Anne (gespielt von Annamaria Vartolomei) ist eine begabte Literaturstudentin, die unabsichtlich schwanger wird und deshalb Angst hat, ihr Studium nicht beenden und sich aus den Zwängen ihrer sozialen Herkunft befreien zu können. Die Wochen verstreichen, die Abschlussklausuren stehen an und Anne entschließt sich zu handeln. Der Film spielt im Jahr 1963, also ein Jahr, bevor die Antibabypille in Frankfreich erhältlich war. Wer damals abtreiben wollte, musste zu einer Engelsmacherin und riskierte damit eine Gefängnisstrafe.
Der Film basiert auf dem autobiografischen Buch DASEREIGNIS der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux. Beim Filmfestival 2021 von Venedig wurde DASEREIGNIS mit dem Goldenen Löwen als „Bester Film“ ausgezeichnet. „Das Drama konzentriert sich ganz auf die Situation der Protagonistin und schildert beklemmend-intensiv deren Dilemma, entweder das soziale Stigma einer ledigen Mutter und das Ende ihrer beruflichen Ambitionen oder aber das Risiko einer illegalen Abtreibung in Kauf nehmen zu müssen. Das enge Bildformat und das intensive Spiel der Hauptdarstellerin vermitteln nahezu körperlich die Zwangslage, wobei die Inszenierung durch Zurückhaltung in der zeitgenössischen Ausstattung die bleibende Aktualität des Themas betont.” Filmdienst
Credits:
L‘ Evénement FR 2021, 100 min., frz. OmU Regie: Audrey Diwan Kamera: Laurent Tangy Schnitt: Géraldine Mangenot mit: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet-Klein, Luàna Bajrami, Louise Orry Diquero, Louise Chevillotte, Pio Marmaï, Sandrine Bonnaire, Anna Mouglalis, Leonor Oberson, Fabrizio Rongione
Zohra lebt in der südwestfranzösischen Kleinstadt Châtellerault. Sie hat dort Arbeit, eine Wohnung, Bekannte, Verwandte. Die Heirat in ihrer Heimat Algerien liegt nur kurze Zeit zurück, der Mann ist auf dem Sprung nach Frankreich, und in der Klinik wurde die langwierige Behandlung eines schmerzhaften orthopädischen Rückenleidens gerade als erfolgreich beendet erklärt. Als Zohra an ihrer Haltestelle „Europe“ – die gibt es dort wirklich – aussteigt und nach Hause geht, ist ihre Welt noch gänzlich in Ordnung. Für den Staat ist der Abschluss der medizinischen Versorgung allerdings Anlass, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu beenden, bleibt sie, wird sie zu einer „Illegalen“.
Innerhalb kurzer Zeit, in der sich mit ihrer Umgebung auch ganz Frankreich in die Sommerferien begibt, wird Zohra in eine Parallelwirklichkeit katapultiert, in der nur Gleichgestellte sich wahrnehmen können. Aber dort will Zohra sich nicht einrichten.
Dokumentarfilmer Philip Scheffner (Revision, Havarie, Der Tag des Spatzen …) zu seinem ersten Spielfilm: „Mir wurde klar, dass die Arbeit mit klassischen Methoden eines Dokumentarfilms die reale Lebenssituation von Rhim [die Darstellerin der Zohra] eher verschleiert hätte: Wie kann ich einen Film mit einer Person machen, die eigentlich gar nicht da sein darf, deren reale Anwesenheit vor Ort also eigentlich fiktiv ist? Diese erzwungene Fiktionalisierung ist konstituierend für ihre persönliche Lebensrealität aber auch für ihre Begegnung mit mir. Zwischen uns verläuft eine Grenze, die sich nicht einfach durch ein „sprechen über“ auflösen lässt. Daher habe ich mich gemeinsam mit [Ko-Autorin] Merle Kröger entschieden, die Methoden filmischer Fiktion auf ihre Relevanz in Bezug auf die Lebensrealität der Protagonistin hin zu untersuchen und zu sehen, welche Spielräume das eröffnen könnte. Aus Rhim wurde Zohra …“
Als ihr Zuhälter und Vater ihres Kindes eine andere Frau heiratet, versucht Mamma Roma (Anna Magnani) die Vergangenheit hinter sich zu lassen und ein neues Leben anzufangen: Sie zieht mit ihrem 16-jährigen Sohn, der auf dem Land in einem Internat aufgewachsen ist, in eine bürgerliche Gegend und betreibt einen Gemüsestand. Das neue gemeinsame Leben entpuppt sich als spannungsgeladener als geplant, und plötzlich erscheint auch der Zuhälter Carmine wieder, inzwischen von seiner neuen Frau getrennt, und stellt sie vor ein Ultimatum.
