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Plan 75

Plan 75

Ein Film von Chie Hayakawa.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Was ist der Guppenplan? Kann die „Vorschusszahlung“ belie­big aus­ge­ge­ben wer­den, oder geht sie für die Beerdigung drauf? Die 78-jäh­ri­ge Michi hat vie­le Fragen zum neu­en staat­li­chen Programm PLAN 75. Die Gewalt gegen alte Menschen hat­te ein so gro­ßes Ausmaß ange­nom­men, dass drin­gend agiert wer­den muss­te. PLAN 75 gilt als die Lösung, auf die alle Welt schaut: Wer 75 ist und sich anmel­det, bekommt zum Zeitpunkt sei­ner Wahl einen sanf­ten, wür­de­vol­len Tod. So kann die Zahl der Alten, die der Allgemeinheit teu­er kom­men, schnel­ler als natür­lich redu­ziert wer­den.
Lebensmüde ist Michi eigent­lich nicht, aber nach­dem sie ihren Job und auch ihre Wohnung ver­liert, weiß sie nicht wei­ter. Sozialhilfe bean­tra­gen will sie, wie die meis­ten Rentner:innen in Japan, die nicht genug zum Leben haben, nicht.
Yoko und Hiromu sind jung und ange­stellt bei PLAN 75, zur Aufnahme und Betreuung der Klienten:innen. Die Filipina Maria bekommt ein Arbeitsangebot von PLAN 75, wo sie genug ver­die­nen kann, um ihre klei­ne Tochter daheim zu ver­sor­gen. Freundlich und höf­lich im Umgang, ist den drei­en nicht bewusst, was sie da tat­säch­lich tun. Erst beim nähe­ren, aber ver­bo­te­nen Kontakt zu Michi kom­men Yoko Zweifel. Hiromu erst, als sich ein Onkel aufs Sterben vor­be­rei­tet.
Schön und sau­ber, ruhig und ser­vice­ori­en­tiert ist die Welt in die­ser nicht so fer­nen Zukunft, und der Film fin­det die pas­sen­den Bilder dazu.
Chie Hayakawa: „Der Film beschreibt die into­le­ran­te Atmosphäre gegen­über so­zial schwa­chen Menschen, ein­schließ­lich älte­rer Menschen. … Ich glau­be, dass Mitgefühl ein Schlüssel zum Kampf ge­gen Intoleranz und Apathie ist. Ich habe ver­sucht, die Gesellschaft zu kri­ti­sie­ren, die der Wirtschaft und der Produktivität Vorrang vor der Menschenwürde ein­räumt. Das zu eli­mi­nie­ren, was sie «die Unprodukti­ven» nen­nen, kommt dem Konzept des Faschismus sehr nahe. Obwohl wir kei­ne Diktatur haben, wird eine sol­che Atmosphäre spon­tan unter den Menschen geschaf­fen. Das ist es, was mir Angst macht.

Credits:

Hikari No Hana 光のはな
Japan, Frankreich, Philippinen, Katar 2022, 112 Minuten · Japanisch mit deut­schen Untertiteln
Regie: Chie Hayakawa 早川千絵
Kamera : Hideho Urata
Schnitt : Anne Klotz
mit: Chieko Baisho, Hayato Isomura, Taka Takao, Yumi Kawai, Stefanie Arianne, Hisako Okata

Trailer:
PLAN 75 | Chie Hayakawa | 2022 | Offizieller Trailer
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Eren

