Claudia Andujar hatte sich als Fotoreporterin in New York schon einen Namen gemacht, als sie 1960 begann, sich für die indigene Bevölkerungsgruppen des brasilianischen Amazonasgebiets zu interessieren. Die bedrohte Lebenswelt der Yanomami nahm in Engagement und Arbeit der renommierten Fotografin ab da großen Raum ein. Nachdem sie zwei Jahre ohne Kontakt zur Außenwelt bei und mit ihnen gelebt hatte und die Menschen ihr vertrauten, begann sie ihre fotografische Dokumentation. Die war mehr als Selbstzweck. Sie half, Gesundheitsakten für eine (über)lebenswichtige Impfung gegen von Weißen eingeschleppte Krankheiten zu erstellen. Die Bilder sollten auch zeigen und aufklären, welch‘ ungeheures Unrecht dort im Namen des Profits und Fortschritts geschieht.
Der Film mischt nicht nur geschickt die lebendigen Erzählungen der Protagonistin mit ihren Fotos und ihrer eigenen, ebenfalls traumatischen Geschichte, sondern schlägt im letzten Teil auch noch die Brücke zur Gegenwart. Der Blick richtet sich auf die junge Generation der Yanomami und ihren immer noch erforderlichen Kampf gegen die Zerstörung ihrer Heimat, gegen Folgen von Abholzung und die Vergiftung der Flüsse mit Quecksilber. Und sie führt ihn ebenfalls mit bildgebenden Medien, mit Fotos und Filmen für die Öffentlichkeit.
„Der Film macht deutlich, was Claudia Andujars Fotografien so bedeutsam macht. Es ist nicht der ethnografische Blick auf das Fremde, sondern die Perspektive einer Frau auf Menschen, die ihr selbst einen Sinn im Leben gegeben haben. Ihre Fotos sind wertschätzend; sie urteilen nicht.” Thomas Klein | Filmdienst
Ein Großteil der Fotografien von Claudia Andujar ist im Museum of Contemporary Art Inhotim ausgestellt. In den Hamburger Deichtorhallen sind ihre Werke bis zum 11. August zu sehen.
Credits:
DE/CH 2024, 88 Min., portugiesisch, französische OmU Regie: Heidi Specogna Kamera: Johann Feindt Schnitt: Kaya Inan
Trailer:
Die Vision der Claudia Andujar [Offizieller Trailer DEUTSCHHD] – Ab 9. Mai im Kino
Lisandro Alsonsos Film EUREKA ist ein mal bedrückendes, mal berückendes Werk in drei Teilen, lose verbunden durch die Themen der Landnahme und der Dezimierung indigener Lebensräume. Der erste Teil spielt in Mexiko, im späten 19. Jahrhundert. Der Revolverheld Murphy (Viggo Mortensen) ist auf der Suche nach seiner Tochter. Doch gibt sich EUREKA keiner Heldenreise hin, sondern nutzt sie bloß als Bewegungsrichtung durch einen nichtssagenden Ort, getränkt in Alkoholismus und beiläufige Morde. Sobald der Film in der Konfrontation von Murphy mit seiner Tochter ins Melodramatische abdriftet, schaltet Lisandro um: in das Pine Ridge-Reservat in South Dakota im Jahre 2019, wo sich die Polizistin Alaina (Alaina Clifford) auf ihre Schicht vorbereitet. Der erste Teil läuft dabei noch im Fernsehen im Hintergrund, und mit ihm die Ideologie des wilden Westens mit seinen weißen Heroen. Während Alainas zunehmend erschöpfender nächtlicher Schicht sehen wir die Auswirkungen dieser Ideologie, nämlich die Verdrängung und Prekarisierung der überlebenden indigenen Bevölkerung in von Drogen und Verwahrlosung geplagte Reservate. Der dritte Teil reist nach Brasilien ins Jahr 1975, zur Zeit der Ölkrise und des Goldrauschs, der die bis heute anhaltende Vertreibung und Ermordung indigener Menschen im Amazonasgebiet zur Folge hatte. Um narrative Konventionen kümmert sich Lisandro Alonso wenig. Wer sich jedoch auf seinen assoziativen Erzählstil einlässt, wird mit einem Film belohnt, der neben Elend auch viel Schönheit findet. Gerade im dritten Teil weitet sich der Blick, die menschlichen Akteur*innen stehen nicht mehr im Fokus, sondern werden eingebettet in eine sprudelnde, singende, rauschende Umwelt. Hier entstehen Momente des Einklangs, der Utopie, auch wenn sie dem Zyklus aus Gier und Gewalt nicht lange standhalten.