Regie: Pier Paolo Pasolini Kamera: Tonino Delli Colli Musik: Carlo Rustichelli Mit: Anna Magnani, Ettore Garofolo, Franco Citti, Silvana Corsini, Luisa Loiano, Paolo Volponi etc.
Die in Madrid lebende Werbefotografin Janis (Penélope Cruz) wird bei ihrer Affäre mit dem Anthropologen Arturo (Israel Elejalde) ungeplant schwanger. Da Arturo seine erkrankte Ehefrau nicht verlassen will, beschließt Janis, das Kind alleine großzuziehen. Im Krankenhaus teilt sie sich ein Zimmer mit der ebenfalls ungewollt schwangeren 17-jährigen Ana (Milena Smit). Die Geburt ihrer Babys findet am selben Tag statt, fortan unterstützen sich die alleinerziehenden Mütter, zumal Anas Mutter Teresa (Aitana Sánchez Gijón) als Theaterschauspielerin auf Tournee geht und ihr Vater seit der Scheidung der Eltern ohnehin abwesend ist. Derweil bemüht sich Arturo um eine Genehmigung, ein Massengrab aus der Franco-Zeit auszuheben. Darin liegt Janis‘ im Bürgerkrieg erschossener Urgroßvater, der nun beerdigt werden soll.
„Parallele Mütter“ trägt auf sämtlichen Ebenen die markante Handschrift des Autorenfilmers Pedro Almodóvar, die stets auf den ersten Blick erkennbar ist. Die Farben strahlen satt wie immer, die artifizielle Ausstattung setzt mit bunten Wäscheklammern oder drapierten Obstschalen Akzente, die Kostüme sitzen passend zur Bildgestaltung. Mit Penélope Cruz oder Rossy de Palma („Zerrissene Umarmungen“) als beste Freundin und Chefin der Protagonistin treten langjährige Stammdarstellerinnen des Regisseurs auf, hinter der Kamera kollaboriert er abermals mit Weggefährten wie dem Komponisten Alberto Iglesias („Volver“) oder dem Kameramann José Luis Alcaine („Die Haut, in der ich wohne“).
Auch thematisch beackert Almodóvar aus seinem Werk bekannte Themen. Der Fokus liegt auf der Mutterschaft der unterschiedlichen Frauen Janis und Ana sowie am Rande Teresa, die ihre Rolle auf je eigene Weise gestalten, aber im selbstbestimmten Handeln geeint sind. „We should all be feminists“ steht quasi als Quintessenz auf einem Shirt, das Penélope Cruz in einer Szene trägt. Einige spannende Wendungen, die hier keinesfalls verraten werden sollen, halten die zwischenmenschlichen Beziehungen durchweg auf Trab. Lediglich die Rahmenhandlung um Janis‘ Familiengeschichte und Arturos Nachforschungen zum verbrecherischen Franco-Regime wirkt etwas angehängt, auch wenn schlüssige Parallelen zur Haupthandlung bestehen.
