Ein Fluss fließt ruhig dahin. An den Ufern läuft die Zeit rückwärts und fördert verschüttete Geschichten zutage. Im frühen 19. Jahrhundert wagen sich nicht nur Pelzjäger, sondern auch ein wortkarger Koch ins wilde Oregon. Der Einzelgänger trifft auf einen chinesischen Einwanderer, der sich als geschickter Unternehmer erweist und sein Freund wird. Das Duo kommt auf die Idee, Donuts zu backen und zu verkaufen, die im rauen Westen sehr gut ankommen. Der Haken: Den Rohstoff beschaffen sie illegal. Das Drehbuch schrieb Kelly Reichardt mit Jonathan Raymond, dem Autor der Romanvorlage. Einmal mehr erzählt die Regisseurin meisterhaft von einem Amerika fernab der großen Städte, das voller Verheißungen steckt. Wie ein Western ist First Cow eine Hommage an Menschen im Abseits, die ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen müssen – und hier statt mit dem Revolver mit Honiglöffel und Milcheimer hantieren. Auf diese Weise zeigen die Outlaws die „frontier“, Amerikas Projektionsfläche nationaler Träume, nicht als wirtschaftlich oder materiell zu erobernden Raum, sondern als Ort der Begegnung. Ein großartiges Alternativszenario mit besonderer gesellschaftlicher und politischer Bedeutung für die Gegenwart.
US 2019, 122 Min., engl. OmU Regie: Kelly Reichardt Kamera: Christopher Blauvelt mit: John Magaro, Orion Lee, Toby Jones, Scott Shepherd, Gary Farmer, Lily Gladstone
Der Klassiker Wuthering Heights – Sturmhöhe, einziger Roman der jungen Emily Brontë, wurde schon oft verfilmt, hier aber erstmals von einer Regisseurin. Es war ein die Erfüllung eines Traumes der Britin Andrea Arnold, bisher bekannt für zeitgenössische Regiearbeiten. Sie behandelt nur die erste Hälfte des Buches, und schaffte ein radikales Werk, das beim Filmfest Venedig verstörte und begeisterte. Nicht, dass die Rolle des aufgenommenen Sohnes Heathcliff mutig und nicht inkonsequent von einem schwarzen Schauspieler interpretiert wird, sondern die extreme Reduzierung des Stoffes auf die Kraft der Elemente, die Sinnlichkeit der Darstellung, die Entkleidung von jeder Romantik ohne Verleugnung des Emotionalen machen den Film zu einer besonderen Erfahrung. Die Geschichte der aussichtslosen Liebe zwischen dem fremden Jungen und Cathy, Tochter des Hauses, ist geprägt von Standesdünkel und Verzweifelung, Macht und Ohnmacht und korrespondiert mit der rauhen und auch unwirtlichen, aber reizvollen Umgebung der Yorkshire Dales. Die Regisseurin drang dabei vor zum Kern des Romans, der bei seiner Veröffentlichung 1847 in die viktorianische Epoche einschlug wie ein Blitz. „Arnolds Interpretation erlangt ihren Zauber durch eine Achtsamkeit für die einzelnen Ingredienzien … . Dieses erreicht sie – obschon das paradox erscheint – gerade durch einen prononcierten Realismus der Darstellung, der fern jeder Verklärung ist. Dazu gehört auch ein feines Gehör für die vielfältigen Naturgeräusche sowie der Verzicht auf solche Musik, die nicht zur Handlung gehört, wie etwa einfache Lieder, die Cathy singt. Erst zum Abspann ertönt der wehmütige Song «The Enemy» der Band Mumford & Sons.“ Susanne Ostwald, NZZ
GB 2011, 128 Min., engl. OmU Regie: Andrea Arnold mit Kaya Scodelario, Nichola Burley, Steve Evets, James Howson, Shannon Beer, Solomon Glave
In „Schnee von Gestern“ nahm sich die Regisseurin der Geschichte ihrer Großmutter und deren Bruder an. Diesmal fährt sie zurück in ihre Geburtstadt, um Gleichaltrige nach ihrem bisherigen Lebensweg zu befragen. 32 Kinder gab es 1988 in der Klasse von Reuveny, die damals 8 Jahre alt war, in einer Schule in Petach Tikwa, was soviel bedeutet wie „Tor der Hoffnung.“ Hoffnungsträger waren die Kinder, die ihre Familien und den Staat Israel stärken und gemeinsam eine friedliche und sichere Zukunft aufbauen sollten. In Super-8-Aufnahmen aus der Kindheit und pointierten Kurzporträts ihrer damaligen Mitschülerinnen und Mitschüler überdenkt die in Berlin lebende Filmemacherin Yael Reuveny ihr eigenes Selbstverständnis und das ihrer Generation, auch angesichts der andauernden Kriege und Konflikte.
