in diese Frühzeit des CCC ein, zeichnet dabei aber auch ein Bild der damaligen Republik, in der Hausdurchsuchungen beim Chaos Computer Club stattfanden, nachdem dieser den deutschen Geheimdienst, aber auch die entsprechenden Firmen auf Sicherheitslücken aufmerksam machten.
Das ist ein Teil des Films, ein anderer ist, dass er zwar von der Vergangenheit erzählt, aber für die Gegenwart wichtig ist. Weil er zeigt, dass die großen Fragen unserer Gesellschaft schon damals gedacht wurden – wenn auch die meisten die Gedanken von Wau Holland ignorierten. Dabei war es visionär, was hier gesagt und getan wurde. Indem die heutige Dynamik des Internets vorweggenommen wird, in der Meinung sehr schnell auch zur Waffe werden kann – oder man sich durch sie zum Ziel macht.
Die Gesellschaft ist auch wegen der Bestrebungen des CCC offener geworden. Nach dem Tschernobyl-Gau waren es die Aktivisten des CCC, die Informationen offenlegten, die offizielle Stellen lieber verschwiegen. Sie waren es auch, die Desinformation als solche enttarnten. Das macht die Geschichte des CCC auch spannend wie einen Thriller, mit allem, was dazu gehört. Spionage, Geheimdienste, Mordkomplotte – und das alles in einer sich rasant ändernden Welt, anderen logischen Endpunkt wir heute leben. Umso wichtiger ist es, den Blick auf die Anfänge zurückzuwerfen, auch, um zu verstehen, wie wir dort ankamen, wo wir sind. Eine faszinierende Geschichtsstunde.
Peter Osteried | programmkino.de
Alles ist Eins. Ausser der 0
Credits:
Deutschland 2020, 90 Min. dt.O.m.engl.U. Regie + Drehbuch: Klaus Maeck, Tanja Schwerdorf Darsteller: Peter Glaser, Wau Holland, Linus Neumann
Trailer:
ALLESISTEINS. AUSSERDER 0. Trailer Deutsch | German (2020)
Unsere Dokfilmwoche, die insgesamt sechsmal jeweils Ende August stattfand, ist vorerst Geschichte. Sie wurde von uns überarbeitet, zerstückelt und neu zusammengesetzt.
Herausgekommen ist Dok-Termin- 12 besondere Dokumentarfilme verteilen sich aufs Jahr. Jedes Werk wird zweimal zu sehen sein, im fsk-Kino und in einem weiteren Kino der Indiekino-Gruppe. Gespräche mit den Macher*innen, Diskussionen, Einführungen und was sich sonst zur Unterstützung oder Weiterführung anbietet, ergänzen die Veranstaltungen.
Das Programm ist nicht auf bestimmte Themen, Formen oder Inhalte ausgerichtet.
Die geplanten Filme lassen Zusammenhänge in neuem Licht erscheinen. Die gesamte Haltung, wie Empathie und Umgang mit Protagonist*innen, der gewählte Blickwinkel entscheiden über ihre Relevanz. Wir freuen uns über Angebote zum Dialog, oder die Einladung, beim Zuschauen eigene Bilder zu formen sowie über die essayistische Annäherung an ein Thema.
Besondere und individuelle Geschichten, die unaufdringlich auf einen komplexen äußeren Kosmos
weisen, sind gefragt, aber in der Umkehrung auch eine freie und weite Erzählung, in der sich der/die Einzelne wiederfindet. Die Filme gehen vom Großen, Weiten ins Detail und lassen vom Persönlichen, engen Rahmen aufs Allgemeine schließen, regional wie weltweit.
Ein wissenschaftlicher Selbstversuch zur Überprüfung der obskuren These eines norwegischen Psychologen soll helfen, Bewegung in die Welt von vier Freunden, die am gleichen Gymnasium unterrichten, zurückzubringen: der Mensch komme mit einem Mangel an Alkohol im Blut zur Welt und sei nur mit einem kleinen, dafür aber konstanten Alkoholpegel in der Lage, ein erfolgreiches, erstrebenswertes Leben zu führen. Was soll man sagen: das Experiment klappt bestens, auch zur Freude und Überraschung Nichteingeweihter über die neue Lockerheit und den Enthusiasmus der Ehemänner, Väter oder Lehrer. Aber natürlich hat ein Mini-Dauerrausch auch seine Schattenseiten. Die Tragikkommödie des ehemaligen Dogma-Regisseurs Vinterberg (Das Fest) wurde vielfach, darunter mit Europäischen Filmpreisen und dem Oscar®, ausgezeichnet.
Der Rausch
Credits:
Druk, DK 2020, 110 Min., dän. OmU, Regie: Thomas Vinterberg Kamera: Sturla Brandth Grøvlen Schnitt: Janus Billeskov Jansen mit: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Lars Ranthe, Magnus Millang, Maria Bonnevie
Suzanne ist 16 Jahre alt und scheint nicht mehr in ihre bequeme kleine Welt zu passen. Eines Tages fällt ihr auf dem Schulweg ein gut aussehender Mann auf, er gefällt ihr, obwohl (oder weil?) er sichtbar älter ist als sie. Eine Liebesgeschichte, es ist ihre erste, beginnt.