In erster Linie ist „Parallele Mütter“ ein raffiniertes Melodram, bisweilen stellt Almodóvar die emotionalen Spannungen rund um Lügen, Geheimnisse oder Eifersucht aber auch mittels Thriller-Anleihen dar. Mal huschen Schatten wie in einem Film Noir über die Wand, mal wirkt Cruz mit einem großen Küchenmesser in der Hand zum Äußersten entschlossen, schneidet dann aber nur ein paar Karotten. Die Stimmungswechsel und erzählerischen Wendungen sind meisterlich inszeniert und halten die intimen (Gewissens-)Konflikte durchweg unter Spannung. Ein oft trauriger und sehr schöner Film, mit dem Pedro Almodóvar nach zwei Dutzend Kinobeiträgen noch immer einen modernen Eindruck hinterlässt.
Christian Horn | programmkino.de
Die Welt von Almodóvar zu besuchen ist herrlich. Das Leuchten der Farben seiner Farben, die feinsinnige Gestaltung der Melodramen, die schließlich dem Zerrupfen einer Avocado beim Abendessen gleich immer mehr auf den Kern fokussiert werden, die SchauspielerInnen, die sich und die Rolle gleichzeitig spielen können, die Architektur der Sets, bis in die Details sorgfältig ausgefriemelt und gleichzeitig eisklar. Und alles, um eine Geschichte zu erzählen, die einfach erscheint und dabei so viele Verästlungen hat.
„warum soll ich schwimmen, wenn ich auch treiben kann?“ (Die Nerven)
Mit Penelope Cruz als Protagonistin ist das gar keine Frage, genauso wenig wie das Thema des Films: Die von Francos Faschisten Ermordeten des Bürgerkriegs, die immer noch in Massengräbern anonym verscharrt liegen. Die spanische Demokratie durfte auf diesem Friedhof aufgebaut werden und aktuell freuen sich rechte Politiker, dass keine Mittel zur Exhumierung mehr zur Verfügung gestellt werden. Franco selbst wurde übrigens 2019 aus dem Tal der Gefallenen im Schatten eines penetranten Riesenkreuzes ins Privatgrab umgebettet, um mit den Seinen in Frieden ruhen zu können.
Credits:
Madres paralelas Spanien 2021, 126 min., span. OmU Regie und Buch: Pedro Almodóvar Kamera: José Luis Alcaine Schnitt: Teresa Font mit: Penélope Cruz, Milena Smit, Rossy de Palma, Israel Elejalde, Aitana Sánchez Gijón, Julietta Serrano, Daniela Santiago
Rahim (Amir Jahidi) sitzt im Gefängnis. Nicht wegen eines schweren Verbrechens, sondern weil er Schulden gemacht hat, die er nicht zurückzahlen kann. Im komplizierten Rechtssystem des Iran hätte er die Möglichkeit, sich recht unkompliziert von seiner Schuld freizukaufen, etwas, dass tatsächlich auch ein Mörder tun könnte, soweit die Verwandten des Opfers mit dem Blutgeld zufrieden sind.
Nun hat Rahim Freigang und trifft heimlich seine Freundin Nazanin (Sarina Farhadi), denn sie offen zu treffen wäre im streng konservativen Iran unmöglich. Scheinbar hat Nazanin die Lösung für Rahims Probleme, denn sie hat vor einigen Tagen eine Tasche gefunden, in der sich Goldmünzen befanden. Doch inzwischen ist der Goldpreis gefallen, die Münzen würden nicht reichen, um die Schulden zu begleichen, zumal der Gläubiger Braham (Mohsen Tanabandeh) kein Interesse daran hat, Rahim einen Teil der Schulden zu stunden. So entschließt sich Rahim, den Besitzer der Tasche zu finden, was auch gelingt. Eine Frau holt die Tasche ab, der Fall scheint geklärt. Doch im Gefängnis hat man von der Angelegenheit erfahren und betrachtet Rahim nun als moralisches Vorbild. Zwar erwähnt Rahim, dass es nicht er selbst war, der die Tasche gefunden hat, doch der Gefängniswärter will dennoch ein TV-Team kommen lassen. Denn nicht nur Rahim bekommt Anerkennung, ein wenig Ruhm soll auch auf das Gefängnis fallen. Und mit dieser einen, kleinen Unwahrheit beginnt ein Lügengeflecht, das bald immer dichter wird.