Yorick Berta | indiekino
Credits:
AR/DE/FR/MX/PT 2023, 146 Min., chatino, englisch, lakota, portugiesisch OmU Regie: Lisandro Alonso Kamera: Timo Salminen, Mauro Herce Schnitt: Gonzalo Del Val Mit: Alaina Clifford, Sadie Lapointe, Viggo Mortensen, Chiara Mastroianni, Adanilo Costa, Rafi Pitts,
Alle reden vom Klimawandel. Und dass sich etwas ändern muss. Im Ruhrgebiet geht das Zeitalter der Kohle zu Ende. Schon lange und langsam, als letzte Zeche schließt die Zeche Prosper/Haniel in Bottrop.
Die Geschichte des Ruhrgebiets ist seit 150 Jahren eine Migrationsgeschichte, in deren Kern immer die Frage stand, wie können wir zusammenarbeiten und leben. Die alltägliche Beantwortung dieser Frage stiftete den Menschen damals ihre Identität. Heute fehlt der gemeinsame Arbeitgeber.
Sind die Bewohner*innen des Ruhrgebiets auf der Suche nach einer neuen Identität? Helfen die Industriedenkmäler und Museumsstücke, die auf den ehemaligen Abraumhalten ausgestellt werden? Die weithin leuchtenden Kulturfestivals?
Während man in den 60er Jahren in den Zechen-Siedlungen noch stolz gesagt hat: Wir helfen uns selbst und haben durch Vereine und Brauchtum die Möglichkeit gemeinsam zu gestalten, wartet man heute auf die Politik, oder wendet sich enttäuscht ab, weil zu wenig geschieht.
Die Filmschaffenden Christoph Hübner und Gabriele Voss haben über 40 Jahre die Veränderungen im Ruhrgebiet beobachtet und diejenigen begleitet, deren Leben und Arbeit davon geprägt war. Ein Spagat zwischen allgemeiner Entwicklung und Einzelschicksalen von Menschen. Dabei wird deutlich: Strukturwandel bedeutet nicht nur, dass Zechen schließen und Landschaften rekultiviert werden müssen. Auch der soziale Zusammenhalt der Menschen muss sich neu definieren. Ein Filmprojekt, das aus der Zeit fällt – und doch von ihr erzählt. Ein Film, in dem das Ende noch nicht zu Ende ist und die Zukunft schon begonnen hat.
Credits:
DE 2023, 155 Min., Deutsch Regie: Christoph Hübner und Gabriele Voss Kamera: Christoph Hübner Schnitt: Gabriele Voss
Das Filmfestival Achtung Berlin!, bei dem wir mittlerweile zum fünften Mal Spielort sind, präsentiert zwar Produktionen aus Berlin und Brandenburg, ist aber nicht an den Ort gebunden.
Nach allen Filmvorstellungen folgt ein Q&A mit dem Filmteam. Das Programm im fsk:
Sonntag, 14.4.
16:00 Alleine Tanzen, Biene Pilavci, Dokfilm, 98 Min. (Jubiläumsretrospektive) [Tickets]
„Liebes Tagebuch, mir schmerzt mein Herz. Ich will, dass es aufhört zu schlagen.“ Tagebucheinträge und VHS-Aufnahmen, einst stumme Zeugen der Gewalt, ergreifen heute das Wort und tragen zu einem Familienkaleidoskop bei, in dem die Sehnsucht nach einer ganz normalen Familie schmerzhaft deutlich wird, als wir zu einer Hochzeit in Griechenland fliegen. Die sehr mutige, persönliche und aufwühlende Auseinandersetzung mit der eigenen Familie gewann den Preis “Bester Dokumentarfilm”.
