Ein Film von Leonie Krippendorff.
„Wir sind wie Fische im Aquarium. Wir schwimmen immer im Kreis.“ lässt Leonie Krippendorff ihre Heldin Nora ganz am Anfang sagen. Mit der Handykamera gefilmte Bilder von Blumen,
Schmetterlingen, dem Kottbusser Tor sind da zu sehen, die in ihrem Hochkant-Format nur einen kleinen Teil der Leinwand ausfüllen. 14 Jahre ist Nora (Lena Urzendowsky) alt, bzw. jung, ein verschlossenes, etwas schüchternes Mädchen, das im Kreis der Freunde ihrer etwas älteren Schwester Jule (Lena Klenke) eher Mitläuferin ist als wirklich dabei. Im Laufe des Films wird sich das ändern, wird Nora Erfahrungen sammeln, wird das Bildformat immer breiter werden, als wollte es Platz machen, für all die neuen Erfahrungen und Sinneseindrücke, die nicht mehr in das kleine Handyformat passen.
Nora und Jule wachsen am und um den Kottbusser Tor auf, das Zentrum von Kreuzberg, eine Gegend, die oft als gefährlichster Ort der Hauptstadt beschrieben wird, an dem der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund hoch ist, an dem Heranwachsende aber auch ein besonders großes Maß an Freiheit haben. Gerade wenn die alleinerziehende Mutter ihre Zeit lieber in einer Kneipe verbringt, als sich um ihre Töchter zu kümmern, die so schon viel zu früh gezwungen sind, auf sich selbst aufzupassen.
Gerne sonnen sie sich auf den Dächern der Wohnblocks, fangen an zu rauchen, nicht nur Zigaretten, hängen in Cafés ab, wo sie um die Aufmerksamkeit der Jungs buhlen oder gehen ins nahe gelegene Freibad. Dort sieht Nora auch zum ersten Mal Romy (Jella Haase), ein etwas älteres Mädchen, das auch auf ihre Schule geht und schon allein äußerlich anders ist: Wilde Haare, bunte Klamotten, ganz offensichtlich keinen Wert darauflegend, von allen gemocht zu werden.
Und da auch Nora anders ist, nachdenklicher, in Gläsern in ihrem Zimmer Raupen heranzieht, die sich verpuppen und zu Faltern verwandeln und auch beim Referat mit nur wenig Scheu von ihren Ängsten und Träumen berichtet, finden sie und Romy zusammen. Unbeschwerte Momente verbringen die beiden, doch was für Romy eine intensive erste Erfahrung ist, ist für Romy nur ein Spiel.
Ja, die Metapher von der Raupe, die sich zum Schmetterling verwandelt, ist nicht subtil, doch das ist der einzige Aspekt von Leonie Krippendorffs „Kokon“, der ein wenig bemüht wirkt. Abgesehen davon gelingt der Berliner Regisseurin in ihrem zweiten Film eine Coming-of-Age-Geschichte, die durch ihre genau beobachteten Lebensumstände überzeugt. Um die professionellen, schon erfahrenen Hauptdarsteller hat Krippendorff ein Ensemble aus jungen Gesichtern geschart, die weniger Rollen spielen als sie selbst zu sein. Egal ob in der Schule, wo sich aufgeplustert und angegeben wird, in der Freizeit, wo um die Gunst der Mädchen gebuhlt wird oder einfach auf den Straßen um das Kottbusser Tor: Wie eine Dokumentation wirkt „Kokon“ oft, ohne in einen problembehafteten Sozialrealismus zu verfallen. Was teilweise wie oberflächliches Verhalten wirkt, wie ein in den Tag hineinleben, erscheint hier wie pure Authentizität. Das Krippendorff gerade auch die kaum verhohlene Homophobie dieser Welt nur andeutet und nicht mit erhobenem Zeigefinger anprangert, zeichnet ihren Blick aus. Keine moralische Lektion wird hier erteilt, sondern das Leben junger Menschen in Kreuzberg Anno 2020 gezeigt; unverblümt, direkt und authentisch.
Michael Meyns | programmkino.de
DE 2020, 95 Min., dt. OmeU
Regie & Buch: Leonie Krippendorff
Schnitt: Emma Alice Gräf
Kamera: Martin Neumeyer
mit: Lena Urzendowsky, Jella Haase, Lena Elenke, Elina Vildanova, Anja Schneider, Denise Ankel