Eren

Ein Film von Maria Binder.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Eren Keskin ist unbe­quem. Sie stellt das System in Frage, sie stellt sich in Diensten jener, deren Stimme unter­drückt wer­den soll, setzt sich gegen ein System ein, das auf viel­fäl­ti­ge Art Unterdrückungsmechanismen nutzt. Dafür wur­de sie schon ver­haf­tet, ver­klagt und ein­ge­sperrt, aber auf­ge­hal­ten kann sie das nicht. Maria Binders Dokumentation wirft einen Blick auf ein Land, an des­sen Grundfesten die Anwältin wie­der und wie­der rüt­telt.
Die Menschenrechtsverteidigerin kämpft seit über 30 Jahren in der Türkei für Pressefreiheit und die Rechte von Frauen, LGBTIQ+ sowie ande­re Minderheiten und setzt sich gegen Folter und staat­li­che, sexua­li­sier­te Gewalt ein.
Mehr als 140 Strafverfahren wur­den gegen sie eröff­net, aber die Trägerin u.a. des Amnesty Menschenrechtspreises gab nie auf. Das zeigt die Regisseurin auf ein­dring­li­che Weise. Sie traf Eren Keskin vor 20 Jahren, bei einem Fall, der sie per­sön­lich anging und beglei­tet sie seit­dem über vie­le Jahre. Der Film gibt einen inten­si­ven Einblick in ihre Vergangenheit und Arbeit, pri­vat ist hier wenig, poli­tisch fast alles. Die Anwältin selbst erzählt von den Repressionen, die sie erfah­ren hat, als sie den PKK-Anführer Öcalan ver­trat, von Morddrohungen und öffent­li­chen Verurteilungen. Sie liess sich jedoch nie ein­schüch­tern, selbst jetzt nicht, obwohl sie als „Staatsfeindin“ gera­de heu­te jeder­zeit mit einer Verhaftung rech­nen muss.

Der Film ist auch Teil des Programms des Kurdischen Filmfest.

Credits:

DE 2023, 95 Min., kur­disch, türk. OmU
Regie: Maria Binder
Kamera: Meryem Yavuz
Schnitt: Angelika Levi

Trailer:
EREN | Documentary by Maria Binder | Official Trailer
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Burning Days

Ein Film von Emin Alper.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Erst för­dert der tür­ki­sche Staat den Film, dann for­dert er das Geld zurück – weil er dem Kulturministerium nicht passt. Der Grund hier­für kann nur gera­ten wer­den: Drogen, Homosexualität, Zweifel an der natio­na­len Identität, das sind Themen, die nicht gut ankom­men bei den Zensur- und ande­ren Behörden. Die Aufmerksamkeit auf den Film führ­te immer­hin zu gro­ßem Interesse und einem Kassenerfolg in der Türkei.
Der Thriller spielt in einer Kleinstadt, wo Wassermangel immer mehr Böden absin­ken und rie­si­ge Sinklöcher ent­ste­hen lässt. Ob bestimm­te sozia­le Gefüge und Machtkonstellationen auch mit­schul­dig an die­ser Entwicklung sein könn­ten, soll ein neu­er Staatsanwalt unter­su­chen. Aber schon die Richterin warnt den jun­gen Mann: „Sie müs­sen sich ändern, wenn Sie in der Provinz arbei­ten möch­ten!“ rät sie ihm. Und dann war da noch das Gerücht, sein Vorgänger habe das Handtuch geschmis­sen, aus Angst, ver­gif­tet zu wer­den.
„Alper schafft es, vie­le ein­drück­li­che Suspense-Momente zu erzeu­gen, die sowohl an den Film noir der 1950er und 60er Jahre als auch an das Paranoia-Kino der 1970er Jahre den­ken las­sen. Die ambi­va­lent gezeich­ne­ten Figuren, die stets Zweifel erwe­cken, ob ihnen wirk­lich zu trau­en ist, und die von Korruption gepräg­ten Strukturen inner­halb des dörf­li­chen Kosmos, der nach sei­nen ganz eige­nen Regeln funk­tio­niert, erin­nern an Werke wie Orson Welles’ Im Zeichen des Bösen (1958). … Die Bilder, die der Regisseur zusam­men mit sei­nem Kameramann Christos Karamanis fin­det, sind über­aus atmo­sphä­risch – etwa die Aufnahmen des tie­fen Kraters in der wei­ten Landschaft oder die Passagen in der oft klaus­tro­pho­bisch anmu­ten­den Wohnung, in der sich der Protagonist zuneh­mend unsi­cher fühlt.“
Andreas Köhnemann | kino-zeit.de