Kapitän Jakob Störr ist auf Landgang. In einem Café verkündet er, er werde die nächste Frau heiraten, die das Lokal betritt. Es ist Lizzy, eine undurchschaubare Schönheit. Überraschenderweise ist sie mit Störrs Vorschlag einverstanden – doch sein Glück bleibt nicht lange ungetrübt. Immer wieder ist er wochenlang auf hoher See und fragt sich, was die lebenslustige Lizzy wohl treiben mag, wenn er nicht da ist. Der Kapitän verirrt sich zunehmend in einem Labyrinth aus Leidenschaft und Eifersucht, ist zwischen inniger Liebe und Misstrauen hin- und hergerissen…
Nach ihrem Berlinale-Gewinner «On Body and Soul» inszeniert die vielfach preisgekrönte Regisseurin Ildikó Enyedi mit «The Story of My Wife» erneut ein aussergewöhnliches Liebes-Epos. Léa Seydoux («Saint Laurent», «Spectre – 007») verleiht Lizzy grossen Charme, an ihrer Seite glänzt Gijs Naber als Jakob Störr. In weiteren Rollen sind die junge Schweizerin Luna Wedler, Louis Garrel und Josef Hader zu sehen. Basierend auf dem gleichnamigen Roman des nobelpreis-nominierten ungarischen Autors Milán Füst zeichnet «The Story of My Wife» ein atmosphärisches Bild vom Europa der wilden 1920er-Jahre und erzählt dabei eine so zeitlose wie universelle Geschichte über die Liebe mit all ihren Irrungen und Wirrungen. Eine tiefgründige, poetische Film-Perle Ein Film von klassischer Eleganz mit magisch-opulenten Bildern.
Credits:
The Story of my Wife HU / FR/ DE 2021, 169 Min., engl. OmU Regie: Ildikó Enyedi Buch: Ildikó Enyedi, nach dem Roman von Milán Füst Kamera: MARCELLRÉV Schnitt: KÁROLYSZALAI mit: Léa Seydoux, Gijs Naber, Louis Garrel, Luna Wedler, Ulrich Matthes
Mit der kleinen Autofähre, die vom größeren Gotland auf das winzige Fårö führt setzen sie über: Chris (Vicki Krieps) und Tony (Tim Roth), Filmemacher, Paar und Eltern einer Tochter, die bei den Großeltern geblieben ist. Denn die Eltern wollen auf Bergmans Insel den Spuren des legendären Regisseurs folgen, Inspiration finden und an neuen Projekten arbeiten. Doch dass sie ausgerechnet im Bett schlafen sollen, in dem Bergman einst seinen legendären Film „Szenen einer Ehe“ gedreht hat, der angeblich tausende Beziehungen beendete, stößt gerade der deutlich jüngeren Chris übel auf.
Während ihr Mann Tony Inspiration spürt, fühlt sich Chris durch die Präsenz Bergmans eingeschüchtert, während Tony problemlos schreibt und im Bergman-Museum seine Filme zeigt, stromert Chris ziellos über die Insel und denkt mehr über sich und ihre Beziehung nach, als über ihren Film. Doch ist das nicht dasselbe? Bald beginnt sie Tony von ihrem Projekt zu erzählen, der von der Filmemacherin Amy (Mia Wasikowska) handelt, die für eine Hochzeit nach Fårö kommt und dort ihre Jugendliebe Joseph (Anders Danielsen Lie) wieder trifft. Sie verbringen die Nacht miteinander, doch es gibt keine Zukunft für das Paar. Nicht zuletzt, weil Amy inzwischen ein Kind mit einem anderen Mann hat.