Zweifellos beeinflusst durch das Kino von Maurice Pialat, dem Regisseur, der das Gefühlschaos in Teenagern vielleicht am besten erfasst hat, erweckt Lindon – die Tochter von Sandrine Kiberlain und Vincent Lindon ist hier Regisseurin, Autorin und Hauptdarstellerin in einem – die schüchterne junge Frau, die zu klug für ihr Alter ist, mit einer berührenden und zarten Darstellung zum Leben.
Fern (einfühlsam verkörpert von Frances McDormand) nimmt uns an der Hand auf ihrer Reise durch die USA, ins NOMADLAND. Gezwungen, in ihrem Transporter zu leben, hält sie sich mit saisonalen Gelegenheitsjobs über Wasser. Mal zusammen mit Gleichgesinnten, die wie sie in einer von Rezession gebeutelten Welt keinen Platz mehr finden. Dann wieder ist sie alleine unterwegs in den schier unendlichen Weiten Nordamerikas. Begleitet von der Schönheit der Landschaft. Dicht gefolgt aber auch von der Einsamkeit. Und all jenen Problemen, die ein Leben auf der Straße – nicht ohne Obdach zwar, doch ohne Haus – mit sich bringt. (Tobias Greslehner)
Nomadland
Nomadland
Credits:
USA 2020, 108 Min., engl. OmU, Regie: Chloé Zhao Kamera: Joshua James Richards Schnitt: Chloé Zhao mit: Frances McDormand, David Strathairn, Linda May, Swankie, Bob Wells
Hollywoodregisseur Orson Welles steht unter Druck. Sein Filmprojekt CITIZENKANE muss so rasch wie möglich abgeschlossen werden, doch das Drehbuch bereitet ihm Sorgen. Kurzerhand engagiert er den in Hollywood als „Drehbuchreparateur“ bekannten Autor Mank, um mit ihm zusammenzuarbeiten. Der Arbeitsprozess verläuft allerdings alles andere als reibungslos. Meinungsverschiedenheiten sind an der Tagesordnung und das skandalös-notorische Verhalten des alkohol- und spielsüchtigen Mank sorgen für Tumulte vor und hinter den Kulissen.
Regisseur David Fincher (FIGHTCLUB, GONEGIRL) erzählt die turbulente Entstehungsgeschichte von Orson Welles‘ filmischem Meisterwerk CITIZENKANE aus der Sicht des Drehbuchautors Herman J. Mankiewicz. Der jahrelange Streit zwischen dem Filmvisionär Orson Welles und dem unterschätzten Mankiewicz über die Urheberschaft des oscargekrönten Drehbuchs ist ebenso legendär wie der Film selbst.
Gedreht im Stil des Film Noir erweckt Fincher die Goldene Ära Hollywoods authentisch und stilecht wieder zum Leben und verleiht gleichzeitig neue Einblicke in die legendäre Zeit der Studiokinos. Mit hochkarätigen Schauspieler*innen wie Gary Oldman und Amanda Seyfried besetzt, gewann der Film bei der diesjährigen Oscarverleihung den Preis für die beste Kamera und für das beste Szenenbild.
Mank
Credits:
US 2020, 131 Min., engl. OmU Regie: David Fincher Kamera: Erik Messerschmidt mit: Gary Oldman Amanda Seyfried Lily Collins Tom Pelphrey Charles Dance Tuppance Middleton
Eine Reise entlang der Oder und der Neiße, entlang der deutsch polnischen Grenze. Begegnungen auf beiden Seiten der Flüsse. Erkundungen. Geschichten vom Rand – doch aus der Mitte Europas. Arbeit, Heimat, Liebe. Menschen, ihre Geschichte und ihre Landschaft. Im Süden Niederschlesien – dort, wo Polen Deutschland und Tschechien einander treffen, in der Mitte das flache Land an der Oder, im Norden, das Stettiner Haff. Eine Reise im Grenzland. Bewegungen und Geschichten im Grenzland zwischen Polen und Deutschland – mit seinem neuen Film knüpft Andreas Voigt thematisch an seine Arbeit „Grenzland – Eine Reise“ von 1992 an.
Grenzland
Credits:
DE 2020, 100 Min., Buch & Regie: Andreas Voigt Kamera: Marcus Lenz, Maurice Wilkerling Schnitt: Ina Tangermann
Als Lehrerin hat die bosnische Muslimin Aida (Jasna Ðuriči) vor Beginn des Jugoslawienkriegs gearbeitet, lebte mit Mann und zwei Söhnen in Srebrenica, gemeinsam mit Serben und anderen Ethnien, wie es im Vielvölkerstaat Jugoslawien Jahrzehntelang üblich war. Doch der Krieg hat aus Nachbarn Feinde gemacht, die Stadt steht unter Beschuss der bosnisch-serbischen Truppen unter ihrem Anführer Ratko Mladić (Boris Isaković), Gerüchte von Vergewaltigungen und Morden an der Zivilbevölkerung machen die Runde. Aida selbst ist nicht in Gefahr, sie arbeitet für die Blauhelme der UNPROFOR-Truppen als Übersetzerin, doch ihr Mann Nihad (Izudin Bajrović) und die beiden Söhne Hamidja (Boris Ler) und Ejo (Dino Bajrović) sind außerhalb der UN-Anlage, wo sich tausende Menschen unter der sengenden Sonne versammelt haben und Einlass begehren.