Credits:

Kurak Günler
TK 2022, 129 Min., türk. OmU
Regie: Emin Alper
Kamera: Christos Karamanis
Schnitt: Özcan Vardar, Eytan Ipeker
mit: Eki̇n Koç, Erdem Şenoca, Erol Babaoğlu, Selahatti̇n Paşali, Seli̇n Yeni̇nci̇

Trailer:
BURNING DAYS von Emin Alper – Offizieller deut­scher Trailer
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Das Zen Tagebuch

Das Zen Tagebuch

Ein Film von Yûji Nakae.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Tsutomu Mizukami war neun Jahre alt war, als ihn sei­ne Eltern aus Armut in ein Zen-Kloster in Kyoto schick­ten. Mit 13 hat­te er genug und rann­te fort, nahm aber die ihm dort begon­ne­ne Liebe fürs Kochen mit. Er wur­de Amateur-Bauer und Amateur-Koch, wie er sagt, – und Schriftsteller. Die Essensvorbereitung sei kein blo­ßer äuße­rer Ablauf, das Kochen nach Zen bestehe dar­in, das meis­te aus den Lebensmitteln zu machen. Der Mönch ist dafür ver­ant­wort­lich, das Feld mit der Küche zu ver­bin­den, so die ver­fass­ten Lehren.
Yuji Nakaes Film Das Zen Tagebuch folgt der auto­bio­gra­fi­schen Erzählung des Autors (der auch bekannt war für sei­ne Krimis mit sozia­len Themen), und ver­bin­det die­se mit Geschichten aus dem Leben des in den Bergen allein leben­den Protagonisten. Er nimmt sich Zeit, um von Einsamkeit, dem lite­ra­ri­schen Schaffensprozess, den punk­tu­el­len, aber wich­ti­gen Kontakten und über Ernährung zu erzäh­len. Tsutomu baut Gemüse an, sam­melt Pilze, Adler- und Straußenfarne, Wassersellerie, Udo-Spargel, Kakis – alles, was die Natur her­gibt: „du sollst das Gemüsefeld fra­gen, was du kochen sollst“ heißt eine der Zen-Regeln, die er befolgt. Seine gekoch­ten, ein­ge­leg­ten, getrock­ne­ten Köstlichkeiten teilt er ger­ne mit ande­ren, beson­ders mit Machiko, sei­ner Lektorin. Sie kommt gele­gent­lich von Tokio hin­auf in die Berge, um ihn an die Fertigstellung sei­nes neu­en Buches zu erin­nern – und das Essen zu genie­ßen. Und eines Tages muss uner­war­tet eine gro­ße Gesellschaft bekocht wer­den …
Durch sei­ne spie­le­ri­sche Komponente und fas­zi­nie­ren­de Einfachheit ist Das Zen Tagebuch fast eine Komödie über Zen im Alltag, nimmt aber dabei sei­ne Hauptfigur, den Schriftsteller, sehr ernst. Die Verantwortung und Achtung gegen­über den Dingen. die wir zum Leben brau­chen, ste­hen in Verbindung mit der Gelassenheit gegen­über den Herausforderungen ange­sichts des immer bevor­ste­hen­den Todes. Ein abge­schie­de­ner Ort in den Bergen ist wahr­schein­lich ein guter Ausgangspunkt, um so zu leben. Es kann aber auch einem:er gewöhn­li­chen Städter:in nicht scha­den, sich dem, ähn­lich wie Machiko, gele­gent­lich anzunähern. 