2007 starb Ingmar Bergman auf Fårö und ist auf dem kleinen Kirchhof der Insel begraben. Sein ehemaliges Wohnhaus bietet inzwischen Künstlern an, Zeit auf der Insel zu verbringen und an Projekten zu arbeiten. Hier verbrachten auch Mia Hansen-Løve und ihr langjähriger Lebensgefährte, der Regisseur Olivier Assayas Zeit, arbeiteten so wie die Figuren in „Bergman Island“ an Projekten. Unzweifelhaft ist Hansen-Løves Film also autobiographisch, so wie die meisten ihrer bisherigen Filme mehr oder weniger von Menschen aus ihrem nächsten Umfeld inspiriert waren: „Eden“ von ihrem Bruder, „Alles was kommt“ von ihrer Mutter. Doch im Gegensatz zu vielen Filmemachern, die glauben, dass es ausreicht vom eigenen Leben zu erzählen, um einen interessanten Film zu drehen, ist Hansen-Løve bewusst, dass das nicht genug ist: Das persönliche Erlebnis muss zu einer universellen Geschichte überhöht werden, um Allgemeingültigkeit zu erlangen.
Und so erzählt Mia Hansen-Løve zwar auf verschachtelte Weise von zwei Filmemacherinnen, die ohne Frage auch Teile ihres eigenen Wesens, ihrer Gedanken und Überlegungen verkörpern, die aber vor allem von universellen Themen erzählen. Nicht zuletzt von der Vereinbarkeit von Familie und Karriere, dem gesellschaftlichen Druck, sich zu entscheiden. Ein Mann wie Bergman – der heutzutage ohne Frage als alter, weißer Mann bezeichnet werden würde – hatte es da einfacher: Neun Kinder von sechs Frauen hatte er, die bis ins Erwachsenenalter fast vollständig von den Frauen oder Dienstmädchen aufgezogen wurden. Nur so hatte der Workaholic die Zeit, sich ganz seiner Kunst hinzugeben, dutzende Filme zu drehen und quasi nebenbei noch am Theater zu inszenieren.
Auch Mia Hansen-Løve hat inzwischen ein Kind mit Assayas, von dem sie seit einigen Jahren getrennt ist, auch ihre Surrogate Chris und Amy befinden sich in ähnlichen Situationen, auf die sie jedoch ganz unterschiedlich reagieren. Wie sehr „Bergman Island“ autobiographisch ist, darüber lässt sich reichlich spekulieren. Vor allem aber ist Hansen-Løve ein wunderbar reicher Film über das Wesen einer (bzw. mehrerer) Künstlerinnen gelungen, die in einer oft nur scheinbar freien Welt nach sich selbst und ihrem Gleichgewicht suchen. Dass „Bergman Island“ zudem eine leichte, verspielte Hommage an einen der Säulenheiligen des Kinos ist, macht ihn nur noch vielschichtiger.
