Havarie

Ein Film von Philip Scheffner, ab 26.1. im fsk, am 27.1. mit anschlie­ßen­dem Filmgespräch mit Philip Scheffner.

93 Minuten lang bleibt die Leinwand blau. Eine ein­zi­ge, unge­schnit­te­ne Einstellung zeigt ein Bild, das sich nur ver­lang­samt bewegt: ein Boot als klei­nes und dunk­les, figür­li­ches Stillleben im azur­blau­en Meer. Die Bewegung der Kamera ist abge­hackt, das Bild springt, denn das Handyvideo, das Regisseur Phillip Scheffner (REVISION, DER TAG DES SPATZEN) auf YouTube fand und hier auf andert­halb Stunden gestreckt hat, ist im Original ledig­lich drei­ein­halb Minuten lang und wur­de von Terry Diamond auf dem Kreuzfahrtschiff „Adventure of the Seas” im Mittelmeer auf­ge­nom­men. Das erfah­ren wir aller­dings wie vie­les ande­re erst im Abspann. Klar sind ledig­lich die Koordinaten: 37°28.6’N und 0°3.8’E. Dort befin­det sich das Boot, ein Flüchtlingsboot mit 13 Insassen. Dazu hören wir auf der Ton-Ebene mehr als 20 Stimmen, die wir im Gegensatz zum Boot nicht ver­or­ten kön­nen, und die sich zu einem Mosaik der Informationen, Fährten, Mutmaßungen und Geschichten ver­dich­ten. Diese Puzzlestücke fügen sich aller­dings zu kei­nem kla­ren Ganzen zusam­men und sol­len es auch nicht. HAVARIE ist eine expe­ri­men­tel­le Auseinandersetzung mit mas­sen­me­dia­ler Bildpolitik und den dar­aus resul­tie­ren­den Blickwinkeln auf trans­at­lan­ti­sche Fluchtbewegungen. Doch das wäre nur eine von vie­len Lesarten. Ein Film, der Fragen auf­wirft und sein Publikum war­ten lässt, und genau dadurch eine phy­si­sche Erfahrbarkeit pro­du­ziert, die das Filmische und das Dokumentarische tran­szen­diert. Man kann die­sen Film posi­tiv als Zumutung beschrei­ben, denn Scheffner mutet sei­nem Publikum zu, für andert­halb Stunden das Warten, die Orientierungslosigkeit und die Spannung aus­zu­hal­ten, wodurch HAVARIE äußerst schlau die Situation der Boatpeople in den Kinosaal zu spie­geln weiß. Ein klei­nes, offe­nes Meisterwerk als Beitrag zu einer immer uner­träg­li­che­ren Debatte um Menschenleben.

Toby Ashraf | indiekino.de

D 2016, 93 Min., arab., engl., frz, russ. OmU 
Regie: Philip Scheffner
Buch: Merle Kröger, Philip Scheffner
Kamera: Terry Diamond, Bernd Meiners
Mit: Rhim Ibrir, Abdallah Benhamou, Leonid Savin, Terry Diamond