Regie, Buch Biene Pilavci Konzeptberatung Valeska Kölbl Kamera Armin Dierolf Schnitt Biene Pilavci Ton Manja Ebert, Magnus Pflüger Produzent:in Max Milhahn, Heike Kunze Produktion Film- und Medienproduktion GmbH, DFFB
18:30 Landshaft, Daniel Kötter, Dokfilm, 97 Min. (Berlin Spezial) [Tickets]
Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Kontrolle über Karabach köchelt leise weiter. Vom Sewansee bis zur Goldmine von Sotk, die seit dem Blitzkrieg von 2020 von Aserbaidschan besetzt ist, entwirft der Film die Psychogeographie einer geopolitisch aufgeladenen Landschaft sowie ihrer Einwohner:innen zwischen Extraktivismus, Krieg und Vertreibung. In Form einer Reise im Osten Armeniens folgt der Film menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren auf ihrem Weg und gibt denjenigen eine Stimme, die mit Sorge beobachten, wie sich die Mächtigen hinter Krieg und Goldabbau auf ihre Kosten zerfleischen.
Regie, Buch, Kamera, Schnitt Daniel Kötter Ton Armen Papyan, Hayk Galstyan Musik Sarer Kaghechem, Gusam Sheram Grafikdesign Edik Boghosian Producer Nune Hovhannisyan in Zusammenarbeit mit Sona Karapoghosyan, Nune Hovhannisyan, Eviya Hovhannisyan, Armen Papyan Koproduzentin Jana Cisar Produzent Daniel Kötter
20:45 La Empresa, André Siegers, Dokfilm, 94 Min. (Wettbewerb D.) [Tickets]
Ein deutsches Filmteam begibt sich in das mexikanische Dorf El Alberto. Die sogenannte Caminata Nocturna hat den kleinen Ort berühmt gemacht. Eine Touristenattraktion, die auf den Erfahrungen der Dorfbewohner:innen beruht und den illegalen Grenzübertritt in die Vereinigten Staaten nachstellt. Was als lokale Performance begann, ist inzwischen zu einer der Haupteinnahmequellen des Dorfes geworden. Während um das Filmteam herum der Ort unbeirrt seinen Geschäften nachgeht, Rechte am eigenen Bild verteidigt, im einträglichen Tauschhandel Grenzpatrouillen, Gefahren und Reenactments liefert, entwickelt sich der Aufenthalt des Filmteams zu einer ungewollten Erkundung der Möglichkeiten und Grenzen filmischer Repräsentation.
Uraufführung 52. International Film Festival Rotterdam
Regie, Buch André Siegers Co-Autor Philipp Diettrich mit Ernesto Oliva, Miguel Barrera, Antonio Barrera, Yvonne Bernal, Eugenio Garcia Cruz, Francisca Garcia Cruz, Leticia Garcia Flores Kamera Philipp Diettrich Schnitt Simon Quack (BFS), André Siegers Ton Bernhard Hetzenauer Produzent:in Karsten Krause, Frank Scheuffele, Julia Cöllen Produktion Fünferfilm Koproduktion UVO Gruppe, Mischief Films
Montag, 15.4.
18:30 Exile never ends, Bahar Bektaş Dokfilm, 99 Min. (Wettbewerb D., Berlin-Premiere) [Tickets]
Bahars Bruder Taner sitzt in Deutschland im Gefängnis und steht kurz vor der Abschiebung in die Türkei. Bahar nutzt die Zeit des Wartens und richtet die Kamera auf ihre Familienangehörigen: Politische Verfolgung der alevitisch-kurdischen Familie in der Türkei, die Flucht nach Europa 1989, rassistische Übergriffe, Depressionen und Überforderung der Eltern – all das traf die Kinder, die damit unterschiedlich umgehen. Die Ungewissheit über Taners Schicksal in der Türkei ist nur ein Teil der Lebenserfahrung als Familie im Exil. Die Verzerrung von Vergangenheit und Gegenwart sowie unterschiedlicher Geografien konfrontiert die Zuschauenden mit dem Verlust von Orientierung in Zeit und Raum.
