West-Berlin / Kunst / 1980er Jahre
„Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran“ singen die Fehlfarben Anfang der 1980er Jahre, vielleicht auch mit ironischem Seitenblick auf das ‚Weiter, Höher und Schneller‘ des stetig voranschreitenden Sozialismus hinter der Mauer (in der DDR). Egal wieviel Hellsichtigkeit man der Band, die ohne es zu wollen die Hymne der West-Berliner Hausbesetzer schrieb, bescheinigen will – am Ende der Dekade sind alle auch am Ende der Geschichte angelangt.
Dass diese sich dennoch weitergedreht hat (ganz im Sinne des Songtexts) und welche historischen Linien sich aus der damaligen Anti- und Aufbruchstimmung bis heute ziehen lassen, ist der Rahmen für diese Ausstellung, die sich konzeptuellen und subkulturellen Tendenzen der Kunst der 1980er Jahre in West-Berlin zuwendet.
In der zur Ausstellung gehörenden Filmreihe zeigen wir vom 6. – 12.9.:
- noch keine / oder keine mehr
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Nekromantik
West-Berlin 1987 – 90 Minuten – Spielfilm – Farbe – Digital (von Super8) – R:
R/B: Jörg Buttgereit – B: Franz Rodenkirchen – K: Uwe Bohrer – P/K: Manfred Jelinski – M: John Boy Walton, Hermann Kopp, Daktari Lorenz – mit Daktari Lorenz, Beatrice Manowski, Harald Lundt, Susa Kohlstedt, Franz Rodenkirchen, Volker Hauptvogel
Kein Film sonst hat die morbide Atmosphäre des alten West-Berlins so gekonnt eingefangen, auf die Spitze getrieben und sublimiert wie Jörg Buttgereits „Nekromantik“ (Nun ja, vielleicht noch „Possesssion“…). Der Film erzählt auf der Oberfläche von einem jungen Pärchen, das der Nekrophilie verfällt, immer neue Kicks braucht und dafür seine Beziehung verspielt. Was das Werk von anderen Horror-Filmen unterschied, war vor allem seine Gegenwärtigkeit – die Verwurzelung im Hier und Jetzt einer konkret verhandelten Erlebniswelt. Unvermittelt öffnete sich die Tür zur Nachbarswohnung in Kreuzberg oder Neukölln, gewährte Einblicke in Wirklichkeiten, die zwar sehr merkwürdig anmuteten, die aber gleichzeitig nicht ganz auszuschließen waren. Völlig ausgehebelt waren auch die gängigen Strickmuster des Genres mit all seinen Figurenklischees und den ewig variierten Gut-Böse-Schemata. Naturgemäß wurde „Nekromantik“ bei seiner Premiere von großen Teilen der „seriösen Filmkritik“ reflexartig abgewehrt. Inzwischen ist klar, dass es sich um eine zwar verstörende, doch seismografisch genaue Bestandsaufnahme aus der „Frontstadt“ West-Berlin in ihrer letzten Phase handelt.
Do, 6.9. 22:00
Decoder
BRD 1984 – 87 Minuten – Spielfilm – Farbe – Digital (von 16mm) – R: Muscha – B: Klaus Maeck, Muscha, Volker Schäfer, Trini Trimpop – K: Johanna Heer – M: FM Einheit, Dave Ball, Genesis P_Orridge, Matt Johnson, The The, John Caffery, Einstürzende Neubauten – mit FM Einheit, Christiane F., Bill Rice, Matthias Fuchs, Ralf Richter, William S. Burroughs, Genesis P‑Orridge, Mona Mur, Alexander Hacke
In der nahen Zukunft (von 1984 aus gesehen) schlägt sich der Soundbastler F.M. durch den Dschungel einer anonymen Metropole. Er ist davon überzeugt, dass die Städtebewohner durch geheime Tonsignale manipuliert werden, um so zu willenlosen Konsumenten zu mutieren. Er entwickelt gemeinsam mit Pionieren der Stadtguerilla eine Gegenbewegung – den „Cassetten-Terrorismus“. Das staatskapitalistische „Muzak“-Gedudel soll decodiert, umgepolt und in revolutionäre Energie verwandelt werden. Basierend auf den Ideen von William S. Burroughs, vermochte eine Handvoll Akteure aus der Düsseldorfer Szene wirkungsvoll ihre kuriose Dystopie von Überwachung und Revolte zu entwerfen. Zahlreiche Stars der Subkultur konnten für Gastauftritte gewonnen werden, u.a. Christiane F., Bill Rice, Genesis P_Orridge und Burroughs himself. Aufnahmen des West-Berlin-Besuchs von Ronald Reagan und anderes Found-Footage-Material verleihen dem Ganzen einen reizvollen dokumentarischen Touch. „Ein westdeutscher No-Wave-Film, ein Unikum, damals ein fast unsichtbarer Insider-Tipp, geborgen aus der Müllkippe des Vergessens, heute hörens- und sehenswert.“ (film-dienst)
Fr, 7.9. 22:00
Kinder der Konfettimaschine