Michael Meyns | programmkino.de

Credits:

Tsuchi o kurau jûni­ka getsu
JP 2022, 111 Min., japan. OmU
Regie: Yûji Nakae
Kamera: Hirotaka Matsune
Schnitt: Ryuji Miyajima

Buch: Yûji Nakae nach der Erzählung „Tsuchi wo Kurau Hibi – 12 Monate von der Erde essen” von Mizukami Tsutomu
mit: Kenji Sawada, Takako Matsu, Fumi Dan, Naomi Nishida, Toshinori Omi, Koihachi Takigawa

Trailer:
DasZenTagebuch TLR HD 24p DE XX 20 230714 2
Im Kino in japa­nisch mit deut­schen Untertiteln
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filmPOLSKA 2023

Vom 06.–13.09.2023 fin­det die­ses Jahr das größ­te pol­ni­sche Filmfestival außer­halb Polens statt (mehr, Katalog). Im fsk zei­gen wir alle sie­ben Wettbewerbsbeiträge und zwei Specials:

Vom 06.–13.09.2023 fin­det die­ses Jahr das größ­te pol­ni­sche Filmfestival außer­halb Polens statt (mehr). Im fsk zei­gen wir alle sie­ben Wettbewerbsbeiträge und zwei Specials:
So erzählt Damian Kocurs mit Laiendarstellerinnen besetz­tes Drama CHLEB I SÓL / BROT UND SALZ im 4:3‑Format vom Klavierstudenten Tymoteusz, der in sei­ne altes abge­häng­tes Provinzstädtchen zurück­kehrt, wo Alkohol, Aggression und Ressentiments gegen alles Fremde auf der Tagesordnung ste­hen – und von der Eskalation, die dar­aus fol­gen muss. (13.9. / 20:00 Tickets) Ebenfalls in einer Stadt ohne Perspektiven ange­sie­delt ist der Dokumentarfilm LOMBARD / DAS PFANDHAUS von Łukasz Kowalski, der bei DOK Leipzig 2022 den Doc Alliance Award gewann. Die doku­men­ta­ri­sche Studie ist ein inti­mer Blick hin­ter die Kulissen eines Pfandhauses in Bytom, das nicht nur von den Schicksalen der Käuferinnen und Betreiberinnen, son­dern den pre­kä­ren Lebensentwürfen vie­ler Menschen in struk­tu­rell schwa­chen Gegenden zu berich­ten weiß. (9.9. / 20:00 GAST: Łukasz Kowalski Tickets) DAS PFANDHAUS ist nicht der ein­zi­ge doku­men­ta­ri­sche Beitrag im Wettbewerb. Als zwei­tes Roadmovie im filmPOLSKA-Programm wid­met sich BÓG I WOJOWNICY LUNAPARKÓW / GOD & LUNA PARK WARRIORS wie­der einer Familienkonstellation, die­ses­mal aus Vater und Sohn. Der athe­is­ti­sche Schriftsteller Andrzej Rodan und sein Sohn Paweł, ein tief gläu­bi­ger Christ mit ent­spre­chen­den Karriereabsichten, lie­gen in ihren Ansichten grund­sätz­lich über Kreuz und machen sich auf den Weg, den herz­kran­ken Vater zu ret­ten. Geistig-geist­lich ver­steht sich, denn es han­delt sich um den ver­zwei­fel­ten Versuch einer Evangelisation. (11.9. / 20:00 GAST: Bartłomiej Żmuda Tickets) Mit THE SILENT TWINS von Agnieszka Smoczyńska ist auch ein inter­na­tio­nal von der Kritik gefei­er­ter Beitrag im Programm. Smoczyńskas zwi­schen Drama und Thriller chan­gie­ren­der ers­ter fremd­spra­chi­ger Film fei­er­te in Cannes 2022 sei­ne Premiere und basiert auf rea­len Ereignissen: Das bar­ba­di­sche Zwillingspaar June und Jennifer Gibbons wächst in den 70er-Jahren in der xeno­pho­ben wali­si­schen Provinz auf und beschließt irgend­wann, mit nie­man­dem mehr zu spre­chen. (7.9. / 20:00 GAST: Agnieszka Smoczyńska Tickets) Ergänzend dazu steu­ert Dorota Lamparska mit PRZEJŚCIE / THE PASSAGE einen dezi­dier­ten Arthouse-Film bei, in dem die Themen Vergänglichkeit und Tod anhand einer kaput­ten Brücke ins Jenseits und dem Schicksal der zwi­schen Leben und Tod her­um­ir­ren­den Protagonistin Maria mit iro­ni­schem Unterton ver­han­delt wer­den. (12.9. / 20:00 GAST: Dorota Lamparska Tickets) Zwei Filme beleuch­ten Machtverhältnisse und Manipulation. In Grzegorz Mołdas Kammerspiel MATECZNIK / THE HATCHER muss sich der jun­ge Strafgefangene Karol mit elek­tro­ni­scher Fußfessel den bis­wei­len sadis­tisch anmu­ten­den Resozialisierungsmethoden sei­ner Betreuerin Marta fügen. (10.9. / 20:00 Tickets GAST: Grzegorz Mołda) Im Mittelpunkt von Tomasz Habowskis Schwarz-Weiß-Film PIOSENKI O MIŁOŚCILIEBESLIEDER steht hin­ge­gen die Musik zwi­schen Karriere und zweck­be­frei­ter Leidenschaft: Hier pral­len die Welten des hoch­am­bi­tio­nier­ten, wohl­si­tu­iert auf­ge­wach­se­nen Komponisten Robert und der als Kellnerin arbei­ten­den, „heim­li­chen“ Sängerin Alicja uner­bitt­lich auf­ein­an­der, mit schwer wie­gen­den Konsequenzen. Der Film ist pro­mi­nent besetzt: Die Rolle der Alicja spielt Justyna Święs, Sängerin des erfolg­rei­chen Pop-Duos The Dumplings. (8.9. / 20:00 GAST: Tomasz Habowski Tickets)
Die Specials: CICHA ZIEMIA | Stilles Land von Aga Woszczyńska beob­ach­tet ein pol­ni­schen Ehepaar beim Versuch, einen ent­spann­ten Urlaub an der Küste Sardiniens zu ver­brin­gen. (10.9. / 15:00 Tickets) In KOBIETA NA DACHU / Woman On The Roof von Anna Jadowska ver­zei­fel die Ärztin Mira kurz vor der Rente an drü­cken­den Schulden. (9.9. / 15:00 GAST: Anna Jadowska Tickets)
* = mit Gast


