Raus aus Amal trifft Romeo & Julia trifft Bandes de Filles Sommer in einem Pariser Vorort. Mit leichter Hand erzählt Besties von Nedjma, deren Welt sich auf den Kopf stellt, als sie Zina, der neuen Nachbarin, begegnet. Das große Problem: Zina gehört einer verfeindeten Clique an. Nedjmas Freundinnen, mit denen sie um die Häuser zieht, würden eine solche Verbindung nie tolerieren. Sie haben einen Ruf zu verteidigen und schädigen mit niederträchtiger Finesse den Ruf derer, die sich ihrer Meinung nach respektlos verhalten, sich also beispielsweise auf „ihre“ Bank setzen. Zinas Freundinnen wiederum lassen sich auch nichts gefallen. So steht Nedjma vor einem Dilemma, wartet sie sich doch immer sehnsüchtiger auf das nächste heimliche Treffen mit der geliebten Zina, möchte aber loyal zur Clique stehen. Zu den notwendigen Lügen kommt noch die Unsicherheit der ersten großen Liebe, zudem zu einer Frau. „Auf eine Wand in meiner Nachbarschaft wurde gesprüht: Der erste, der sich verliebt, hat verloren. Das ist wahr. Denn danach reden alle über dich und du bist ausgeliefert. Ich habe verloren. Ich bin in ein Mädchen verliebt, ich weiß nicht, was ich tun soll …“ Nedjma „Besties ist psychologisch stark, auch gefühlvoll, vor allem wirkt er aber authentisch und wahrhaftig. Eine kleine Perle des jungen queeren Kinos Frankreichs.“ programmkino.de
Credits:
Les meilleures FR 2021, 80 Min. frz. OmU Regie & Buch: Marion Desseigne Ravel Kamera: Lucile Mercier Schnitt: Julie Picouleau, Elif Uluengin mit: Lina El Arabi, Esther Rollande, Leila, Mahia Zrouki, Tasnim Jamlaoui
Eine Karte von Mecklenburg hing in Uwe Johnsons letztem Arbeitszimmer im englischen Sheerness. Die Region seiner Kindheit, in die er nach der Auswanderung in den Westen nicht mehr zurückgehen und die er danach nur noch literarisch rekonstruieren konnte. Volker Koepps Film ist als Geobiografie angelegt, er reist mit Johnsons Texten zu den Lebensorten des Autors, findet Menschen und Landschaften, die mal einen engen, mal einen freien Bezug zum Werk und zur Person haben. Koepps und Johnsons poetische Projekte verbinden sich: Ihre Landschaften und Biografien kennen keine linearen Entwicklungen, in ihnen bleibt die Geschichte gespeichert und legt sich selbst immer wieder frei. Für Johnson sind beim Bad in der Ostsee die Toten anwesend, die nach der Versenkung der Cap Arcona 1945 in der Lübecker Bucht trieben. Eine Gesprächspartnerin von Koepp denkt bei Italienurlauben an heutige Fluchten über das Mittelmeer. Johnsons Trauer über den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in Prag spiegelt sich im aktuellen Angriff Russlands auf die Ukraine, der die Dreharbeiten bestimmt. Wenn ein Fluss langsam fließt, kann er bei etwas Wind die Richtung ändern und kommt wieder zur Quelle.