Rahim ist kein schlechter Mensch. Er lügt nicht aus Habgier oder Selbstsucht, ja, eigentlich kann man das, was er sagt, kaum als Lüge bezeichnen. Er verdreht die Wahrheit ein wenig, vor allem, um seine Freundin zu schützen, denn wenn ihre Beziehung bekannt werden würde, hätte Nazanin mit Konsequenzen zu rechnen. Dass er zudem zunächst versucht hatte, die Münzen zu verkaufen, dann aber seine Meinung änderte, lässt seine scheinbar hehre moralische Tat in etwas weniger hellem Licht erscheinen.
Spielball der Elemente ist Rahim, nicht zuletzt der sozialen Medien, die auch im Iran eine zunehmend große Rolle spielen: So schnell man zum Held hochgeschrieben werden kann, so schnell findet sich in den Sozialen Medien ein Skeptiker, der den umgekehrten Trend herbeiführt und aus dem Helden einen Betrüger macht. Und auch Teile des Systems kommen bei Farhadis Anklage nicht zu kurz. Die Gefängnisleitung, die aus eigenem Interesse agierte und bald ebenso versucht, sich von jeglicher Schuld reinzuwaschen, wie eine Organisation, die Gefangenen mit Spendenaktionen hilft.
Man mag hier jene Kritik an Strukturen der iranischen Gesellschaft sehen, wie sie in der westlichen Rezeption bei Filmen über den Iran (und anderer autokratisch regierter Länder) gern gesehen werden. Vor allem jedoch komponiert Asghar Farhadi einmal mehr ein dichtes Geflecht an langsam, aber unaufhaltsam wachsender moralischer Verstrickung, das am Ende kaum noch zu lösen ist. Nach einigen schwächeren Filmen knüpft er nun mit „A Hero“ wieder an die Qualität von „Über Elly“ und „Nader und Simin – Eine Trennung“ an.
Es ist eine dieser Episoden des Nahost-Konflikts, die die ganze Brutalität, aber auch Absurdität der Situation verdeutlichen. Die damals 17jährige palästinensische Aktivistin Ahed Tamimi wurde 2017 verhaftet, weil sie angeblich israelische Sicherheitskräfte bedroht hatte. Schließlich wurde sie verurteilt und musste sieben Monate der Strafe absitzen. Dazu tweetete Bezalel Smotrich, Mitglied der nationalreligiösen Partei Habayit Hayehudi und ein Sprecher des israelischen Parlaments, der Knesset, dass diese Strafe viel zu gering sei und Tamini mindestens eine Kugel in die Kniescheibe verdient hätte.
Mit Bildern eines Knies beginnt dementsprechend Nadav Lapids „Aheds Knie“, der Nachfolger seines internationalen Durchbruchs „Synonyms“, mit dem er vor zwei Jahren den Goldenen Bären der Berlinale gewann. Dort ging es um einen jungen Israeli – ein Alter Ego Lapids – der sein Land nach dem Militärdienst verließ und in Paris versuchte, seine israelischen Wurzeln zu verdrängen. Diesmal heißt die Hauptfigur Y (Avshalom Pollak), ist Filmregisseur, der gerade einen großen Erfolg auf der Berlinale gefeiert hat und einen Experimentalfilm über Aheds Knie plant. Doch das Casting gestaltet sich schwierig und dann muss Y auch noch in eine Siedlung in der unwirtlichen Arava-Wüste im Süden Israels fliegen, wo sein Film in einer Bibliothek gezeigt wird. Die dortige Bibliothekarin Yahalom (Nur Fibak) erweist sich als großer Fan, kann jedoch nicht vermeiden, Y ein Formblatt vorzulegen, auf dem er ankreuzen muss, worüber er nach dem Film diskutieren möchte.