Mi., 17. Jul.:

Jeder schreibt für sich allein

Jeder schreibt für sich allein

Ein Film von Dominik Graf und Felix von Boehm. (Filmgespräch mit Co-Autor Constantin Lieb am 3.9.)

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Der Schriftsteller Anatole Reignier folgt in sei­nem Buch Jeder schreibt für sich allein den Schicksalen und Entscheidungen von über 60 Kolleg:innen von 1933 bis 1945 in Deutschland.
Für ihren gleich­na­mi­gen Film such­ten sich Dominik Graf und Felix von Böhm eini­ge, meist bekann­te­re Persönlichkeiten her­aus, die für die unter­schied­li­chen Strategien ste­hen, mit dem tota­li­tä­ren System umzu­ge­hen. Innere Emigration ist ein Begriff, der ger­ne ver­wen­det wird, wenn es z.B. um Hans Fallada oder Frank Thiess geht, ande­re, wie Thomas Mann, emi­grier­ten tat­säch­lich. Gottfried Benn folg­te begeis­tert der „neu­en Zeit“, es wur­de offen oder heim­lich (Erich Kästner) pak­tiert, pro­fi­tiert, oder sich ver­steckt. „Sie haben sich alle gewun­den und durch­ge­wursch­telt in ver­schie­de­nen Graustufen von Abhängigkeit und Distanzierung.” so Graf. Jochen Klepper sah 1942 aller­dings kei­nen ande­ren Ausweg mehr als den Suizid.
Lässt sich Kunst von den Personen tren­nen, die sie erschaf­fen haben? Die gro­ße Interesse der Regisseure für das hoch­span­nen­de Thema über­trägt sich beim Schauen. Auch der Rückblick heu­ti­ger Autor:innen und Kunstschaffenden bie­tet Erhellendes, arbei­tet der Film schließ­lich gegen die Selbstgerechtigkeit der Spätgeborenen und möch­te die bei über­all vor­han­de­nen Ambivalenzen anspre­chen.
Ob das Beispiel der RAF für das Weiterleben einer sys­te­mi­schen Empathielosigkeit nicht unbe­wusst einer Relativierung der vor nicht all­zu lan­ger Zeit als Singularität ange­se­he­nen Naziverbrechen Vorschub leis­tet, und ob die kurz ein­ge­spro­che­ne These, dass der Faschismus einer viru­len­ten Krankheit ähnelt, einer anthro­po­lo­gi­schen Konstante sozu­sa­gen, nicht all­zu psy­cho­lo­gisch und unpo­li­tisch daher­kommt, wie es das Ende nahe­legt, sei dahin­ge­stellt. Aber dar­über kann ja gere­det wer­den.
Gerade für Künstler:innen hat die Frage, die Gabriele von Arnim zu Beginn des Filmes stellt, nichts von ihrer Aktualität ver­lo­ren, ange­sichts der vie­len Möglichkeiten, kor­rum­piert, ver­führt oder in Furcht ver­setzt zu wer­den: „Wie sicher kann ein Mensch sich sei­ner selbst sein?“ 

