Ein Film von Nadine Labaki.
„Born, never asked“ (Laurie Anderson) wäre auch ein passender Titel zu Nadine Labakis Gewinner des Jury- und anderer Preise in Cannes, Capernaum. So heißt ein biblischen Fischerdorf am See Genezareth, aber das Wort bedeutet auch Chaos, und das passt genau zu Umgebung und Leben von Zain (Zain Al Rafeea, wie viele andere im Film ein – großartiger – Laiendarsteller). Der ungefähr 12-jährige Junge, weder er noch sonst jemand kennt sein Alter, klagt vor Gericht seine Eltern an, ihn gezeugt zu haben. Rückblickend lebt er in Beirut in äußerst prekären Verhältnissen bei den Eltern, bis die, angewiesen auf das Geld, seine geliebte Schwester Sahar viel zu jung verheiraten, d.h. verkaufen. Wutentbrannt verlässt Zain die ärmliche Wohnung und die Familie, ohne Ziel und Zukunft. Beim Vergnügungspark am Meer trifft er auf Rahil, eine junge Frau aus Äthiopien, ebenso wie er ein Mensch ohne Papiere. In ihrer Hütte findet er Unterschlupf und passt dafür auf den Sohn auf, während sie arbeitet – bis Rahil eines Tages verschwindet und er allein verantwortlich für den kleinen Yonas ist.
Nadine Labaki macht sich ganz zur Anwältin von Ungerechtigkeit und vor allem der Kinder, im Film sogar in Persona. Ganz nah an Zain bleibt die Kamera, auf Augenhöhe begleitet sie ihn auf den Strassen und bei seinem Bemühen, durch diese Welt zu kommen. Das ist so authentisch wie hart, für Subtilität ist kein Platz. Der Film geht, weitgehend ohne rührselig zu sein zu Herzen (falls dort kein Stein ist). Ab und zu lauert dann allerdings doch Musik unter den Bildern, um im passenden Momenten die Dramatik abzufedern, gerade zum Schluss, wo uns der Film mit einem großen Trostpflaster (Taschentuch!) entlässt.
In vielen Filmen ist es ein Zeichen der Hoffnung, Kinder auf die Welt zu bringen, gleich, wie brutal und unwohnlich diese auch ist (siehe Alfonso Cuaróns „Children of Man“). Als Hoffnungsträger sehen sich Zains reale Vorbilder wohl kaum.
Über ihre ausgiebige Recherche auf den Straßen, in Lagern und in Gefängnissen sagt sie: „Zain verklagt ja nicht nur seine Eltern, er verklagt das System. Seine Eltern sind genauso Opfer wie er selbst. Wir denken immer nur an das Recht der Eltern, Kinder zu bekommen, aber nie an die Rechte des Kindes, wenn es geboren wird. Etwa das Recht, als Mensch behandelt zu werden. Zu dieser Frage haben mich all die vernachlässigten Kinder gebracht. Ich fragte sie, ob sie glücklich seien, am Leben zu sein. Die meisten sagten: „Nein, ich wünschte, ich ich wäre niemals geboren worden. Ich weiß nicht mal, warum ich geboren wurde. Niemand liebt mich. Ich werde jeden Tag misshandelt. Warum bin ich da?“
(im Konkret-Interview)
Capharnaüm کفرناحوم
Libanon 2018, arab. OmU, 126 Min.
Regie: Nadine Labaki
Kamera: Christopher Aoun
Schnitt: Konstantin Bock
Buch: Nadine Labaki, Jihad Hojeily, Michelle Kesrouani, Georges Khabbaz, Khaled Mouzanar
mit: Zain Al Rafeea, Yordanos Shiferaw, Boluwatife Treasure Bankole, Kawthar Al Haddad, Fadi Kamel Youssef, Cedra Izam
Freigegeben ab 12 jahren (FSK)
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