Uraufführung 45. Filmfestival Max Ophüls Preis
Regie, Buch Bahar Bektaş Co-Autor Arash Asadi, Tobias Carlsberg Kamera Meret Madörin, Antonia Kilian Schnitt Arash Asadi Ton Lara Milena Brose Musik Ahmet Aslan Producerin Bettina Morlock Redaktion Sara Günter (ZDF) Produzentin Antonia Kilian Produktion Pink Shadow Films Koproduktion ZDF – Das kleine Fernsehspiel
20:45 Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag, Katharin Lüdin, Spielfilm, 109 Min. (Wettbewerb S., Berlin-Premiere) [Tickets]
Sommerliche Hitze in einer Vorstadt. Fünf Menschen tasten sich vorsichtig durch ihre konfliktreichen Beziehungen: Schauspielerin Merit probt zusammen mit ihrem Ex-Mann David an einem Theaterstück. Die Beziehung zwischen Merit und ihrer Lebensgefährtin Eva bewegt sich derweil in einem Zustand zwischen schwelender Krise und Leerlauf. Lion muss Rose ziehen lassen, David versucht sich zu lösen. Sie sprechen, aber ihre Worte treffen sich nicht. Sie spielen Theater, auf der Bühne und proben ihr Leben. Ängste vor der Zukunft und Spuren von Gewalt durchsetzen ihre Gegenwart. Wie miteinander sein, wenn Bedingungslosigkeit zu bröckeln beginnt? Auf analogem 16-mm-Filmmaterial gedreht, erzählt der Film von den Wendungen und Windungen menschlichen Miteinanders.
Uraufführung 76. Locarno Film Festival Regie, Buch Katharina Lüdin Schauspiel Anna Bolk, Jenny Schily, Godehard Giese, Lorenz Hochhuth, Pauline Frierson, Wolfgang Michael, Unica-Rosa Blaue-Poppy Kamera Katharina Schelling Schnitt Katharina Lüdin Ton Stefan Bück Szenenbild Winnie Christiansen, Anne Storandt Kostümbild Jana Charlotte Tost Casting Ulrike Müller Koproduzent:in Katharina Lüdin, Ivan Madeo, Stefan Eichenberger, Urs Frey Produzent:in Jana Kreissl, Tobias Gaede Produktion Was bleibt Film Koproduktion Katharina Lüdin Filmproduktion, Contrast Film Zürich
Dienstag, 16.4.
18:30 Hausnummer Null, Lilith Kugler, 90 Min. (Wettbewerb D., Berlin-Premiere [Tickets]
Umsorgt von der Nachbarschaft lebt Chris gemeinsam mit seinem Kumpel Alex an einer Berliner S‑Bahn Station. Heroinabhängigkeit bestimmt Alltag und Freundschaft. Auch wenn beide immer wieder von einem „normalen“ bürgerlichen Leben träumen, schaffen sie es nicht, sich aus dem Teufelskreis zu befreien. Erst als Chris in der Notaufnahme nur knapp überlebt, fasst er einen Entschluss: Er beginnt einen Entzug mit anschließendem Drogensubstitutionsprogramm. Mit einem Einzelzimmer im betreuten Wohnheim in Aussicht, schöpft er neue Hoffnung. Nach sechs Jahren auf der Straße steht er dennoch vor nie da gewesenen Herausforderungen. Er will zurück in die Gesellschaft.
Uraufführung 45. Filmfestival Max Ophüls Preis
Regie, Buch Lilith Kugler mit Chris, Alex Kamera Stephan M. Vogt Schnitt David Mardones Ton Tobias Adam Musik Valeriia Khazan Producer Jonatan Geller-Hartung Redaktion Sara Günter (ZDF) Produzent:in Bettina Morlock, Rouven Rech, Teresa Renn Produktion Now Films, Torero Film Koproduktion ZDF – Das kleine Fernsehspiel
20:45 Good News, Hannes Schilling, Spielfilm, 75 Min. (Wettbewerb S., Berlin-Premiere)[Tickets]
Leo, Journalist aus Überzeugung, lässt sein Leben in Deutschland hinter sich, um im Süden Thailands über eine geheime Rebellengruppe zu berichten. Zwischen den Recherchen verbringt er dort Zeit mit Mawar, der wiederum von einer besseren Zukunft in Deutschland träumt. Leo hilft Marwar bei den Vorbereitungen. Doch bald stellt er fest, dass ihn die Zeit, die er in Marwars Familie verbringt, zu schmerzlich an sein eigenes Leben in Berlin erinnert. Um schneller zurückreisen zu können, verfasst Leo den versprochenen Artikel, ohne jedoch in Kontakt mit den Rebellen gewesen zu sein. Nach und nach katapultiert er sich – zwischen Familie, Beruf und Freundschaft – in eine moralische Abwärtsspirale.