West-Berlin 1987 – 75 Minuten – semidokumentarischer Spielfilm – Farbe – Digital (von 16mm) – R: Rainer Grams – B: Klaus Dörries, Rainer Grams – K: Klaus Dörries, Frank Fölsch – P: Jürgen Brüning – mit Michael Krause, Hans-Jürgen Casper, Ronald Berg, Irmgard Maenner, Frank Heizmann, Frieder Weber, Hussyin Kutlucan
Im Mai 2018 schloss das legendäre Kreuzberger Eiszeit-Kino für immer seine Pforten. Die letzten Betreiber des Hauses, die sich des mythischen Namens bedienten, hatten schon nichts mehr mit dessen glorreicher Vergangenheit zu tun. Diese reicht bis ins Jahr 1981 zurück, als das „Eiszeit“ als Hausbesetzer-Kino auf der Blumenthalstraße in Schöneberg gegründet wurde. Nach der polizeilichen Räumung und einer Zwischenstation im „Frontkino“ konnten 1983 die Räume auf der Zeughofstraße bezogen werden. Als Teil der Bewegung „Lichtspiele im Untergrund“ (zu der u.a. auch das Regenbogen-Kino und der Ufer-Palast gehörten) wurde eine Erweiterung des Begriffs „Kino“ über den einer bloßen Abspielstätte für Filme hinaus betrieben. Der kollektiv erarbeitete Spielplan wartete auch mit Konzerten, Performances, Lesungen und Ausstellungen auf. Über allem waltete die Idee subkulturellen Selbstverständnisses. Regisseur Rainer Grams war aktiver Teil der Gruppe, die sich um das „Eiszeit“ scharte. 1987 ergab sich für ihn die Gelegenheit, für das „Kleine Fernsehspiel“ (ZDF) ein spielerisches Gruppenporträt mit Wegbegleitern und Zeitgenossen zu drehen.
Sa, 8.9. 22:00
So war das S.O. 36 – Ein Abend der Nostalgie
West-Berlin 1980−85÷1997 – 89 Minuten – Dokumentarfilm – Farbe – Digital (von Super‑8) – R/K: Manfred O. Jelinski, Jörg Buttgereit – K: Michael Becker, Uwe Bohrer, Detlef Skibbe, Verena Wolff – M: Carambolage, Beton Combo, Einstürzende Neubauten, Die Gelbs, Soilent Grün (a.k.a. Die Ärzte), Der Wahre Heino (Norbert Hähnel), Die Ich’s, Lorenz Lorenz, Rubberbeats, Die Tödliche Doris
„Die Körnigkeit des hochempfindlichen Materials im Pogo-Taumel, fliegende Bierbüchsen im bunten Bühnennebel, Rauch, Schweiß und Kondenswasser an den Wänden. Die Kameras dicht am Geschehen, mitten unter den tanzenden, schreienden und drängenden Zuschauern oder auf der Bühne neben Schlagwerk, Gitarre und schwarzen Lederstiefeln.“ (Berlinale) Im Selbstauftrag hatte Manfred O. Jelinski schon 1980 begonnen, die Punk- und New-Wave-Konzerte im legendären S.O. 36 filmisch zu dokumentieren. Zu diesem Super-8-Langzeitprojekt stieß später Jörg Buttgereit, der selbst im Film auf der Bühne mit Freunden in einer Kiss-Parodie zu erleben ist. Interviews mit den türkischen Betreibern, eine lose Rahmenhandlung und diverses Archivmaterial runden das Bild ab. 1985 hatte eine erste Variante des Films auf dem Forum des jungen Films auf der Berlinale Premiere. 1998 wurde das Werk dann in seine jetzige Form gebracht.
Sa, 8.9. 23:30
Jesus – Der Film
West-Berlin 1986 – 126 Minuten – Episodenfilm – Schwarzweiß – Digital (von Super‑8) – R: Michael Brynntrup (Gesamtkonzept und Montage) sowie Anarchistische Gummizelle, Jörg Buttgereit, Die Tödliche Doris, Frontkino / Konrad Kaufmann, Birgit und Wilhelm Hein, intershop gemeinschaft wiggert, Almut Iser, Dietrich Kuhlbrodt, Georg Ladanyi, Merve Verlag, Giovanni Mimmo, padeluun, Robert Paris / Andreas Hentschel, Schmelzdahin, Stiletto, Sputnik Kino / Michael Wehmeyer, Teufelsberg Produktion, Lisan Tibodo, VEB Brigade Zeitgewinn, Werkstattkino München / Doris Kuhn, Andreas Wildfang – K: Wolfgang Böhrer, Michael Brynntrup, Jörg Buttgereit, Klaus Dörries, Dietrich Kuhlbrodt, padeluun, Lisan Tibodo, Uli Versum, Andreas Wildfang, Castro Zen, Björn Zielaskowsy – mit Michael Brynntrup, Panterah Countess, Jürgen Brauch, Oliver Körner von Gustorff, Wolfgang Bohrer, Jörg Buttgereit, Mizza Caric, Dietrich Kuhlbrodt, padeluun, Lisan Tibodo, Uli Versum, Michael Wehmeyer, Castro Zen
No-Budget-Monumentalwerk in 35 Kapiteln, gedreht auf Super‑8 unter der Beteiligung von insgesamt 22 Künstlerinnen und Künstlern. Der aus Münster stammende, als Supervisor des Projekts fungierende Michael Brynntrup (Jahrgang 1959) arbeitete darin sein Trauma als Messdiener ab, entwickelte das sowjetische Filmmaterial im heimischen Labor selbst und verkörperte selbstverständlich auch die Titelfigur – in sämtlichen Episoden.