Volker Koepp, „Seestück“, Ostseeküste in VorpommernVolker Koepp, „Seestück“, Sheerness-on-Sea
Credits:
DE 2023, 168 Min. deutsche OmeU Regie: Volker Koepp Schnitt: Christoph Krüger Kamera: Uwe Mann mit Stuart Roberts, Judith Zander, Erhard Siewert, Peter Kurth, Hans-Jürgen Syberberg, Helga Elisabeth Syberberg, Aukje Dijkstra, Undine Spillner, Fritz Rost, Heinz Lehmbäcker, Hanna Lehmbäcker, Dietrich Sagert, Kristian Wegscheider, Christian Höser, Thomas Irmer, Uta Löber, Erdmut Wizisla, Karin Bosinski, Hartmut Bosinski
Urlaub am Meer. Sara (Juliette Binoche) und ihr Lebensabschnittsgefährte Jean (Vincent Lindon) fühlen sich frei und glücklich, wie zwei Delphine schwimmen sie nebeneinander her. Nach ihrer Rückkehr ins Pariser Stadtleben kehrt die Alltagsroutine zurück, eine Zäsur ergibt sich, als Sara im Gewimmel einer Metrostation zufällig einen längere Zeit nicht gesehenen Freund entdeckt. Dieser Moment trifft sie wie ein Blitzschlag. Zufällig erzählt ihr Jean, dass just dieser Freund ihm die Partnerschaft in einer Agentur zur Vermittlung junger Rugby-Talente angeboten hat. Eine Begegnung von Sara mit François (Grégoire Colin), über den sie vor mehr als zehn Jahren Jean überhaupt erst kennengelernt hatte, bleibt nicht aus. Und dieses Wiedersehen sorgt in der Folge dafür, dass nicht nur für Sara eine Achterbahnfahrt der Emotionen beginnt und sie sich entscheiden muss, mit welchem der beiden Männer, denen sie sich auf doch recht unterschiedliche Weise in Liebe verbunden fühlt, sie zusammenleben möchte.
Die Geschichte, die Claire Denis in ihrem jüngsten, 2022 bei den Filmfestspielen in Berlin mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten und im Herbst dann auch bei den Französischen Filmtagen in Tübingen/Stuttgart vorgestellten Werk verhandelt, ist im Grundsatz keine neue. Doch erzählt und vor allem gespielt ist sie mit einer Intensität, wie man sie auf der Leinwand nur selten zu sehen bekommt. Was Sara fühlt, das meint man als Zuschauender förmlich selber zu spüren. „C’est repartie“, sagt Sara über die Rückkehr schlafloser Nächte und über ihr inneres Aufgewühltsein, welches sie manchmal wie unter einer Trance erscheinen lässt. Auch Lindon ist in seinen Reaktionen und in seiner Haltung wahrhaftig, gestresst zudem durch im Nebenplot verhandelte Probleme mit seinem jugendlichen Sohn, um den zu kümmern sich dessen Großmutter (Bulle Ogier) jedoch überfordert fühlt. Denis legt dabei immer wieder auch die Mechanismen gesellschaftlicher Rollenbilder offen, die zum Beispiel die Frau als ohnmächtig und bevormundet charakterisieren, ohne dass es den Männern des Films in irgendeiner Art und Weise bewusst wäre und dazu führt, dass beide Männer auf jeweils ihre Art und Weise Druck auf die von ihnen begehrte Frau ausüben. Nach und nach einstreute Hinweise auf die Vorgeschichte der beiden Männer helfen dabei, die Figuren in ihrem Verhalten besser zu verstehen.
Claire Denis und ihre Co-Autorin Christine Angot haben schon 2017 beim Spielfilm „Meine schöne innere Sonne“, in dem es um Roland Barthes Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe“ ging, zusammengearbeitet. Diesmal gab Angots Roman „Un tournant de la vie“ den Anstoß für dieses seinen Figuren immer wieder auch in Nahaufnahmen auf den Leib rückendes Liebesdrama. Ein Drama, dass sich bekannten Erzählmustern jedoch entzieht und mit der menschlichen Psyche zu spielen weiß.