Uraufführung 45. Filmfestival Max Ophüls Preis
Regie Hannes Schilling Buch Ghiath Al Mhitawi, Hannes Schilling Schauspiel Ilja Stahl, Sabree Matming, Dennis Scheuermann Kamera Falco Seliger Schnitt Marie Fontanel, Paul Gröbel Ton Alexander Wolf Szenenbild Pisuthpak Sukwisit Musik Lena Radivoj Produzent Jost Hering Produktion Jost Hering Filme
Mittwoch, 17.4.
18:30 For the time being, Nele Dehnenkamp, D 2023, Dokfilm, 90 Min.(Wettbewerb D., Berlin-Premiere) [Tickets]
Jermaine verbüßt eine 22-jährige Haftstrafe im berüchtigten Sing Sing-Gefängnis in der Nähe von New York. Er behauptet, zu Unrecht wegen Mordes verurteilt worden zu sein. Michelle, die ihren Jugendfreund im sterilen Besuchsraum eines Hochsicherheitsgefängnisses geheiratet hat, hofft, mit ihm in Freiheit leben zu können. Unermüdlich kämpft sie dafür, seine Unschuld zu beweisen, während sie sich gleichzeitig als alleinerziehende Mutter um ihre jugendlichen Kinder kümmert. In einer zermürbenden Routine aus Telefonaten, Briefeschreiben und Besuchen in der Haftanstalt, träumt sie von einem idyllischen Familienleben außerhalb der Gefängnismauern.
Uraufführung66. DOK Leipzig
Regie, Buch Nele Dehnenkamp mit Michelle Bastien-Archer, Jermaine Archer, Paul Scott, Kaylea Scott Kamera, Schnitt Nele Dehnenkamp Ton Nele Dehnenkamp, Stefan Zierock Musik Martin Kohlstedt Produzentin Nele Dehnenkamp, Christine Duttlinger Produktion Filmakademie Baden-Württemberg Verleih Across Nations
Ellbogen erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die aus der Gesellschaft verdrängt wird und die Weichen ihres Lebens neu stellen muss. Man will mit ihr durch die Nacht rennen, man will wissen, wie es mit ihr und mit uns allen weitergeht.
DE/TK/FR 2024, 86 Min., Deutsch Türkisch OmU, Regie: Aslı Özarslan, Kamera: Andac Karabeyoglu-Thomas, Schnitt: David J. Achilles, Ana Branea, mit Melia Kara, Doğa Gürer, Jale Arıkan, Haydar Şahin, Orhan Kiliç
Durch die verschneite Landschaft stapft der Kunstlehrer Samet zu dem Dorf, in dem er nach Ende der Ferien wieder unterrichten muss. Es ist eine einsame Gegend irgendwo in Anatolien, die unter der Winterdecke ruht. Was in den ersten Bildern noch Frieden ausstrahlt, wird im Lauf des Films zunehmend beklemmend wirken, wie auch Samets Beziehungen zu den anderen Menschen an der Schule und im Dorf doppelbödig und kompliziert werden. Und natürlich weiß jeder, dass er vorhat, sich nach Istanbul versetzen zu lassen, sobald die Pflichtzeit am Ende der Welt zu Beginn seiner Lehrtätigkeit erfüllt ist. Samet hält sich für einen guten und toleranten Pädagogen, aber als ihm unangemessenes Verhalten gegenüber zwei Schülerinnen vorgeworfen wird und der Druck steigt, kommt langsam ein anderer Charakter zum Vorschein. Komplex, in sich verstrickt und eingeschlossen, andere nur unscharf wahrnehmend. Eine Person, deren Verfassung typisch ist für Ceylans männliche Hauptfiguren und die in ihrer Unansehnlichkeit den Ausgangspunkt für ein dichtes Netz von Berührungspunkten und Beziehungen zwischen allen Personen bildet. Wie bereits in seinen vorangegangenen Werken entwirft Nuri Bilge Ceylan auch in Auf trockenen Gräsern anhand von individuellen Lebensgeschichten und ihren Verzahnungen ein Panorama der türkischen Gesellschaft in ihren unterschiedlichen Facetten. Daneben existiert die archaisch wirkende Landschaft und spielt eine weitere Hauptrolle.
Auf trockenen Gräsern lief 2023 im Wettbewerb von Cannes und Merve Dizdar gewann den Preis als beste Darstellerin.