Dieser tatsächlich echte Vorgang geht auf eine Initiative der ehemaligen Kulturministerin Miri Regev zurück, die auf diese Weise Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen wollte, oder – um es deutlicher zu formulieren – Zensur ausübte. Nicht über heikle Themen wie den völkerrechtswidrigen Siedlungsbau in den besetzten Gebieten, Brutalität gegenüber den Palästinensern oder willkürliche Sippenhaft gegen die Familien von tatsächlichen oder mutmaßlichen Gewalttätern soll diskutiert werden, sondern über jüdische Identität, Heimat, den Holocaust.
Drastische Kritik an diesen Regelungen, ja, am ganzen Land übt Lapid in seinem Film, zeigt sein Alter Ego Y als wütenden, aufbrausenden aber auch nicht gerade sympathischen Wutbürger. Die einzigen zärtlichen Momente sind Tonaufnahmen, mit denen Y Kontakt mit seiner Mutter hält. Auch Lapid war seiner Mutter sehr nahe, mit ihr schrieb er seine Filme, sie war seine Cutterin. Während des Schnitts an „Synonyms“ verstarb sie, nur Wochen später schrieb Lapid das Drehbuch zu „Aheds Knie“, auch die Dreharbeiten dauerten nur 18 Tage. Ein Schnellschuss in gewisser Weise, ein roh dahingeworfener Film, der lange Zeit von seiner wütenden Energie lebt – die aber auf Dauer auch ermüdet. So stilistisch eindrucksvoll „Aheds Knie“ ist, oft mit extremen Nahaufnahmen arbeitet, mit reißenden Kameraschwenks die nervöse Perspektive von Y zu evozieren scheint: Da Lapid keine Geschichte im klassischen Sinn erzählt, sondern Gedanken, Ideen, Kritikpunkte assoziativ aneinanderreiht, wirkt sein neuer Film wie eine Skizze. Wenn auch die eines der interessantesten Regisseure des aktuellen Autorenkinos.
Über weite Strecken, und die Strecke von Moskau nach Murmansk ist weit, spielt der Olli-Mäki-Nachfolgefilm im Zug, genauer, im titel gebenden 2‑Personen-Schlafabteil. Die Finnin Laura wollte sich mit ihrer Liebe Irina hier eine gemütliche Zeit auf der langen Fahrt durch die winterliche Taiga machen, doch Irina kam Wichtigeres dazwischen. Laura muss alleine reisen, und plötzlich findet sich die Studentin ungefragt in enger Gesellschaft eines unverschämten, zunächst hackevollen jungen russischen Minenarbeiters wieder. Auch mit dem nüchteren Ljoha am nächsten Morgen bessert sich die Situation zunächst nicht, aber – der Weg ist weit und die Reise lang.
„‘Abteil No. 6‘ ist eine Art ‚Before Sunrise‘ mit zusätzlichen Hindernissen. Nicht unterschiedliche Ziele stehen einem Kennenlernen zwischen Laura und Ljoha im Weg, sondern ganz eindeutig Klassenschranken…. Dass der Film tatsächlich irgendwann bei jenem generischen Moment landet, in dem die eine lächelnd die Notiz, die der andere zum Abschied geschrieben hat, ausfaltet und liest, und sich diesen Moment auch noch verdient hat, ist ein kleines Wunder.
Dass das funktioniert, hat sichtlich mit den beiden Hauptdarstellern zu tun, aber vielleicht auch damit, dass Regisseur Juho Kuosmanen neben seinem scharfen Sinn für die feinen Unterschiede auch weiß, dass es häufig etwas Drittes braucht, damit zwei sich verstehen. Kein Wunder also, dass Laura und Ljoha das erste Mal miteinander ins Gespräch kommen, als für kurze Zeit eine Familie mit nervigen Kindern ins Abteil steigt. Dass sie erstmals miteinander saufen und lachen, als sie bei einem nächtlichen Stopp eine alte Freundin von Ljoha besuchen. Und dass Laura erst durch die Bekanntschaft mit Gitarrendude Sasha klar wird, dass man die, die einem auf den ersten Blick ganz nah scheinen, vielleicht besser auf Distanz hält, und vice versa.” Till Kadritzke | critic.de
Filmgespräch mit der Produzentin Jamila Wenske (Achtung Panda Prod.) am 2.4.