Interessant auch zu beobachten, wie und wann pandemiebedingt Masken getragen werden, wie Küsschen links und rechts selbst bei Begegnungen mit sehr vertrauten Menschen unterbleiben und zu Distanz führen. Weitere gesellschaftliche Aktualität liefern Interviews von Sara als Radiojournalistin mit der libanesischen Verlegerin Hind Darwish zum Thema Flucht und Immigration oder Aussagen über die von Ex-Fußballstar Lilian Thuram in seinem 2021 erschienenen Buch „Das weiße Denken“ geäußerten Gedanken zu Rassismus und der Rolle der Hautfarbe als psychologischem Problem. Nicht unwesentlich ist auch die Rolle, die einmal mehr die britische Band Tindersticks – seit „Nénette et Boni“ sind sie bei Claire Denis gesetzt – spielt. Ihr hypnotischer Score mit oft düsteren Streichern, die in ihrer Schwere an die Auftragsarbeit „Ypres“ (2014) erinnern, verstärkt die bewegten Gefühle von glücklichen Zeiten am Meer bis hin zu aufbrausenden Streitigkeiten in Paris aufs Intensivste.
Thomas Volkmann | programmkino.de
Credits:
Avec amour et acharnement FR 2022, 116 Min., frz. OmU Regie: Claire Denis Kamera: Eric Gautier Musik: Tindersticks Schnitt: Emmanuelle Pencalet, Sandie Bompar, Guy Lecorne mit Juliette Binoche, Vincent Lindon, Grégoire Colin, Issa Perica, Bulle Ogier, Mati Diop
Muss man muss weder aus dem Ruhrgebiet (oder vom Rand) kommen, noch Mutter, noch Tochter sein, um diesen Film zu verstehen, und ebenfalls nicht ambitionierte Schauspielerin mit Traumschiff-Angebot, so wie Nina„ die Protagonistin. Nina kommt zur Beerdigung der geliebten Oma nach Holzwickede in ihr Elternhaus. Wegen plötzlicher Sarglieferschwierigkeiten aber muss der Termin verschoben werden. So bleibt sie unwillig und unfreiwillig noch ein paar Tage länger bei den Eltern, obwohl es sie eigentlich zurück nach Amsterdam zieht, zu Freund und Kind und Theaterauftritt. Lakonisch, lebensnah und nicht ohne Witz erzählt der Film von Entfremdung und Wiederannäherung, Verlust und Trauer, und, obwohl alle dem eigentlich längst entwachsen sein sollten, vom Kind-Sein und Eltern-Sein, einem offenbar lebenslangen Zustand. „Regisseurin Egen lässt ihren Film an ein paar wenigen Tagen spielen, es ist Hochsommer, alles lichtdurchflutet, und im kleinen Kosmos des Reihenhauses brodeln Konflikte – geschickterweise lässt Egen diese nie ausbrechen. Denn im wirklichen Leben brechen sie auch nicht aus, wenn man die Mutter, den Vater besucht; auch nicht unbedingt in einer Ausnahmesituation wie dem Todesfall der Oma. Das macht den Film so lebensnah, in seiner ganzen Zugespitztheit…“ H. Mühlberge | kino-zeit
Credits:
DE 2023, 83 Min., Deutsch OmeU Regie: Tanja Egen Kamera: Claudia Schröder Schnitt: Nicolas Dusollier mit Friederike Becht, Marion Ottschick, Peer Martiny, Jasmina Musić, Stefanie Meier, Aleksandra Ćorović, Adi Hrustemović, Oliver Möller, Bruno Kirchhof
Trailer:
„On Mothers and Daughters” (Geranien) | Trailer | Berlinale 2023
[Credits] [Tickets & Termine – Teil1] [Tickets & Termine – Teil2] [Trailer] Wer beide Teile als Doppelprogramm sehen möchte, kann 2x den ermäßigten Preis buchen. Leute mit Ermäßigungsberechtigung können 2x den Berlinpass Preis buchen und Berlinpass Berechtigte zahlen 1x den Normalpreis für beide Teile.
