Der Film wird kontrovers gesehen – manche finden sogar, dass man zum Schluss, wenn der Mann alt und krank ist, Mitleid mit dem „Todesengel von Auschwitz” bekommt. Mir ging es nicht so, denn August Diehl verkörpert Mengele von Anfang bis Ende als inhuman, arrogant und selbstmitleidig. Serebrennikov verfilmt Mengeles Zeit in Lateinamerika (mit einigen Abstechern zurück nach Deutschland) nach seiner Flucht über die „Rattenlinie” als beklemmende Geschichtsstunde, in der viel ausgesprochen und gezeigt wird, was hier niemand wissen wollte und will. Er bezieht sich dabei auf den gleichnamigen, genau recherchierten Bestseller von Olivier Guez, wobei die bestechenden Schwarz-Weiß-Bilder eindeutig keinen dokumentarischen Charakter entfalten. „Seine Haltung [Mengeles] spiegelt nicht die Banalität des Bösen wider, sondern dessen groteske Überhöhung: den Glauben an die eigene Überlegenheit, angeheizt durch ein verzerrtes Opferbewusstsein. Auf diese Weise wird der Film zu einem Kommentar über zeitgenössische Strukturen der Täterschaft und Straflosigkeit, die ohne externe Systeme der Rechenschaftspflicht fortbestehen.“ (Evgeny Gusyatinskiy | Viennale)
Credits:
FR/MX/DE/GB 2025, 135 Min., deutsch, spanische OmU, Regie: Kirill Serebrennikov Kamera: Vladislav Opelyants Schnitt: Hansjörg Weißbrich mit: D: August Diehl, Max Bretschneider, Dana Herfurth, Friederike Becht, Mirco Kreibich, David Ruland
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Wer in der Schulzeit „Homo Faber“ von Max Frisch lesen musste/durfte, hatte vielleicht Lust bekommen mehr von ihm zu lesen. Mir jedenfalls ging es so und auch jetzt noch nehme ich mir regelmäßig vor, „Stiller“ oder wahlweise „Mein Name sei Gantenbein“ noch einmal zu lesen. Aber auch ohne das Buch zu kennen, oder gerade deshalb, sei der Film sehr spannend, konnte ich vernehmen. Bei einer Zugreise durch die Schweiz wird der US-Amerikaner James Larkin White an der Grenze festgenommen. Der Vorwurf: Er sei der vor sieben Jahren verschwundene Bildhauer Anatol Stiller, der wegen seiner Verwicklung in eine dubiose politische Affäre gesucht wird. White bestreitet seine Schuld und beharrt darauf, nicht Stiller zu sein. Um ihn zu überführen, bittet die Staatsanwaltschaft Stillers Frau Julika um Hilfe. Aber auch sie vermag ihn nicht eindeutig zu identifizieren, in Erinnerungen wird aber mehr und mehr die Beziehung des Ehepaars offengelegt. Der Staatsanwalt hat ebenfalls eine überraschende Verbindung zu dem Verschwundenen. Dass sich die Plakate von STILLER und FRANZ K., der eine Woche vorher startet, ähneln, ist kaum ein Zufall, geht es doch bei beiden Titelhelden auch um das Abhandenkommen von sich und der Welt. „Stiller” handelt an der Oberfläche von Selbst-und Fremdwahrnehmung, also um Identität, doch darunter liegt auch eine Auseinandersetzung mit der Nachkriegszeit und der Anfangsphase des kalten Krieges und wie alles zusammenhängen könnte. Wer will, kann also durchaus Parallelen zur heutigen Zeit erkennen.
„Stefan Haupt hat die Geschichte um Stiller und White erstmals für das Kino inszeniert und konzentriert sich dabei nur auf den ersten Teil des Buches. Wer den Roman kennt und Bedenken hat(te): Das funktioniert tatsächlich erstaunlich gut. Was im Roman über das Schreiben, das Erzählen, die Worte vermittelt ist – Stiller soll im Gefängnis seine Erinnerungen und Gedanken niederschreiben, um die Ermittlungen in einem Mordfall voranzutreiben – passiert auf der Leinwand über die audiovisuelle Inszenierung und eben viel weniger über die Sprache“ Verena Schmöller | kino-zeit
Credits:
CHDE 2025, 99 Min., Deutschmit englischen Untertiteln Regie: Stefan Haupt Kamera: Michael Hammon Schnitt: Franziska Koeppel mit: Paula Beer, Albrecht Schuch, Marie Leuenberger, Sven Schelker, Max Simonischek
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Sorda ist das spanische Wort für taub. Ein ganz normales Paar, Ángela und Héctor, wünscht sich nach längerer Partnerschaft ein ganz normales Kind. Ángela ist fast gehörlos und was an sich schon eine ungemeine Herausforderung für ein Paar werden kann, bringt die beiden an die Grenzen, die zwischen beider Welten verlaufen. Genauso, wie sich Héctor auf einer Party seiner Frau und ihrem gehörlosen Freundeskreis als Randfigur wahrnimmt, wird Ángela noch bewusster, wie isoliert sich ein Leben mit ihrem Handicap anfühlen kann. Und zu welcher Gesellschaft wird das erwartete Kind gehören, das vielleicht auch gehörlos sein wird? Die Intimität und Feinsinnigkeit des Films sind sicher auch der Tatsache geschuldet, dass die gehörlose Hauptdarstellerin Miriam Garlo und die Regisseurin Eva Libertad Schwestern sind.