Michael Meyns | programmkino.de
Credits:
FR/BE/SW/DE/MX 2021, 112 Min., engl. OmU Regie & Buch: Mia Hansen-Løve Kamera: Denis Lenoir Schnitt: Marion Monnier mit: Vicky Krieps, Tim Roth, Mia Wasikowska, Anders Danielsen Lie, Melinda Kinnaman, Joel Spira
Trailer:
Bergman Island – Official Trailer | HD | IFC Films
Montag, 18.10. 2021, 19:00 EXPERIMENTALPROGRAMM – [Tickets] The Spot von Kani Kamil / 2:33’ / UK / 2015 Kooperationsprojekt zwischen Shero Abbas und Kani Kamil aus dem Jahr 2015 und Teil des Forschungsprojekts zur Not der Frauen im Südkurdistan. Die weibliche Hand behauptet sich als wahrheitsgetreuer Geschichtenerzähler. Personae von Havin al-Sindy/ DE / 2019/20/ 11’12“ Die Arbeit „Personae“ ist ein Prozess, welches sich auf mehreren Ebenen mit den Themen der Mehrsprachigkeit und der Beziehung beschäftigt und sich dabei performativen und malerischen Mittel bedient. blue beard today’s tale von Khadija Baker / 15:00’ / CAN / 2021 Khadija Baker erzählt in ihrer Videoarbeit das französische Volksmärchen Blaubart aus feministischer Perspektive, um den anhaltenden Missbrauch des weiblichen Körpers zu durchbrechen. Bad People, Bad News von Cemile Sahin / DE / 2021⁄40′ Historischer Ausgangspunkt für die essayistische Filminstallation Bad People, Bad News bildet die Geschichte um das von Saddam Hussein 1989 errichtete Monument „Schwerter von Kadesia“. Ausgehend von der Entstehungsgeschichte des Monuments thematisiert die Arbeit die Frage, wie Ideologien von Diktaturen ein Teil der Geschichtsschreibung werden. Pre-Image (Blind as the Mother Tongue) von Hiwa K / ENG / 18 min / 2017 To remember, sometimes you need other archaeological tools says the voice over in Hiwa K’s Pre-Image (Blind as the Mother Tongue). The video depicts the artist walking across fields, wastelands, estates, going from Turkey to Athens and then to Rome, a path that mirrors his own journey as a child, when he fled Iraqi Kurdistan and reached Europe by foot. His “Pre-images” are fragments of a path whose final destination is uncertain.
Am Dienstag, den 19.10.2021, 19:00 Uhr Kurzfilmwettbewerb, Block II – [Tickets] 90 min Ausgewählte Kurzfilme von aufstrebenden kurdischen und internationalen Filmemacher*innen laufen in dem Kurzfilmwettbewerb des 11. Kurdischen Filmfestivals. Mit Filme von: Kardinal Hemn, Saman Mustefa, Mehmet Karagöz, Dana Karim, Jwan Abdo, Asghar Laei, Mohammad Farajzadeh
Regisseurin Janna Ji Wonders erzählt die Geschichte der Frauen ihrer Familie über ein Jahrhundert. Verbindendes Element und stiller Chronist ist der bayerische Walchensee, an dem die Familie 1920 ein Ausflugscafé eröffnet, das bis heute existiert. Die imposante Gründerin Apa vermacht ihrer Erstgeborenen Norma das Unternehmen, das diese ohne zu klagen bis ins hohe Alter führt. Normas Töchter Anna und Frauke verlassen den See. Sie wollen sich befreien und bereisen als Musikerinnen die Welt. Doch sie kehren zurück und leben in einer Kommune um Rainer Langhans. Frauke, die sich nach der großen Liebe sehnt, kommt auf mysteriöse Weise ums Leben und wird für die Hinterbliebenen zum Irrlicht. Die rastlose Anna zieht in die USA, wo sie ungeplant eine Tochter bekommt. Von den Schatten der Vergangenheit gerufen, kehrt sie mit Tochter Janna zurück an den Walchensee, wo Großmutter Norma für die Enkeltochter zur wichtigen Bezugsperson wird. Als Regisseurin sucht Janna Antworten auf die Fragen wie: Was ist Heimat? Wie sehr prägt mich meine Herkunft? Was zählt am Ende wirklich? Und findet Anhaltspunkte in der Verbundenheit von vier Generationen von Frauen mit unterschiedlichen Lebenskonzepten.