Laura, eine junge Biologin aus Buenos Aires, kommt für einen Forschungsauftrag in die Provinzstadt Trenque Lauquen – und verschwindet plötzlich. Zwei Männer machen sich auf die Suche nach ihr, beide lieben diese Frau, beide verstehen nicht, warum sie gegangen ist. Spielt die russische Autorin Alexandra Kollontai eine Rolle, die Laura zuletzt las? Was hat es mit dem geheimnisvollen Briefwechsel auf sich, den Laura gefunden hatte, versteckt in den Büchern der lokalen Bibliothek? Während die beiden Männer sich auf ihre Spur begeben und Vermutungen anstellen, hält eine unheimliche Entdeckung im See des örtlichen Parks die Menschen der Kleinstadt in Atem … Mit ihrem dritten Spielfilm feiert Laura Citarella die Lust am Geschichtenerzählen und bedient sich bei so unterschiedlichen Genres wie Detektivgeschichte, Liebesfilm, Film noir und Mysterydrama mit einer an David Lynch erinnernden Note. Citarella ist Mitglied des argentinischen Filmkollektivs El Pampero Cine, das uns 2018 das vor Ideen übersprudelnde Kinowunderwerk La Flor bescherte.
Credits:
AR/DE 2022, Teil 1: 128 Min./Teil 2: 132 Min., span. OmU, Regie: Laura Citarella Kamera: Agustín Mendilaharzu, Inés Duacastella, Yarará Rodriguez, Schnitt: Miguel de Zuviría, Alejo Moguillansky, mit Laura Paredes, Ezequiel Pierri, Rafael Spregelburd, Elisa Carricajo, Juliana Muras, Verónica Llinás, Cecilia Rainero u. a.
Ein amerikanischer Filmproduzent engagiert einen Drehbuchautor, weil er meint, sein Regisseur sei dabei, einen Flop zu drehen. Die Ehe des Drehbuchautors geht dabei zu Bruch, weil seine Frau nicht ertragen kann, dass ihr Mann sich dem Geldgeber verkauft, mehr noch, das Gefühl hat, dass er sogar sie selbst dem Produzenten anbietet. Godard macht ein Experiment: Er dreht einen teuren Film mit zwei Großproduzenten (Carlo Ponti und dem Amerikaner Levine), die eine Rendite erwarten über das Thema „was passiert, wenn die Geldgeber dem Regisseur in den Film dreinreden?“ Er engagiert einen berühmten Regisseur für die Rolle des Regisseurs, spielt selbst den Assistenten und bittet seinen Hauptdarsteller, zum Drehen seine eigene Kleidung zu tragen. So wird klar, das ist nicht nur Filmhandlung, sondern auch Realität, und wenn er den ganzen Film über den Regisseur gegen den Produzenten in Schutz nimmt, verkauft er dessen realem Pendant ein Plädoyer für die Freiheit des Künstlers gegenüber dem Geldgeber. Dumm nur, dass die vermeintlich Gefoppten dann doch immer am längeren Hebel sitzen und so gemeine Dinge tun wie z.B. eine Nacktszene mit Brigitte Bardot in den Film zu zwingen.
Dieser Film wurde von 2021 bis 2023 von STUDIOCANAL bei HIVENTY mit Unterstützung des CNC in 4K digital restauriert. Durch die Version des Films hat man die Gelegenheit, zur ursprünglichen Farbpalette des Films zurückzukehren. Um die Restaurierung zu optimieren, wurden das ursprüngliche 35-mm-Negativ und Szenen aus dem Zwischenpositiv sowie die Referenzkopie verwendet, die 2002 von Raoul Coutard, dem Kameramann des Films, überarbeitet wurde.
