Der seidene Faden

Ein Film von Paul Thomas Anderson.

Der Modedesigner Reynolds Woodcock (Daniel Day-Lewis) ist ein Gesamtkunstwerk. Mit dem glei­chen Perfektionismus, mit dem er sei­ne Kreationen ent­wirft, macht Reynolds auch sei­ne Morgentoilette und nimmt sein Frühstück ein. Reynolds Woodcock beim Frühstück zuzu­se­hen bedeu­tet Zeugin einer in jah­re­lan­ger Arbeit fein jus­tier­ten Routine zu wer­den, die voll­kom­men auf die Bedürfnisse des sen­si­blen Genies aus­ge­rich­tet ist. Jeder Misston, jede Belanglosigkeit könn­te den krea­ti­ven Fluss unterbrechen.

DER SEIDENE FADEN spielt im England der 50er Jahre, die bei Paul Thomas Anderson vor allem eine ästhe­ti­sche Idee sind. In opu­len­ten Bildern ent­fal­tet der Regisseur von PUNCH-DRUNK LOVE und THE MASTER das Königreich der Haute Couture, dem Reynolds vor­steht. Alles hier ist exqui­sit: die Farben, die Texturen, die Stoffe, die Tapeten, die Flügeltüren, der Lapsang Souchong, der zum Frühstück gereicht wird. Die Schneiderinnen, die jeden Morgen über den Dienstboteneingang das feu­da­le House-of-Woodcock betre­ten, sind die treu­en Vasallinnen, und das Oberkommando hat Reynolds Schwester Cyril (Leslie Manville) inne. Die gera­de aktu­el­le Geliebte des Meisters spielt in die­sem Szenario eine unter­ge­ord­ne­te Rolle und wird aus­ge­tauscht, sobald sie zu stö­ren beginnt. Das ändert sich, als Reynolds Alma (Vicky Krieps) begeg­net, einer jun­gen Immigrantin aus Osteuropa. Sie wird sein Model und sei­ne Geliebte, und anders als ihre Vorgängerinnen, schafft sie es, sich einen unver­zicht­ba­ren Platz in den Obsessionen des Meisters zu erarbeiten.

Anderson erzählt in DER SEIDENE FADEN eine kom­ple­xe, feti­schis­ti­sche Liebesgeschichte, in die gehei­me Obsessionen wie ver­steck­te Botschaften in den Saum eines Kleides ein­ge­ar­bei­tet sind. Von Anfang an leben Alma und Reynolds eine Dreiecksbeziehung – mit Reynolds Kreationen als drit­ter Person. Anstelle einer ers­ten Sexszene steht eine Anprobe, ein ritua­li­sier­tes Vermessen, von dem bei­de wis­sen, was es bedeu­tet. Bekleiden und Bekleidet wer­den sind ero­ti­sche Handlungen. „Ich kann stun­den­lang ste­hen“ und „In sei­nen Kleidern bin ich schön“ sagt Alma, und Reynolds ver­folgt ihren Gang auf dem Catwalk mit dem Blick eines Liebenden. Die Idylle bekommt jedoch Risse, als sich her­aus­stellt, dass Alma ein eige­nes Wesen ist und die eiser­nen Regeln des House-of-Woodcock durch­ein­an­der bringt. Statt die hei­li­ge Ruhe des Frühstücksrituals zu respek­tie­ren, rum­pelt sie gut­ge­launt her­um, und gießt den Tee von zu weit oben ein, was ein stö­ren­des Geräusch ver­ur­sacht. Als Reynolds belei­digt abrauscht, sagt sie zu Cyril die blas­phe­mi­schen Worte „Ich fin­de, er ist zu empfindlich!“

DER SEIDENE FADEN ist eine viel­fäl­tig schil­lern­de Angelegenheit. Eine hym­nisch-hedo­nis­ti­sche Feier von Farbe, Form und Stil. Ein iro­nisch-amü­sier­tes Porträt selbst­ver­lieb­ter Männlichkeit. Konstruktion und Dekonstruktion eines Genies. Vor allem aber ist DER SEIDENE FADEN eine gothic romance, eine über­bor­den­de Luxus-Liebesgeschichte mit mor­bi­den Aspekten und vol­ler psy­cho­lo­gi­scher Abgründe. Bei Anderson sind es gera­de die­se Abgründe, die das unglei­che Paar eine Art von Gleichgewicht fin­den las­sen. Der Fantasie von durch­the­ra­pier­ten Musterpartnern, das immer respekt­voll in Ich-Botschaften kom­mu­ni­zie­ren, setzt er ein Liebespaar ent­ge­gen, das nach sei­nen eige­nen, mög­li­cher­wei­se per­vers erschei­nen­den Regeln funk­tio­niert, zusam­men­ge­hal­ten von einem für alle ande­ren unsicht­ba­ren Faden, dem PHANTOM THREAD.
Hendrike Bake | indiekino
 


 
Credits:
Phantom Thread
USA 2017, 130 Min., engl. OmU
Regie, Buch & Kamera: Paul Thomas Anderson
Schnitt: Dylan Tichenor
mit: Daniel Day-Lewis, Camilla Rutherford, Lesley Manville, Vicky Krieps
 
Termine:
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