GOTTFRIED BENN, KLAUS MANN, ERICH KÄSTNER, HANS FALLADA, JOCHEN KLEPPER, INA SEIDEL, HANNS JOHST, WILL VESPER, BERNWARD VESPER 

(Filmgespräch mit Co-Autor Constantin Lieb am 3.9.)

Credits:

DE 2023, 169 Min., deut­sche Fassung (engl. UT auf Nachfrage)
Regie:
Dominik Graf, Felix von Boehm
Kamera: Florian Mag, Markus Schindler, Niclas Reed Middleton, Pierre Nativel, Sven Jakob-Engelmann
Schnitt: Claudia Wolscht

mit Anatol Regnier, Florian Illies, Géraldine Mercier, Albert von Schirnding, Christoph Stölzl, Henrike Stolze, Günter Rohrbach, Gabriele von Arnim, Julia Voss, Willy Kristen, Wendelin Neubert, Carlo Paulus, Simon Strauß, Clemens von Lucius, Lena Winter

Trailer:
Trailer JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN – ab 24. August 2023 im Kino
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Passages

Ein Film von Ira Sachs.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Ira Sachs (zuletzt mit Little men bei uns) hat Franz Rogowski eine per­fek­te Rolle auf den Leib geschnei­dert: Tomas ist Regisseur in Paris, hat einen Film been­det und gönnt sich nach der Phase inten­si­ver Arbeit und Verantwortung die ver­dien­te Freizeit, wech­selt die Garderobe und läßt sei­ne kind­li­che Seite glän­zen. Unbedarft und mit viel Sinn für Grenzüberschreitungen nimmt er Fahrt auf und ver­langt immer mehr Freiheiten. Auf die Ehe mit Martin, der Tomas viel Geduld schenkt, fällt lang­sam ein Schatten, der immer län­ger wird, denn Tomas fängt ein Verhältnis mit Agathe an, fas­zi­niert von sich selbst, gelingt ihm doch mühe­los, sich auch in eine Frau zu ver­lie­ben.
Die Ménage-à-trois nimmt also Fahrt auf, der Aufstieg zum Scherbenhaufen beginnt und Tomas wech­selt wie­der mal die Garderobe.
„‘Ich hat­te letz­te Nacht Sex mit einer Frau’, sagt Tomas sei­nem Ehemann. Von einem Geständnis zu spre­chen, wür­de der Sache nicht gerecht. Reue, gar Scham, emp­fin­det Tomas gegen­über Martin nicht. Im Gegenteil, schon im nächs­ten Augenblick bit­tet er sei­nen Mann dar­um, ihm davon erzäh­len zu dür­fen. Ohne eine Antwort abzu­war­ten, berich­tet er von den berau­schen­den Gefühlen, die er schon so lan­ge nicht mehr emp­fun­den habe. Nüchtern betrach­tet, offen­bart das Drama sei­nen zen­tra­len Protagonisten jäh als empa­thie­lo­sen Narzissten. Doch Ira Sachs, der ein beson­de­res Talent für das genaue Beobachten abseits pro­fes­so­ra­ler Wertungen besitzt, neigt auch in die­ser inti­men Charakterstudie nicht zur Pathologisierung. Stattdessen ver­steht es Passages, den beson­de­ren Bann, in den Tomas erst Martin und spä­ter auch Agathe – die augen­schein­lich alles ver­än­dern­de Frau – zieht, auf das Publikum aus­zu­wei­ten.“
Arabella Wintermayr | taz