Credits:
Hytti nro 6, Compartment No. 6 FI/DE/EE/RU 2021, 107 Min., russ. finn. OmU Regie: Juho Kuosmanen Kamera: Jani-Petteri Passi Schnitt: Jussi Rautaniemi mit: Seidi Haarla, Jury Borisov, Yulija Aug
„Nicht umsonst rettet man, wenn es heißt, „seine Haut zu retten“, eigentlich sein Leben. Von dieser einfachen Redensart ausgehend, lässt die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania das junge syrische Paar Sam und Abeer in weiche, warme Farben getaucht, in einem voll besetzten Zugabteil spontan ihre Liebe feiern, um Sam im nächsten Moment im Gefängnis zu zeigen. Es ist das Jahr 2011, das syrische Regime will sich junger, freiheitsliebender Männer entledigen. Sam, herausragend gespielt von Yahya Mahayni, der für seine Rolle den Orizzonti-Preis als bester Hauptdarsteller bei den Filmfestspielen in Venedig gewann, gelingt die Flucht in den Libanon. Dort hängt er fest und arbeitet in einer Hühnerfabrik am Band. Oft geht er auf Vernissagen, um sich am Buffet das Abendessen zu sichern. Dort lernt er an der Bar den berühmten Künstler Jeffrey Godefroi kennen, der ihm einen Pakt vorschlägt: Sam lässt sich von ihm sein Schengen-Visum auf den Rücken tätowieren und kann mit diesem dann nach Europa einreisen. Er muss Godefroi allerdings zu jeder seiner Ausstellungen zur Verfügung stehen. Der Mensch Sam soll zum Kunstobjekt werden, für das es eigene Regeln und Verträge gibt. Kaouther Ben Hania erzählt diese faustische Geschichte mit allen intersektionellen Referenzen an unser herrschendes System. Godefroi ist Belgier mit dem richtigen Pass und genug Macht, um seine Sichtweise in die Welt zu tragen. Dass er Sam als Mittel zum Zweck benutzt, ist Teil seiner künstlerischen Aussage: Nicht er sei zynisch und betreibe Menschenhandel, das System täte es. Abeer (Dea Liane) hat mittlerweile einen jungen Diplomaten geheiratet, um heil aus dem vom Krieg zerstörten Land herauszukommen, nun muss sie sich ihrem Ehemann unterordnen. Wer hat bei all diesen Entscheidungen welche Wahl gehabt, sich zu welchem Preis verkauft? Und was darf Kunst? Die Filmemacherin inszeniert ein diabolisches Spiel in grandiosen Bildern, lässt das kulturbegeisterte Publikum durch die heiligen, perfekt ausgeleuchteten Tempel der Kunst schreiten, in denen Sam jeden Tag seinen seidenen Morgenmantel fallen lassen muss, um angestarrt, belacht, fotografiert, in Führungen besprochen zu werden: das sensationelle Kunstwerk im goldenen Käfig der Kunstblase. Die Mitspieler*innen nippen rituell an Sektkelchen, eine Menschenrechtsorganisation tritt auf den Plan, um für die Würde der syrischen Geflüchteten zu demonstrieren, schließlich wird Sam an einen reichen Sammler verkauft, der ihn wiederum auf einer Aktion feil bietet. Dieser Satire setzt Kaouther Ben Hania immer wieder die unsterbliche Liebe von Abeer und Sam gegenüber. Dabei treibt sie die Farce auf die Spitze, um im letzten Moment wie eine Königin den weißen Handschuh der Romantik fallen zu lassen. Denn nur die Haut die berührt wird, lebt.“ indiekino | Susanne Kim