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Credits:
FR 1963, 105 Min., frz. OmU Regie: J.-L. Godard Kamera: Raoul Coutart mit: Michel Piccoli, Brigitte Bardot, Jack Palance, Fritz Lang, Francesca Vanini, Georgia Moll
Es sind viele Geschichten, und doch nur eine – persönlich und kollektiv zugleich. Regisseurin Maysson Pachachi und (Drehbuch-)Autorin Irada Al-Jubori haben anhand von selbst gehörten Dialogen und erlebten Szenen eine fiktive Erzählung entwickelt, die uns einen Einblick gibt in das ganz alltägliche Leben in einem besetzten Land, zu einer Zeit extremer sektiererischer Gewalt und nächtlicher Ausgangssperren. 2006, drei Jahre nach dem Einmarsch der US-Truppen, ist Bagdad ein gefährlicher Ort voller Chaos und Ungerechtigkeit. Autorin Sara, die im Mittelpunkt des Films steht, muss mit ihrer Tochter Rima das Leben alleine meistern. Oft genug denkt denkt sie daran, die geliebte Stadt, das Land zu verlassen, um Rima eine bessere, oder überhaupt eine Zukunft zu ermöglichen, aber nicht zuletzt die Nachbarschaft, Familie, Freund:innen und Rima selber halten sie bislang davon ab. Trotz aller aufregenden Geschehnisse und Ereignisse ist der Film der aus dem Irak stammenden Regisseurin zurückhaltend inszeniert, ohne zu beschönigen.
„Wir sind der Meinung, dass es gerade jetzt wichtig ist, Geschichten von individuellem Widerstand und Hoffnung über den Nahen Osten zu erzählen, wo so viele Menschen es immer noch schaffen, als Menschen miteinander solidarisch zu sein, trotz des stark spaltenden Drucks von Religion und Politik, mit dem sie leben.“ Maysson Pachachi / Irada Al-Jubori
Credits:
UK, FR, DE, KW 2021, 117 Min., arab.OmU Regie: Maysoon Pachachi Schnitt:Alexandre Donot Kamera: Jonathan Bloom mit: Darina Al Joundi, Zainab Joda, Basim Hajar, Labwa Arab, Amed Hashim
Im Werk von Thomas Schütte geht es immer um den Menschen. Seine Arbeiten haben Schwere und Leichtigkeit, zeigen Beschädigungen, Machtverhältnisse, Ängste, Abhängigkeiten, böse, schräge und schöne Gestalten. Das Arbeiten mit den Händen, das Zeichnen, das Aquarellieren, das Modellieren, das Formen mit Ton und Knetmasse, das Bauen mit Holz und anderen Materialien stehen im Zentrum seiner künstlerischen Tätigkeit; sein Wissen um handwerkliche Techniken verbindet ihn eng mit seinen Werkstätten. Schütte studierte an der Kunstakademie Düsseldorf bei Fritz Schwegler und Gerhard Richter. Heute zählt er zu den bedeutendsten Künstlern der Gegenwart und ist weltweit in allen großen Museen und Sammlungen vertreten. Corinna Belz wählte für ihr Porträt einen klassischen Weg. Am Anfang steht eine wiederentdeckte Idee, am Ende das Kunstwerk, die „Nixe“, als fertige Skulptur. Dazwischen gibt es Begegnungen mit langjährigen Mitarbeiter:innen und Galerist:innen, Innenansichten und Rückschauen. „Für Corinna Belz und ihr Interesse am kreativen Akt ist Thomas Schütte ein idealer Kandidat. Nicht nur wegen seines trockenen Witzes und seiner locker-zugänglichen Art. Sondern zum einen, weil man innerhalb des arbeitsteiligen Prozesses, bei dem auch viele Handwerker nötig sind, den spezifischen Beitrag des Künstlers besser sieht. Und zum andern, weil Thomas Schütte gern schnell arbeitet. … Mit einfühlsamen Kamerafahrten und aufgeräumten Bildern funktioniert [der Film] als Dialog zwischen kinematografischer und bildender Kunst. Durch den Austausch auf Augenhöhe wirkt er dem Elitären entgegen, das sich meist mit der abgeschotteten Welt der Sammler verbindet. Und er durchkreuzt das Vorurteil, dass man als „normaler“ Mensch heutzutage sowieso keinen Zugang mehr zu Werken von Gegenwartskünstlern finde. Thomas Schütte und Corinna Belz beweisen das Gegenteil – mit einer immer wieder unterhaltsamen Reise zu den Brüchen und Kontinuitäten im Werk eines sich treu bleibenden Künstlers.“ Peter Gutting | kino-zeit