Credits:

FR 2023, 91 Min., Englisch, Französisch OmU
Regie: Ira Sachs

Kamera: Josée Deshaies
Schnitt: Sophie Reine

mit Franz Rogowski, Ben Whishaw, Adèle Exarchopoulos

Trailer:
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Vergiss Meyn Nicht

Vergiss Meyn Nicht

Ein Film von Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

30 Meter über der Erde ist eine neue Gemeinschaft ent­stan­den. In den Baumkronen des Hambacher Forsts, der 2018 zum Mittelpunkt der kli­ma­po­li­ti­schen Auseinandersetzungen in Deutschland wird, leben Menschen in selbst­ge­bau­ten Baumhäusern und ver­su­chen, die dro­hen­de Rodung zu ver­hin­dern, indem sie sich selbst als Gewicht in die Waagschale wer­fen. Der Filmstudent Steffen Meyn doku­men­tiert den teil­wei­se fried­li­chen, teil­wei­se rigo­ro­sen, teil­wei­se aggres­si­ven Kampf der Aktivistinnen gegen die Zerstörung der Natur zwei Jahre lang mit einer 360°-Helmkamera. Dann stürzt er wäh­rend einer poli­zei­li­chen Räumung vom Baum und stirbt. Der Dokumentarfilm von Meyns Freundinnen und Kommilitoninnen Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff basiert auf die­sem Filmmaterial. Die Zweifel des Protagonisten wer­den dar­in genau­so deut­lich wie sei­ne freund­li­che Beharrlichkeit und sein Bemühen, eine Haltung zur Radikalität der Szene zu fin­den. Zusätzlich haben die Regisseurinnen Interviews mit Aktivist*innen geführt, bei denen die Erfahrungen im „Hambi“ tie­fe Spuren hin­ter­las­sen haben. Es geht um die Frage, wie weit Aktivismus gehen muss. Und wie weit er gehen darf.

Credits:

DE 2023, 102 Min.,
Regie: Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl, Jens Mühlhoff

Kamera: Carina Neubohn, Nora Daniels, Steffen Meyn
Schnitt: Ulf Albert

Trailer:
Vergiss Meyn nicht [Offizieller Trailer DEUTSCH HD] – Jetzt im Kino
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Music for Black Pigeons

Music For Black Pigeons

Ein Film von Jørgen Leth und Andreas Koefoed.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Mit Music for Black Pigeons zeich­nen die Filmemacher Jorgen Leth und Andreas Koefoed das Porträt des däni­schen Gitarristen Jakob Bro. 14 Jahre lang haben sie zuge­hört und zuge­se­hen, wie des­sen Kompositionen zu Musik wer­den, in Ensembles mit den ganz gro­ßen Jazzmusikern, mit Bill Frisell, Andrew Cyrille, Lee Konitz, Thomas Morgan, Mark Turner, Paul Motian, Joe Lovano, Joey Baron, Palle Mikkelberg und und und … Ja, auch Midori Takada ist dabei, die­se außer­ge­wöhn­li­che Schlagzeugerin, die so medi­ta­tiv lei­se die Klangschalen streicht und dann gewal­tig don­nernd die Paukenkessel trak­tiert. Es wird kei­ner der Titel ganz gespielt, kein Set aus dem Konzertsaal fer­tig über­nom­men. Das Konzert fin­det im Studio statt, bei den kon­zen­trier­ten Proben, der gemein­sa­men Einstimmung auf etwas, von dem kei­ner der Mitwirkenden weiß, ob es wahr wer­den wird. Und das dann doch geschieht, weil alle teil haben an dem Riesenkosmos des Jazz, weil sie alle die Musik ihrer berühm­ten Vorväter in der Seele tra­gen. Und wenn es pas­siert, wenn den Musikern ein Take glückt, so wie er nur glü­cken kann, dann geht ein Lächeln auf in ihren Gesichtern. Als Music for Black Pigeons 2022 bei den Filmfestspielen in Venedig lief, wur­de er von Jazz-Affinados gefei­ert als der ulti­ma­ti­ve Musikfilm über­haupt. Vielleicht ist das über­trie­ben, aber einer der zweit­schöns­ten nach Jazz on a Summer’s Day (Newport 1958) ist er alle­mal.
Elizabeth Bauschmid | indiekino