So, 9.9. 15:30
Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo
BRD 1981 – 131 Minuten – Spielfilm – Farbe – Digital (von 35mm) – R: Uli Edel – B: Herman Weigel, nach dem gleichnamigen Tatsachenbericht von Christiane V. Felscherinow – K: Justus Pankau, Jürgen Jürges – M: Jürgen Knieper, David Bowie, Brian Eno – S: Jane Seitz – mit Natja Brunckhorst, Thomas Haustein, Jens Kuphal, Reiner Wölk, Christiane Reichelt, David Bowie
Christiane F. wurde mit ihrer Geschichte nachgerade zum Synonym des Drogensumpfes rund um den West-Berliner Ersatzbahnhof am Zoo. Wie die 15-jährige Schülerin aus Gropiusstadt unaufhaltsam in einen Strudel aus Tabletten, Alkohol und schließlich Heroin gezogen wird, erlebt ausgiebige Schilderung, inklusive Klauerei, Schmutz, Blut und Sex (mal aus Suche nach Nähe, mal zur Geldbeschaffung). Daneben ist der Film – trotz aller Inszenierung – inzwischen selbst zum Dokument eines Berlin geworden, das es so längst nicht mehr gibt. In einem relativ langen Konzertmitschnitt ist zudem der zeitweilige Wahl-Berliner David Bowie zu erleben, der von der Bühne herab direkt Christiane F. ansingt: „Wir können Helden sein, für immer und ewig.“
Mo, 10.9. 22:00
Possession
Frankreich / BRD 1981 – 127 Minuten – Spielfilm – Farbe – Digital (von 35mm) – OmU – R: Andrzej Żuławski – K: Bruno Nuytten – M: Andrzej Korzynski – mit Isabelle Adjani, Sam Neill, Margit Carstensen, Heinz Bennent, Johanna Hofer
Als ein Mann von einer Geschäftsreise zurückkehrt in seine Wohnung an der Mauer in Berlin-Wedding, liegt seine Ehe in Trümmern. Seine Frau hat offenbar eine Affäre, ist hochgradig verstört, doch will über nichts sprechen. Was ein von dem Mann beauftragter Privatdetektiv dann in einer Wohnung an der Mauer in Kreuzberg findet, ist hochgradig verstörend – und nicht nur für ihn folgenschwer. Der polnische Filmemacher Andrzej Żuławski („Nachtblende“) zeigte das West-Berlin der damaligen Zeit als seltsamen Ort, an dem bizarre Dinge geschehen. Der auf Englisch gedrehte Horror-Psychothriller ist einer der ganz wenigen ausländischen Berlin-Filme aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert, in denen es weder um Nazis noch um Spione geht. Oder doch? Isabelle Adjani wurde in Cannes ausgezeichnet und erhielt den César. In Deutschland fand der Film nie einen Verleih.
Di, 11.9. 22:00
Fucking City
West-Berlin 1981 – 88 Minuten – Spielfilm – Schwarzweiß – Digital (von 16mm) -
R / B / K / S/ P: Lothar Lambert – mit Ulrike Schirm, Stefan Menche, Lothar Lambert, Dagmar Beiersdorf, Ayla Algan, Mustafa Iskandarani, Erika Rabau, Dorothea Moritz, Renate Soleymany
Helga und Rüdiger sind ein Ehepaar, sie suchen per Kleinanzeigen junge Ausländer, um mit ihnen erotische Abenteuer vor laufender Kamera zu inszenieren. Der schwule Fleischer Kurt versucht, seine aus der Provinz angereiste Schwester Klara zu überreden, einen seiner Favoriten zu heiraten. Zuletzt stehen alle vor den Trümmern ihrer Wunsch-Wirklichkeiten. Lamberts schwärzester Film beschreibt die Sinnsuche von vier Menschen im Labyrinth sexueller Ersatzhandlungen, irgendwo zwischen „Taxi zum Klo“ (Frank Ripploh, 1980) und Fassbinders „Angst essen Seele auf“ (1974) angesiedelt; „… aber lustiger, trauriger und kritischer als jeder der beiden genannten Filme.“ (James Hoberman, The Village Voice)
Mi, 12.9. 22:00
R = Regie; B = Buch; K = Kamera; M = Musik; S = Schnitt; P = Produktion; OmU = Originalfassung mit Untertiteln