„In der Türkei stehen sich ständig Dualismen gegenüber, wie Gut gegen Böse und Individualismus gegen Kollektivismus. Mein Kunstlehrer glaubt, dass er dem Ende seines Pflichtdienstes in einem abgelegenen Bezirk in Ostanatolien nahe ist. Er tröstet sich seit Jahren mit der Hoffnung auf eine Versetzung nach Istanbul. Darin liegt ein spannender Unterschied zwischen der Rolle des Gastgebers und des Gastes. Interessiert hat uns auch die mentale Auswirkung von Gefühlen der Entfremdung, der Entfernung von städtischem Leben und einem Dasein am Rande. Mit welchen Problemen sehen sich die Bewohner dieser ländlichen Region konfrontiert – wie prägt sie die Dynamik der geografischen, ethnischen oder sozialen Strukturen, in denen sie leben? Auch wenn die Möglichkeit Liebe zu finden gegeben ist, werden verkümmernde Seelen unaufhörlich tiefer in die Isolation getrieben durch Vorurteile, das Errichten von Mauern, vergangene politische Traumata und den unstillbaren Drang, jene, die einem nahestehen, für eigene Fehler büßen zu lassen. In Regionen, wo Verzweiflung in jedem Gesicht, Erschöpfung in jedem Schritt und Bitterkeit in der Stimme spürbar ist, werden die Spuren des „Schicksals“ besonders deutlich.” Nuri Bilge Ceylan
Alice (Lena Urzendowsky) wurde nach einer Umweltaktion des zivilen Ungehorsams beschuldigt und zum Sozialdienst verurteilt. Sie soll sich um Cam (Kotti Yun) kümmern, die nach einem rassistischen Überfall traumatisiert ist. Als Cam sich gegen eine Verlängerung des Klinikaufenthalts entscheidet, nimmt Alice die verschlossene Frau mit zu sich ins gutbürgerliche Villenviertel in Dresden. Dort löst sich etwas in Cam; in dieser idyllisch geschützten Umgebung kann sie erwachen. Alice kümmert sich und ist zunehmend fasziniert. Die unerwartete Zuneigung ist spürbar. Doch das Verhältnis wandelt sich und Cam hält Alice’s Fürsorge einen kritischen Spiegel vor – und wird ihren eigenen Weg gehen.
Zwei sehr unterschiedliche junge Frauen, die sich gegenseitig fordern, sich schließlich einander öffnen und auf ungewöhnliche Art ineinander wiedererkennen. In klaren, meditativen und lyrischen Bildern, die mehr und mehr zu einem Flow werden, entsteht ein intensives, irrlichterndes Generationenporträt und eine hintergründige Hommage an die Elbe von Dresden.
Credits:
DE 2023, 94 Min., Regie: Michael Klier Kamera: Jenny Lou Ziegel, Markus Koop Schnitt: Gaya von Schwarze mit: Kotti Yun, Lena Urzendowsky, Laura Tonke, Jeremias Meyer, Vu Dinh
Ein musikalischer Dokumentarfilm über Sakamotos letztes Konzert, bei dem nur er und sein Klavier zu hören waren. Ein stiller, nachdenklicher und berührender Film über das Leben und die Erfüllung durch die Musik.
Credits:
JP 2023, 103 Min., Regie: Neo Sora Kamera: Bill Kirstein Schnitt: Takuya Kawakami
Eine ganz eigene, magische Erzählung über einen Jäger verlorener Artefakte. Angesiedelt in den traumhaften Landschaften von Riparbella in der Toskana in den 1980er Jahren, erzählt „La Chimera“ die Geschichte von Arthur (Josh O’Connor), einem ehemaligen britischen Archäologen, der mittlerweile ein düsteres Gangsterleben führt. Als wir ihn zum ersten Mal im Film sehen, ist Arthur gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Zuvor hat er die alternde Aristokratin Flora (Isabella Rossellini) getroffen und sich in deren Tochter Beniamina (Yile Vianello) verliebt. Als Beniamina stirbt, schließt sich Arthur einem kleinen Netzwerk von kuriosen Grabräubern an, die sich mit viel kreativer Kraft dem Diebstahl von etruskischen Schätzen widmen. Während die meisten aufs große Geld hoffen, ist Arthur nur daran interessiert, sich mit seiner verstorbenen Traumfrau wieder zu vereinen.