Credits:
DE 2023, 94 Min., engl., franz. deutsche OmU Regie: Corinna Belz Schnitt: Rudi Heinen Kamera: David Wesemann, Jule Katinka v. Cramer
Kaum ist Felice wieder in Neapel, geht er hinaus auf die Straße und taucht ein in das Chaos der trubeligen Großstadt mit ihrem Lärm, ihren unzähligen verschlungenen Gassen und Gässchen, ein Labyrinth voller Mysterien, voller Dreck und Blumen – eine Mischung aus alt und neu, hell und dunkel, pittoresk und hässlich zugleich. Am nächsten Tag besucht er seine Mutter, die allein in einer düsteren, zugeräumten Wohnung lebt. Sie ist nur noch Haut und Knochen. Ihretwegen ist er gekommen, und ihretwegen will er bleiben. Er versorgt sie, badet sie und kauft ihr neue Kleidung. Wenige Tage später hat er in seinem alten Viertel mit dem schönen Namen Sanità eine Wohnung angemietet und nimmt die Mutter bei sich auf. Immer öfter holen ihn die Erinnerungen an seine Jugend ein – er war damals eine große Nummer im Kiez mit seinem Moped, ständig auf Achse und gierig, etwas Neues zu erleben. Kaum jemand erkennt ihn heute noch, doch er wird gewarnt: Sein ehemaliger bester Freund Oreste ist der „Malommo“, ein schlechter Mensch, einer der Mafiabosse in der Gegend. Skrupellos und gewalttätig gebietet er über das gesamte Viertel. Sein größter Gegner ist der kämpferische Pfarrer Don Luigi, der versucht, mit Idealismus und guten Ideen die Herrschaft der Camorra zu brechen. Nach dem Tod der Mutter schließen Felice und Don Luigi Freundschaft. Immer tiefer taucht Felice ein in die Stadt am Fuße des Vesuvs, aber wie ein Damoklesschwert schwebt ein Geheimnis über ihm.
Vom sanften Beginn bis zu seinem unausweichlichen Ende behält der Film eine undurchschaubare Stimmung. Da ist sehr viel Abgründiges, manches ist rau und spröde oder schwer verständlich, vielleicht nur für Eingeweihte. Doch der Zauber dieser kaum fassbaren Metropole teilt sich auch denen mit, die noch nie in Neapel waren. In langen, meist ruhigen Einstellungen zeichnet Mario Martone ein faszinierendes Bild dieser Stadt, genauer gesagt: des Viertels Sanità, in dem Felice aufwuchs und wo er seine Jugend verbrachte, bis er aufgrund eines schlimmen Ereignisses Neapel verlassen musste. Für die Rückblenden wählt Martone das altmodische Academy Format – ein Filmbild im Format 4:3. Die Erinnerungen tauchen anfänglich wie kurze Blitze auf und werden immer intensiver. Da begegnen sich das alte und das neue Neapel, so wie der alte und der junge Felice und sein Jugendfreund, der blondschöpfige Oreste (Tommaso Ragno), der ein Mafiaboss wurde und jeden von Felices Schritten beobachten lässt.
Man taucht förmlich ein in den Lärm und in die unvergleichliche Atmosphäre dieser Stadt. Wenn Felice nach so langer Zeit seine Mutter wiedersieht, dann ist da viel Zärtlichkeit und Wehmut, und wenn er sie in die Badewanne setzt und sie wäscht, wobei sie sich sehr schämt, dann hat das etwas sehr Anrührendes. Doch Martone führt das Publikum geschickt in die Irre, denn dies ist keinesfalls ein rührseliges Kitschdrama. Im Gegenteil: Der Reiz dieses schwierigen, aber schönen Filmes entfaltet sich vor allem beim Hinschauen. Zu Beginn hat Felice vieles vergessen, doch je länger er in Neapel bleibt, desto stärker werden die Erinnerungen und desto mehr fällt ihm wieder ein von dem, was er 40 Jahre lang verdrängt hat. Und was als Mutter-Sohn-Geschichte begann, wird zu einem Thriller, in dem es um Schuld und Unschuld geht, um Freundschaft und Verrat.