Credits:
DE 2020, 110 Min., dt, engl. OmU, Regie: Janna Ji Wonders Kamera: Janna Ji Wonders, Sven Zellner, Anna Werner Schnitt: Anja Pohl
In einer Provinzvorstadt sind drei Nachbar*innen mit den Auswirkungen der schönen neuen Social-Media-Welt konfrontiert. Marie, die von den Familienbeihilfen ihres Gatten lebt, hat Angst, wegen eines Sextapes den Respekt ihres Sohnes zu verlieren. Bertrand kann bei Werbeanrufen nicht Nein sagen und kämpft um das Wohl seiner Tochter, die im Internet gemobbt wird. Christine steht durch ihre TV-Serien-Abhängigkeit vor dem Nichts und fragt sich, warum ihre Bewertung als Uber-Fahrerin nicht steigt. Die drei Einzelkämpfer*innen sind unfähig, allein eine Lösung für ihre Probleme zu finden, bis sie sich zusammentun und den Tech-Giganten den Kampf ansagen. Effacer l’historique, vordergründig eine Situationskomödie, beschreibt treffend wie wenige andere Filme die Realität im 21. Jahrhundert: Es gibt weder Geschichte noch Geschichten, weder links noch rechts. Statt eines Vorgesetzten, der unseren Gehorsam einfordert, beherrscht uns eine unsichtbare, Daten spuckende Cloud und verschlingt unsere Identität. Delépines und Kerverns dritter Berlinale-Beitrag ist eine empathische Hommage an die „Abgehängten“, die uns und unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit einen Spiegel vorhalten.
Ein beliebiger Tag in der nahen Zukunft, ein Stromausfall legt das Leben in der türkischen Metropole Istanbul still, auch wenn die Werbung im Autoradio eine unbeschwerte Zukunft verspricht. Nicht in den eleganten Vierteln der Innenstadt spielt „Ghosts“, nicht dort, wo wohlhabende Istanbuler einem westlichen Lebensstil nacheifern, sondern am Rand der Megalopolis, in Vierteln, die von baufälligen Gebäuden geprägt sind, vom täglichen Kampf ums Überleben erzählen.
In diesen Straßen leben die vier Protagonisten von „Ghosts“, drei Frauen und ein Mann, deren Wege sich im Verlauf der 90 Minuten immer wieder kreuzen. Da ist Didem (Dilayda Gunes), die davon träumt, durch ihre Leidenschaft zum Tanzen Geld zu verdienen, die sich momentan aber noch mit Gelegenheitsjobs durchschlägt. Iffet (Nalan Kurucim) arbeitet bei der Müllabfuhr und versucht mit zunehmender Verzweiflung Geld aufzutreiben, um ihren Sohn zu unterstützen, der im Gefängnis sitzt und sich Angriffen ausgesetzt sieht. Die Aktivistin Ela (Beril Kayar) kämpft gegen die betrügerischen Machenschaften der öffentlichen Verwaltung, die zur Gentrifizierung der Stadt beiträgt und langjährige Mieter aus ihren Wohnungen vertreibt. Ein Teil dieses Systems ist Rasit (Emrah Ozdemir), der zu völlig überhöhten Preisen Räume an syrische Flüchtlinge vermietet.
Viele Aspekte des Lebens in der modernen Türkei reißt Azra Deniz Okyay in ihrem Debütfilm an, vom Umgang mit den Flüchtlingen aus dem benachbarten Syrien, über die misogynen Strukturen, die Frauen gleichermaßen sexualisieren, ihnen aber auch viele Freiheiten vorenthalten, bis zum Kampf gegen Korruption und Machtmissbrauch, der nach fast einem Jahrzehnt der zunehmend autokratischen Herrschaft von Recep Tayyip Erdoğan immer stärker wird.
Zwangsläufig bleiben manche Ansätze schematisch, werden einzelne Figuren weniger vielschichtig gezeichnet als andere, wirkt manche Metapher – der Stromausfall, der droht, die Gesellschaft in Dunkelheit versinken zu lassen! – weniger subtil als andere. Doch die überzeugenden Momente überwiegen bei weitem. Gerade für einen Debütfilm gelingt es Okyay außerordentlich gut, die Geschichten, die Schicksale ihrer vier Protagonisten zu gewichten, rhythmisch zwischen den Episoden hin und her zu schneiden und so ein vielschichtiges Porträt der modernen Türkei zu entwickeln.
So pessimistisch ihr Blick auf ihr Land oft auch wirkt, so viele Missstände angedeutet werden, so rückständig gerade die Rolle der Frau oft wirkt: Hoffnungslos wirkt die Situation nicht. Gerade im Tanz findet Dilem und mit ihr der Film ein Ventil, ihre Energie auszuleben, sich zu verlieren und für Momente alle Sorgen zu vergessen. Wie es nach diesem einen Tag mit den Figuren weitergeht bleibt unklar, ihr Weg ist ebenso offen wie der Weg, den die Türkei in den nächsten Jahren einschlagen wird.