Wie schon Rohrwachers frühere Werke, so ist auch „La Chimera“ ein elegantes Amalgam des italienischen Kinos. Echos der Werke der größten Meister durchziehen ihren Film; von Pasolinis Außenseiterromantik, über die Folklore der Werke der Gebrüder Taviani bis hin zu den ernsten Glaubensbekenntnissen eines Ermanno Olmi. Und die Gang der etruskischen Grabräuber könnte ohne weiteres aus Fellinis „Amarcord“ oder „Roma“ gecastet sein. Dennoch folgt die italienische Regisseurin nicht nur den Spuren großer Vorbilder, sondern formt sehr intelligent ihren eigenen, unverwechselbaren Stil, der zwischen der Rauheit des Neorealismus und einer traumhaften Verspieltheit changiert und fließend zwischen verschiedenen Konventionen wechselt. Es ist ein Kino der großen Gefühle und sinnlichen Freude, das den Abenteuer-Plot in einen filmischen Karneval überführt und den Alice Rohrwachers geniale Kamerafrau Hélène Louvart in einen wilden Mix aus 35mm, 16mm und Super8-Aufnahmen einfängt. Kurzum: Eine Feier von Zelluloid-Träumen. Dafür gewann der Film im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes den FIPRESCI-Preis als bester Film.
Around the world in 14 films
Credits:
IT, FR, CH 2023, 134 Min., ital./engl. OmU Regie: Alice Rohrwacher Kamera: Hélène Louvart Schnitt: Nelly Quettier mit: Josh O’Connor, Carol Duarte, Isabella Rossellini, Alba Rohrwacher
Takumi (Hitoshi Omika) und seine Tochter Hana (Ryo Nishikawa) leben in einem kleinen Dorf namens Mizubiki, das nicht weit von der japanischen Hauptstadt Tokio entfernt liegt. Ihr Leben ist einfach und eng mit der Natur verbunden. Sie genießen die Kargheit und Abgeschiedenheit ihres Alltags. Doch diese Idylle scheint bald ein Ende zu nehmen. Ein Unternehmen aus Tokio plant, eine Luxus-Campinganlage in der Nähe zu errichten. Das entschleunigte Leben der Dorfbewohner hätte damit ein Ende. Die Fronten sind verhärtet. In einem Versuch, die Situation zu entschärfen, schickt das Unternehmen zwei Agenturmitarbeiter nach Mizubiki. Doch anstatt einer Lösung nahezukommen, führt dies zu weiteren Spannungen –mit tiefgreifenden Folgen für alle Beteiligten. Umwelt gegen Ökonomie. Um diese Auseinandersetzung geht es in Hamaguchis Werk, das auf dem letztjährigen Filmfest von Venedig acht Minuten lang Standing Ovations erhielt. „Evil Does Not Exist“ ist eine feinfühlig erzählte, ökologische Reise zu dem, was die Menschen in Mizubiki im Innersten antreibt und was sie erfüllt: sie existieren selbstbestimmt und unabhängig. Sie leben von dem, was der Wald ihnen gibt und was auf natürliche Weise vorhanden ist. Als Zuschauer beobachtet man Takumi beim Wasserholen (aus dem nahegelegenen Fluss), Holz hacken, bei den ausgiebigen Wanderungen und auf Hirschjagd. Oft ist seine interessierte Tochter Hana mit dabei, der Takumi viel über die Wälder, Tiere und Bäume lehrt. Gerade jene Szenen im Wald haben etwas zutiefst Meditatives und zählen zu den stimmungsvollsten des Films. Verantwortlich dafür sind neben den ungewöhnlichen Blickwinkeln und Kameraperspektiven noch zwei andere Aspekte. Zum einen die authentische Soundkulisse und Klanglandschaft, vom Fließen des Baches über die knackenden Äste bis hin zum Vogelgezwitscher. Zum anderen die wunderschöne, anrührende Filmmusik, komponiert von der japanischen Künstlerin Eiko Ishibashi. Ihre Klänge unterstreichen viele Szenen, nicht nur jene im Wald. Und meist hat man das Gefühl, dass ihre Musik maßgeblich und stellvertretend für die Stimmung des gesamten Films ist. Zu jener Naturverbundenheit und dem bereits angesprochenen Realismus kommt aber etwas hinzu, das den Frieden stört. Den Frieden und das ruhige Leben der Dorfbewohner. Das Eintreffen der beiden Firmenvertreter in Mizubiki ebenso wie die „Glamping“-Pläne ihres Arbeitgebers, symbolisieren das Eindringen des Menschen in die Natur. Stehen die Dörfler exemplarisch für ein naturbewusstes Dasein und die Liebe zur Umwelt, so geben die Firmenvertreter dem Kapitalismus und Gewinnstreben ein Gesicht. Doch „Evil Does Not Exist“ gewährt jeder Seite letztlich eine faire Chance, um für ihre Position einzustehen und Argumente darzulegen. Ryusuke Hamaguchi ergreift keine Partei, auch wenn sein Standpunkt subtil und unterschwellig oft durchscheint. Und egal ob Dorfbewohner oder Städter: Hamaguchi entlockt seinen Schauspielern durch den reduzierten Einsatz von Dialogen durchweg und unablässig gelungene, wahrhaftige Leistungen.