Kaouther Ben Hania: „Ich lasse in diesem Film zwei Welten aufeinandertreffen, die mich beide faszinieren: die der zeitgenössischen Kunst und die des alltäglichen Überlebens von Geflüchteten. Wir haben es hier mit zwei in sich abgeschotteten Welten zu tun, die von völlig unterschiedlichen Codes regiert werden. Auf der einen Seite haben wir eine etablierte, elitäre Welt, in der „Freiheit“ ein Schlüsselbegriff ist; auf der anderen Seite haben wir eine Welt des Überlebens, die von aktuellen Ereignissen beeinflusst wird und in der das Fehlen von Wahlmöglichkeiten die tägliche Sorge der Geflüchteten ist. Das Aufeinandertreffen dieser beiden Welten fordert ein Nachdenken über unser Verständnis von Freiheit offen ein. Sam, der Geflüchtete, weiß das sehr wohl, wenn er dem Künstler Jeffrey sagt: „Du bist auf der richtigen Seite der Welt geboren.“ Das Problem ist, dass wir in einer Welt leben, in der die Menschen nicht gleich sind. Trotz aller Reden über Gleichheit und Menschenrechte sorgen die immer komplexeren historischen und geopolitischen Zusammenhänge dafür, dass es unweigerlich zwei Arten von Menschen gibt: die Privilegierten und die Verdammten. Der Film zeigt einen faustianischen Handel zwischen einem Privilegierten und einem Verdammten. Sam Ali kehrt dem Teufel den Rücken zu, weil er keine andere Wahl hat, und gerät so in die elitäre und überkodierte Sphäre der zeitgenössischen Kunst, indem er eine durchaus zweifelhafte Wahl trifft. Sein scheinbar naiver und ungebildeter Blick zeigt uns diese Welt aus einem anderen Blickwinkel als dem, durch den das kulturelle Establishment sich gewöhnlich zeigt. Einen wie Sam, der so stolz und ehrlich ist, kann es in den Wahnsinn treiben, so zum Objekt zu werden. Er wird entblößt, verkauft, hin und her geschoben. Diesem außergewöhnlichen Schicksal, verstärkt durch den hoch emotionalen zusätzlichen Konflikt seiner Gefühle zu Abeer, begegnet Sam Ali, indem er alles daran setzt seine Würde und seine Freiheit wiederzuerlangen.“
Credits:
TN/FR/BE 2020, 104‘ min., Arabisch/Englisch/Französisch OmU, Regie: Kaouther Ben Hania, Kamera: Nestor Salazar, Schnitt: Marie-Hélène Dozo, mit Yahya Mahayni, Dea Liane, Koen De Bouw, Monica Bellucci
Das Stadtviertel Fikirtepe liegt auf der asiatischen Seite Istanbuls (und im Stadtteil Kadiköy, einer Partnergemeinde Friedrichshain-Kreuzbergs) und galt früher als wenig attraktiv. Inzwischen jedoch werden die Grundstücke immer wertvoller, die Bewohner verdrängt und gewachsene Nachbarschaften auseinandergerissen. Staatliche Unternehmen bauen hier jetzt ein Hochhaus nach dem anderen. In die noch nicht abgerissenen, oder noch im Rohbau befindlichen Wohnungen ziehen häufig syrische und andere Geflüchtete ein, die für geringen Lohn auf den Baustellen arbeiten. Hier leben in Ali Vatansevers zweitem Spielfilm Kamil und Remziye im eigenen Haus – noch. Viele ihrer Nachbarn haben schon dem Druck nachgegeben, das angebotene Geld genommen und zogen weg. Bei den verbliebenen Stadtteilinitinativen gegen die rasante Gentrifizierung engagiert sich das Ehepaar nur halbherzig. Sie haben genug damit zu tun, ihren Lebensunterhalt zusammen zu bekommen. Die schwangere Remziye geht in reichen Haushalten putzen, Kamil bleibt nichts anderes übrig, als gegen Dumpinglohn ausgerechnet auf einer der Baustellen