Michael Meyns | programmkino.de
Credits:
Hayaletler TK/FR 2020, 90 Min., türk. OmU Regie & Buch: Azra Deniz Okyay Darsteller: Dilayda Gunes, Nalan Kurucim, Beril Kayar, Emrah Ozdemir, Ahmet Turan, Ihsan Ozgen, Ekin Aribas
Schon mit ihrem Debütfilm „Raw“ spaltete die junge französische Regisseurin Julia Ducournau die Geister, damals variierte sie Motive des Zombiefilms, bediente sich queerer Ästhetik und blieb ebenso rätselhaft, wie sie es auch nun, in ihrem zweiten Film „Titane“ ist. Es beginnt mit einem nervenden Kind namens Alexia auf dem Rücksitz eines Autos, der Vater ist abgelenkt und baut einen Unfall. Schwer verletzt überlebt das Kind und bekommt eine Platte aus Titan in den Kopf gepflanzt.
Jahre später ist Alexia erwachsen und wird vom Model Agathe Rousselle gespielt, deren androgyne Gestalt andeutet, wie sehr es fortan um Fragen von Geschlechtszugehörigkeit, Transformation, Diversität gehen wird. Alexia arbeitet als Tänzerin auf Autoshows, räkelt sich verführerisch auf den Motorhauben ebenso verführerischer Autos, nimmt danach gerne einen lechzenden Zuschauer zum Sex mit – und tötet ihre Lover mit dem Stich einer langen Haarnadel direkt ins Gehirn.
Wie lange sie schon so agiert bleibt offen, nach einem ausufernden Gemetzel ist ihr die Polizei jedoch so sehr auf der Spur, dass sie die Identität wechselt. Sie gibt sich als Adrien aus, ein Junge, der seit Jahren vermisst wird. Er war der Sohn von Vincent (Vincent Lindon), der als Kapitän einer Feuerwache schon beruflich mit Testosterongeschwängerten Männern zu tun hat, sich selber Steroide spritz und seinen alternden, faltigen Körper mit Klimmzügen strafft.
Vincent nimmt Alexia als Sohn auf, auch wenn er schnell ahnt, dass dieser Sohn nicht der ist, den er einst verloren hat. Zumal Alexias Bauch immer dicker wird und sich nur noch mit großen Mühen und nicht unerheblichen Scherzen abbinden lässt, denn Alexia ist schwanger, vermutlich vom Sex mit einem Auto. Wenn die sich zunehmend verändernde Frau blutet, tropft eine schwarze Flüssigkeit aus den Wunden, die an Maschinenöl erinnert und die Frage aufwirft, was Alexia eigentlich ist, vor allem aber, ob es für Vincent eine Rolle spielt, wen er da eigentlich liebt.
Bezüge zu den Body-Horror-Filmen von David Cronenberg, nicht zuletzt „Crash“, scheinen ebenso deutlich zu sein wir Referenzen zu Filmen wie Shinya Tsukamotos “Tetsuo: The Iron Man“, vor allem aber auch außerfilmischen Debatten über Diversität, Transsexualität oder toxischer Männlichkeit. Julia Ducournaus „Titane“ mutet oft wie ein Film an, der wie dazu gemacht ist, in Seminararbeiten analysiert zu werden, als Beispiel für ein Kino herzuhalten, dass auf moderne, gewagte Weise den Zeitgeist spiegelt.
Kein Wunder, bleibt „Titane“ in seinem wilden, mal verstörenden, mal mitreißenden, mal albernden Spiel mit Genrebildern, exzessiver Gewalt und gleißenden Aufnahmen menschlicher und maschineller Körper doch so offen – manche werden sagen: beliebig – dass sich unzählige Lesarten anbieten. Ein Film wie ein Rorschach-Test also, ein Film, der von jeder Zuschauerin, jedem Zuschauer anders gelesen werden wird, aber in jedem Fall einen Nerv der Zeit trifft.
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