Es beginnt beim Bestatter: Helke Sander sucht sich einen Sarg aus, kein Zeichen von Fatalismus oder Morbidität, sondern von Selbstbestimmung bis zum Ende. Eigentlich würde sie gerne einfach in einem Tuch begraben werden, so wie es bei Muslimen Tradition ist, doch für eine Deutsche auf einem deutschen Friedhof gelten strenge Regeln.
Dass sie auch hier die Regeln hinterfragt passt zu einer Frau, die in einem Moment sagt: „Wer nachdenkt, radikalisiert sich auch.“ Nachgedacht hat Helke Sander viel, besonders in den 60er Jahren, als die Studentenrevolten ihren Anfang nahmen, Revolten, die aber bei aller Radikalität oft von einem immanenten Sexismus geprägt waren. Das Patriarchat ließ sich bei den Eltern gerne anklagen, bei sich selbst waren die Muster nicht so schnell wegzubekommen. Und so kam es 1968 zu Helke Sanders legendärer Rede vor dem SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Sie forderte die Männer im Saal auf, sich nicht nur für die Befreiung der unterdrückten Völker in Vietnam oder anderswo einzusetzen, nicht nur auf das große Ganze zu schauen, sondern auch das kleine, das wenig Spektakuläre im Auge zu behalten: Die Realität der Frauen in Deutschland, in Frankfurt und Berlin.
Dort studierte Sander im legendären ersten Jahrgang der Filmhochschule DFFB, in dem unter anderem Wolfgang Petersen, Harun Farocki, Hartmut Bitomsky und auch der spätere RAF-Terrorist Holger Meins studierten. Erste Filme drehte Sander noch in den 70er Jahre, ihren bekanntesten 1978. In „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“ spielt sie selber die Hauptrolle einer alleinerziehenden Frau, die in West-Berlin als Fotografin arbeitet und versucht, Kind, Beruf, Privatleben und politisches Bewusstsein unter einen Hut zu bringen.
Nicht nur durch ihr eigenes Mitwirken vor der Kamera wird deutlich, wie autobiographisch dieser Film war: Anfang der 60er Jahre zog Sander nach Finnland, bekam ein Kind und kehrte später als alleinerziehende Mutter nach Berlin zurück. In der Rückschau blicken sie und Zeitgenossinnen durchaus selbstkritisch auf diese Zeit zurück, geben zu, dass die Kinder nicht immer die Aufmerksamkeit bekamen, die sie vielleicht hätten bekommen sollen.
Das Private und das Politische unter einen Hut zu bringen, das war damals schon schwierig, das ist es auch heute noch, doch die Fortschritte, die seit den 60er Jahre in der Gesellschaft, aber auch in der Filmbranche zu beobachten sind, zeigen, dass der Einsatz von Helke Sander und anderen nicht umsonst war. Heute gibt es die Initiative ProQuote, heute gibt es Kinderbetruung am Filmset und manch andere Errungenschaft. Wie Claudia Richarz in ihrem Dokumentarfilm „Helke Sander: Aufräumen“ überzeugend zeigt: Nicht zuletzt dank Helke Sander.
Michael Meyns | programmkino.de
Credits:
GB 2023, 101 Min. Regie: Claudia Richarz Kamera: Claudia Richarz, Martin Gressmann, Volker Sattel Schnitt: Martin Kayser-Landwehr, Magdolna Rokob
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