Pierfrancesco Favino spielt den Felice als ruhigen, schwer durchschaubaren Mann, der offenbar einiges hinter sich hat. Er strahlt viel Gelassenheit aus, lässt sich kaum aus der Ruhe bringen, lächelt selten. Er lässt sich durch die Stadt treiben und ist doch kein Getriebener. Nebenbei erfährt man, dass er mittlerweile als reicher Mann im Libanon lebt, eine Ärztin geheiratet hat und Moslem wurde. Doch seine Rückkehr nach Neapel löst offenbar etwas in ihm aus, was er nur schwer kontrollieren kann. Er will sich der Vergangenheit stellen, will Klarheit – tabula rasa für sich selbst. Dafür braucht er die Mitwirkung des Malommo, seines alten Freundes Oreste. Nur mit seiner Hilfe kann Felice sich seinen Traum erfüllen, seine Frau zu sich holen und in Neapel bleiben. Ein Hoffnungsschimmer …
Gaby Sikorski | programmkino.de
Credits:
IT / FR 2022, 118 Min., ital. OmU Regie: Mario Martone Kamera: Carmine Guarino Schnitt: Jacopo Quadri mit: Pierfrancesco Favino, Francesco Di Leva, Tommaso Ragno
Terrorismus oder Selbstverteidigung? Ist es angesichts des fortschreitenden Klimawandels und den abzusehenden verheerenden Auswirkungen legitim, einen radikaleren Weg einzuschlagen als den bisherigen friedfertigen? Acht junge Leute aus diversen Zusammenhängen haben sich in How to blow up a pipeline dafür entschieden und wollen eine Ölleitung sabotieren. Der Akt soll nicht nur aufrütteln, sondern direkte, auch finanzielle Auswirkungen auf die Petroindustrie haben und dort Ängste schüren. In diesem zunehmend spannenden Polit-Thriller, der das provokante, gleichnamige Manifest des schwedischen Wissenschaftlers Andreas Malm ernst nimmt, begleiten wir die Aktionen der Klimaaktivist*innen in der texanische Wüste zunächst so minutiös wie in jedem ordentlichen Heist-Film, unterbrochen nur durch Rückblenden, in denen die persönlichen Beweggründe ausgeführt werden. Da jederzeit etwas in die Luft fliegen kann, auf technischer Ebene wie untereinander, fiebern wir mit und fragen uns dann, wie die Sache wohl ausgeht … Der Film ist im Übrigen keine Anleitung zum Bombenbau, sondern eine Genre-Film mit hohem Eskapismus-Potential, der höchst aktuelle Fragen aufwirft. „… Der Film orientiert sich an seinen Helden: Er will das Publikum zum Handeln anregen, statt sich zu unterwerfen. Es ist eine Höllenfahrt. Nach seiner Premiere in Toronto im vergangenen Jahr bezeichnete die New York Times HOWTOBLOWUP A PIPELINE als „kulturelles Wahrzeichen“ für seine sympathische Sicht auf den Öko-Terrorismus, während die Washington City Paper seine jugendliche Besetzung als ‚eine viel intensivere, explosive Version von The Breakfast Club‘‚ beschrieb.“ Simran Hans | The Guardian
Credits:
US 2022, 106 Min., engl. OmU, Regie: Daniel Goldhaber mit Ariela Barer, Kristine Froseth, Lukas Gage, Forrest Goodluck, Sasha Lane, Jayme Lawson , Marcus Scribner, Jake Weary, Irene Bedard, Olive Jane Lorraine
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