„Was heißt es, als gehörlose Frau in einer hörenden Mehrheitsgesellschaft Mutter zu sein? Diese Frage stellt sich Protagonistin Ángela in Eva Libertads Sorda, als sie und ihr hörender Partner Hector gemeinsam ein Kind erwarten. Inspiriert von Gesprächen mit ihrer gehörlosen Schwester Garlo, die auch die Hauptrolle übernimmt, untersucht Libertad die Vereinbarkeit der hörenden und gehörlosen Welt, teils anhand von Bevormundung und Ausgrenzung, die Ángela erfährt, insbesondere aber durch ein nuanciertes und emotionales Porträt einer liebevollen Paar- und Familiendynamik, die zwischen den Welten balanciert.” (Charlie Hain, Filmlöwin)
SORDA erhielt den Panorama Publikumspreis für den besten Spielfilm der Berlinale 2025.
Credits:
ES 2025, 99 Min., Spanisch, Spanische Gebärdensprache mit deutschen Untertiteln Regie, Buch: Eva Libertad Kamera: Gina Ferrer García Schnitt: Marta Velasco mit: Miriam Garlo, Álvaro Cervantes, Elena Irureta, Joaquín Notario
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Trailer:
Trailer SORDA, von Eva Libertad (OV/de), ab 6. November im Kino
Ein abgelegenes, mehr als baufälliges Haus irgendwo im Herzen Amerikas soll das neue zu Hause werden: Grace (Jennifer Lawrence) und Jackson (Robert Pattinson) sind freilebende, frei denkende Künstlernaturen, sie schreibt, er macht Musik, die der Großstadt und ihren Versuchungen entkommen wollen. Die Zivilisation wirkt sehr fern, allein Jacksons alternde Mutter Pam (Sissy Spacek) lebt nicht allzu weit weg.
Anfangs wirkt die selbstgewählte Einsamkeit auch mehr als stimulierend auf das Paar, der Alkohol fließt in Strömen, der Sex ist wild und bald wird ein Kind geboren. Und damit beginnen die Probleme, langsam, aber unaufhaltbar. Immer irritierter wirkt Grace, immer weniger bereit, sich in die von der Gesellschaft vorgegebene Rolle der sorgenden Mutter zu fügen, während Jackson immer häufiger der Arbeit (aber auch der Affären) wegen verschwunden ist und die Einsamkeit Grace zusätzlich belastet.
Acht Jahre ist es her, dass die schottische Regisseurin Lynne Ramsay zuletzt einen Film drehen konnte, den düsteren Thriller „You Were Never Really Here“, in dem Joaquin Phoenix so gut war wie selten und sich ganz der Vision Ramsays hingab. Ähnliches lässt sich nun über Jennifer Lawrence sagen, um die es in den letzten Jahren ein wenig ruhiger wurde, die sich nun aber mit einer fulminanten Darstellung zurückmeldet, die ebenso exzessiv wirkt, wie der Film.
Den baut Ramsay wie immer nicht linear, sondern impressionistisch auf, sie erzählt stringent, sondern elliptisch, springt zwischen Szenen, die in der Zukunft liegen und der Gegenwart hin und her, deutet in sporadischen Rückblenden die Anfänge der Beziehung zwischen Grace und Jackson an, vor allem aber zum Leben ihrer Schwiegermutter Pam und dessen inzwischen verstorbenen Mann Harry (Nick Nolte).
„Im ersten Jahr drehen wir alle ein bisschen durch“ sagt Pam einmal zu ihrer Schwiegertochter, wobei nicht ganz klar ist, ob sie vom ersten Jahr der Ehe oder vom ersten Jahr nach der Geburt eines Kindes spricht – oder Beidem. Die Geschichte wiederholt sich jedenfalls, die Muster einer Beziehung ändern sich nur schwer. Während Pam offenbar Probleme mit Harry hatte, aber dennoch bis zu dessen Tod mit ihm zusammenblieb (und noch Monate später seine Hemden bügelt), kann sich Grace nur schwer dazu durchringen, den Konventionen zu entsprechen, sich in ihre Rolle als Mutter und Hausfrau zu fügen.
Hätte ein Mann diesen Film gedreht, würde man ihm wohl vorhalten, sich am zunehmend labilen Zustand einer langsam in eine Psychose abdriftenden Frau zu laben und ihr Leid auszustellen. Als Blick einer Frau auf eine andere Frau wirkt „Die My Love“ jedoch bei allem Exzess wie ein sensibler, zunehmend tragischer Blick auf eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, die sich mit allem was sie hat, den von Männern gemachten Konventionen widersetzt. Dass es am Ende Lynne Ramsay selbst ist, die eine wunderbar sanfte Version des legendären Joy Divison Songs „Love will tear us apart“ singt, bringt die Intentionen dieses oft anstrengenden, aber ebenso mitreißenden Films schließlich auf den Punkt.
Michael Meyns | programmkino.de
Credits:
CA 2024, 118 Min., Englisch OmU Regie: Lynne Ramsay Kamera: Seamus McGarvey Schnitt: Toni Froschhammer mit : Jennifer Lawrence, Robert Pattinson, Lakeith Stanfield, Sissy Spacek
Trailer:
DIEMYLOVE | Offizieller Teaser-Trailer | Ab 13. November im Kino
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