Virgin Mountain

Ab 12.11. im Kino. Premiere am 8.11. in Anwesenheit von Dagur Kari.

Mit viel Sympathie für Außenseiter, Andersdenkende, Introvertierte beschreibt Dagur Kári in sei­ner sehens­wer­ten Tragikomödie „Virgin Mountain“ einen Mann, der schon über 40 ist, aber noch immer bei Muttern wohnt, vor allem aber noch nach sei­nem Platz im Leben sucht.

Vielleicht liegst es an der Isolation, dass gesell­schaft­li­che Außenseiter auf Island noch eine Spur wun­der­li­cher wir­ken als auf dem Kontinent. So einer ist Fúsi (Gunnar Jonsson), Mitte 40, über­ge­wich­tig, mit trau­ri­gem Blick, den er gern hin­ter lan­gem, dün­nem Haar ver­steckt. Dass er auf dem Flughafen arbei­tet, ist beson­ders iro­nisch, denn weder hat er die Insel noch das Elternhaus jemals ver­las­sen. Er lebt noch bei sei­ner Mutter (Margret Helga Johannsdottir) und folgt den immer­glei­chen Routinen: mor­gens eine Schüssel Cornflakes, jeden Freitag ein Essen bei einem Asiaten, wo er stets das glei­che Gericht isst, dazu regel­mä­ßi­ge Treffen mit einem Freund, mit dem er Schlachten aus dem Zweiten Weltkrieg nachspielt.

So wür­de es wohl ewig wei­ter­ge­hen, doch meh­re­re Ereignisse las­sen Fúsis Leben aus der Bahn gera­ten: Die klei­ne Tochter eines Nachbarn sucht sich Fúsi als Spielpartner aus, was der erst irri­tiert zur Kenntnis nimmt, dann aber doch Spaß an der Kommunikation fin­det. Noch wich­ti­ger ist jedoch die Begegnung mit Sjöfn (Ilmur Kristjansdottir), die Fúsi aus­ge­rech­net bei einem Kurs im Linedance ken­nen lernt, den er zum Geburtstag geschenkt bekom­men hat. Doch so aus­ge­gli­chen und mit sich im Reinen, wie sie zunächst wirkt, ist Sjöfn nicht. Bald stellt sich her­aus, dass sie an Depressionen lei­det, doch das kann Fúsi nicht schre­cken: obwohl er mit stän­dig wech­seln­der Zuwendung und Zurückweisung zu kämp­fen hat, hilft er Sjöfn wo er kann und beginnt auch sonst, aus sei­ner Haut zu kom­men – zumin­dest ein wenig.

Die Betonung liegt auf „ein wenig“, denn zum Glück erzählt Dagur Kári in sei­nem bes­ten Film seit sei­nem viel beach­te­ten Debüt „Noi Albinoi“ nicht die Geschichte eines gro­ßen Wandels, son­dern die von klei­nen Veränderungen. Zwar folgt die Grundkonstruktion von „Virgin Mountain“ den Mustern einer roman­ti­schen Komödie, doch spä­tes­tens wenn Sjöfn in Depressionen ver­fällt, weicht Kári von die­sem Muster ab. Statt zu behaup­ten, dass sich eine Figur wie Fúsi, die ihr gan­zes Leben im sel­ben Trott gelebt hat, deren Eigenarten und Macken so fest­ge­fah­ren sind, inner­halb kur­zer Zeit zu einem völ­lig ande­ren Menschen ver­än­dern kann, wählt er einen rea­lis­ti­schen, aber des­we­gen nicht min­der inter­es­san­ten Ansatz.

Nicht zuletzt dank der – in jeder Hinsicht – gro­ßen Präsenz sei­nes Hauptdarstellers Gunnar Jonsson gelingt es, auch Kleinigkeiten als die gro­ßen Momente dar­zu­stel­len, die sie sind: Wenn da Fúsi zum ers­ten Mal beim Asiaten sitzt und etwas ande­res bestellt oder sich zum ers­ten Mal gegen Arbeitskollegen zur Wehr setzt, die sei­ne Gutmütigkeit aus­nut­zen, dann spürt man, wie sich die­ser mas­si­ge Mensch emo­tio­nal in Bewegung setzt. Dass es in „Virgin Mountain“ kein klas­si­sches Happy End gibt, schwächt den Film in kei­ner Weise – im Gegenteil. Mit sei­nem lako­ni­schen Erzählton und der gro­ßen Sympathie für einen unge­wöhn­li­chen, intro­ver­tier­ten Mann über­zeugt „Virgin Mountain“ als genau beob­ach­te­tes Porträt eines beson­de­ren Menschen.
Michael Meyns

OT: Fúsi
Island 2015, 94 Minuten, islän­di­sche OmU
Regie, Buch: Dagur Kári
Kamera: Rasmus Videbæk
Schnitt: Andri Steinn Gudjónsson, Olivier Bugge Coutté, Dagur Kári
Darsteller: Gunnar Jonsson, Ilmur Kristjansdottir, Margret Helga Johannsdottir, Sigurjon Kjartansson, Franziska Helga Johannsdottir


im Kino mit deut­schen Untertiteln