Im Inneren ahnt der niederländische Kommandant Karremans (Johan Heldenbergh), dass die Absprache, die er mit Mladić getroffen hat, nur Augenwischerei war: Der Zivilbevölkerung freies Geleit zu geben und nur Soldaten in Gewahrsam zu nehmen war die Vereinbarung, doch der Aufmarsch an schwer bewaffneten serbischen Soldaten lässt keinen Zweifel daran, was passieren wird. Mit zunehmender Verzweiflung versucht Aida Karremans davon zu überzeugen, zumindest ihre Familie zu retten, doch dem Kommandanten sind die Hände gebunden. Und so nehmen die Ereignisse ihren Lauf, an deren Ende über 8000 Tote stehen, ermordet im schlimmsten Massaker der europäischen Nachkriegsgeschichte.
Gleich mit ihrem Debütfilm „Grbavica“ hatte die bosnische Regisseurin Jasmila Žbanić 2006 den Goldenen Bären gewonnen, ein Film, in dem sie sich mit den psychologischen Folgen des Jugoslawienkrieges beschäftigt hatte. Das sie mit „Quo Vadis, Aida?“ in die Zeit des Krieges zurückkehrt und sich mit einem der am ausführlichsten dokumentierten Ereignisse des Krieges beschäftigt mag daher überraschen. Neue Einblicke in das Massaker kann es nicht geben, die Frage von Tätern und Opfern ist klar beantwortet, das Versagen der internationalen Gemeinschaft ausführlich dokumentiert. Zwischentöne gibt es dann auch bei Žbanić kaum: Wenn Aida auf der serbischen Seite einen ehemaligen Schüler entdeckt, scheint für kurze Momente die Frage aufzukommen, wie aus einst freundlichen Bekannten Gegner auf Leben und Tod werden können, doch schnell wird diese Ambivalenz beiseite gewischt. Etwas einfach macht es sich Žbanić oft, wenn sie die serbischen Truppen als waffenstarrende, glatzköpfige Muskelprotze schildert, die schon aus der Ferne wie blutrünstige Mörder aussehen, denen in Gestalt der kaum volljährig wirkenden holländischen Blauhelmtruppen, oft ohne Gewehr, dafür in kurzen Hosen kleine Jungs gegenüberstehen, die eher wie Pfadfinder wirken.
Einerseits bestätigt Žbanić dadurch die Klischees des Jugoslawienkrieges, andererseits kann es gerade im Fall des Massakers von Srebrenica keine Frage über Schuld und Unschuld geben. Die Komplexität der Ursachen des Krieges, die Verbrechen, die von allen Seiten begangen wurden, spielen in „Quo Vadis, Aida?“ jedoch keine Rolle, Jasmila Žbanić geht es nur darum, ein Ereignis in fast dokumentarischer Manier darzustellen. Ein Ziel, das ihr fraglos auch eindrucksvoll gelingt.
Michael Meyns
Quo Vadis, Aida?
Credits:
BA/AU/PL/DE/RO/FR/NO/TK/NL 2020, 104 Min. Regie & Buch: Jasmila Žbanić Kamera: Christine A. Maier Schnitt: Jarosław Kamiński Darsteller: Jasna Đuričić, Izudin Bajrović, Boris Ler, Dino Bajrović, Boris Isaković. Johan Heldenbergh, Raymond Thiry
Das Landleben wird immer gefragter, dabei werden die Schwierigkeiten, mit denen Gemeinden dort zu kämpfen haben, immer größer. Exemplarisch zeigt der Film drei Dörfer und drei Versuche, sie Leben zu lassen: eine Bürgermeisterin verklagt das Land Sachsen, weil die örtliche Schule geschlossen werden soll, eine Bäuerin setzt sich gegen die Agrarkonzentration zur Wehr, und ein Dorf möchte seinen Sternenhimmel vor Lichtverschmutzung retten. »Mein Film will nicht die altbekannten Klischees vom ländlichen Niedergang bedienen. Es geht um Persönlichkeiten, die sich mit Leidenschaft und Humor in einer Umgebung behaupten, die ihnen viel Einsatz abverlangt und manchmal verzweifeln lässt. Ihrem Blick in die Welt will der Film folgen und dabei ein gesell-schaftliches Phänomen, das uns überall in Europa betrifft, aus einer neuen, ungewöhnlichen Perspektive erfahrbar machen.« Gesa Hollerbach
Credits:
DE 2019, 93 Min., Buch und Regie: Gesa Hollerbach, Schnitt: Carina Mergens, Kamera: Jennifer Günther
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