Credits:

DK 2022, 92 Min., Englisch, Dänisch, Japanisch OmU
Regie:
Jørgen Leth und Andreas Koefoedmäki
Kamera: Adam Jandrup, Dan Holmberg, Andreas Koefoed
Schnitt: Adam Nielsen
mit: Jakob Bro, Lee Konitz, Thomas Morgan, Paul Motian,
Bill Frisell, Mark Turner, Joe Lovano, Andrew Cyrille, Palle Mikkelborg,
Jon Christensen, Manfred Eicher, Midori Takada

Trailer:
Music For Black Pigeons TRAILER DE
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Die Toten Vögel sind oben

Die toten Vögel sind oben

Ein Film von Sönje Storm.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Als Regisseurin Sonje Strom den drei Wissenschaftlern aus Hamburg den Nachlass ihres Urgroßvaters Jürgen Mahrt im Elsdorfer Gehege in Schleswig-Holstein öff­net, kön­nen die kaum fas­sen, wel­cher Schatz ihnen da zuge­führt wird: 350 aus­ge­stopf­te Vögel, 3000 Schmetterlinge, Raupen, Pilze und Käfer, geord­net in Kästen, unzäh­li­ge sorg­fäl­tig hand­ko­lo­rier­te Fotografien von Tieren, Pflanzen und Landschaften. Dazu noch ein Tagebuch, in dem der Landwirt u.a. das Verschwinden bestimm­ter Tier- oder Pflanzenarten fest­hielt. Es lie­fert bis heu­te Daten zum Artensterben und zeugt von Landschaften und Tieren, die durch den Eingriff des Menschen fast ver­schwun­den sind. Mahrt arran­gier­te die von ihm aus­ge­stopf­ten Tiere in Feld und Flur, die Fotos ver­kauf­te er für die in den 1920er-Jahren popu­lä­ren Sammelbildalben.
Was war das für ein Mensch, der schon damals Beruf und Auskommen für sei­ne Leidenschaft ver­nach­läs­sig­te? Der mit dem Fahrrad vom Norden Deutschlands in die Schweiz fuhr, nur um einem Freund einen sel­te­nen Schmetterling zu zei­gen und dabei die Ernte ver­gaß? Der sich nichts dar­aus mach­te, als Exzentriker ange­se­hen zu wer­den? Der Film ist die Annäherung der Filmemacherin an den unbe­kann­ten und in man­cher Hinsicht rät­sel­haf­ten Urgroßvater und sein beein­dru­cken­des Archiv. Und dann es ist es noch ein schö­ner Zufall, dass die Goldene Taube und die Doppelschnepfe vom Plakat zusam­men­ge­fun­den haben: Die toten Vögel sind oben gewann u.a. 2022 ver­dient den Hauptpreis bei DOK Leipzig.

Credits:

DE 2022, 85 Min., deutsch, platt­deut­sche OmeU
Regie: Sönje Storm
Kamera: Alexander Gheorghiu
Schnitt: Halina Daugird

Trailer:
DIE TOTEN VÖGEL SIND OBEN – Offizieller Trailer
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