zu arbeiten. Dabei gerät der gutherzige Mann mehr oder weniger unverschuldet zwischen verschiedene Fronten, bis er eines Tages verschwindet. Seine Frau macht sich auf die Suche und muss schwierige Entscheidungen treffen. „Eine benachteiligte Gemeinschaft zieht weg, eine andere zieht ein. Sie teilen das gleiche Schicksal, aber sie tun sich nicht zusammen. Beginnend mit der physischen Umwandlung des Geländes, zeichnet der Film ein umfassenderes Bild der menschlichen Beziehungen, Umsiedlung, Einwanderung und Arbeit. Es hat vier Jahre gedauert, den Film zu schreiben; ich war selbst Zeuge all dieser radikalen Veränderungen. Es ist nicht nur die Geografie, die sich verändert, sondern auch das Leben der Menschen. … Die grundlegende Frage war: Wie kann man an einem so schwierigen Ort menschlich bleiben, wenn man von Monstern umgeben ist?“ Ali Vatansever
Credits:
DE, RO, TR 2021, 108 min., türkische OmU Buch und Regie: Ali Vatansever Kamera: Tudor Vladimir Panduru mit Erol Afsin, Saadet Aksoy, Kida Khodr Ramadan
80 Jahre alt wäre der Maler, Autor, Regisseur und politische Aktivist Derek Jarman am 31.1.22 geworden. Er starb 1986 an den Folgen seiner AIDS-Erkrankung, die er auch in seinen Filmen zur Sprache brachte. BLUE, sein letzter und formal wohl extremster Film, wurde von der Krankheit, durch die er erblindete, bestimmt. Die Ton- Musik- und Sprechcollage vor monochrom blauer Leinwand ist politisch und persönlich, poetisch und diskursiv zugleich.
Jarmans Filme gelten als radikal, zornig und engagiert. Er führte einen stetigen Kampf gegen die Thatcher-Regierung und zeigte sich hierbei als Queer- und AIDS-Aktivist, aber sein Thema war vor allem auch die Liebe, besonders die verhinderte, und körperliche.
Wir zeigen sechs seiner Werke, die neu restauriert und digitalisiert wurden. Dazu gibt eine Doku über ihn, von Regisseur Julien Isaac und Tilda Swinton, die ohne Jarman nicht zu denken wäre (und umgekehrt), und in allen sechs Filme mitwirkt:
Caravaggio (1986, 93‘), der biografische Ausschnitt vom italienischen Maler ist wohl sein bekanntestes Werk. (21.1. 17:45) [Tickets]
The Garden (1990, 95‘) ist eine sinnliche, subjektive, schwule Passionsgeschichte mit Garten-nahem Atomkraftwerk.(22.1. 17:45) [Tickets]
Edward II (1991, 90‘) hat bei Jarman einen etwas anderen Stand als bei Mel Gibson seinerzeit.(23.1. 17:45) [Tickets]
Wittgenstein (1993, 75‘) – „heitere, dialogsichere, hervorragend gespielte Gesamtschau auf das Leben eines philosophischen Außenseiters“ (Lexikon des intern. Films) (24.1. 17:45) [Tickets]
War Requiem (1989, 92‘) ist die filmische Umsetzung Benjamins Brittons Musikstücks, mit Laurence Olivier in seiner letzten Rolle. (25.1. 17:45) [Tickets]
Blue DF (1993, 74‘), gesprochen von Derek Jarman, Tilda Swinton, Nigel Terry, John Quentin, und in der deutschen Fassung von Ulrich Matthes, Sylvester Groth, Wolfgang Condrus, Eva Mattes. (22. & 23.1. 15:45) Blue OV[Tickets]
Derek (2008, 76‘) – ein Brief, ein Interview, eine Rückschau und Hommage (26.1. 17:45) [Tickets]
alle Filme laufen in Originalfassung mit deutschen Untertiteln, Blue in dt. und engl. Fassung
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