Nostalgia

Nostalgia

Ein Film von Mario Martone. 

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Kaum ist Felice wie­der in Neapel, geht er hin­aus auf die Straße und taucht ein in das Chaos der tru­beli­gen Großstadt mit ihrem Lärm, ihren unzäh­li­gen ver­schlun­ge­nen Gassen und Gässchen, ein Labyrinth vol­ler Mysterien, vol­ler Dreck und Blumen – eine Mischung aus alt und neu, hell und dun­kel, pit­to­resk und häss­lich zugleich. Am nächs­ten Tag besucht er sei­ne Mutter, die allein in einer düs­te­ren, zuge­räum­ten Wohnung lebt. Sie ist nur noch Haut und Knochen. Ihretwegen ist er gekom­men, und ihret­we­gen will er blei­ben. Er ver­sorgt sie, badet sie und kauft ihr neue Kleidung. Wenige Tage spä­ter hat er in sei­nem alten Viertel mit dem schö­nen Namen Sanità eine Wohnung ange­mie­tet und nimmt die Mutter bei sich auf. Immer öfter holen ihn die Erinnerungen an sei­ne Jugend ein – er war damals eine gro­ße Nummer im Kiez mit sei­nem Moped, stän­dig auf Achse und gie­rig, etwas Neues zu erle­ben. Kaum jemand erkennt ihn heu­te noch, doch er wird gewarnt: Sein ehe­ma­li­ger bes­ter Freund Oreste ist der „Malommo“, ein schlech­ter Mensch, einer der Mafiabosse in der Gegend. Skrupellos und gewalt­tä­tig gebie­tet er über das gesam­te Viertel. Sein größ­ter Gegner ist der kämp­fe­ri­sche Pfarrer Don Luigi, der ver­sucht, mit Idealismus und guten Ideen die Herrschaft der Camorra zu bre­chen. Nach dem Tod der Mutter schlie­ßen Felice und Don Luigi Freundschaft. Immer tie­fer taucht Felice ein in die Stadt am Fuße des Vesuvs, aber wie ein Damoklesschwert schwebt ein Geheimnis über ihm.

Vom sanf­ten Beginn bis zu sei­nem unaus­weich­li­chen Ende behält der Film eine undurch­schau­ba­re Stimmung. Da ist sehr viel Abgründiges, man­ches ist rau und sprö­de oder schwer ver­ständ­lich, viel­leicht nur für Eingeweihte. Doch der Zauber die­ser kaum fass­ba­ren Metropole teilt sich auch denen mit, die noch nie in Neapel waren. In lan­gen, meist ruhi­gen Einstellungen zeich­net Mario Martone ein fas­zi­nie­ren­des Bild die­ser Stadt, genau­er gesagt: des Viertels Sanità, in dem Felice auf­wuchs und wo er sei­ne Jugend ver­brach­te, bis er auf­grund eines schlim­men Ereignisses Neapel ver­las­sen muss­te. Für die Rückblenden wählt Martone das alt­mo­di­sche Academy Format – ein Filmbild im Format 4:3. Die Erinnerungen tau­chen anfäng­lich wie kur­ze Blitze auf und wer­den immer inten­si­ver. Da begeg­nen sich das alte und das neue Neapel, so wie der alte und der jun­ge Felice und sein Jugendfreund, der blond­schöp­fi­ge Oreste (Tommaso Ragno), der ein Mafiaboss wur­de und jeden von Felices Schritten beob­ach­ten lässt.

Man taucht förm­lich ein in den Lärm und in die unver­gleich­li­che Atmosphäre die­ser Stadt. Wenn Felice nach so lan­ger Zeit sei­ne Mutter wie­der­sieht, dann ist da viel Zärtlichkeit und Wehmut, und wenn er sie in die Badewanne setzt und sie wäscht, wobei sie sich sehr schämt, dann hat das etwas sehr Anrührendes. Doch Martone führt das Publikum geschickt in die Irre, denn dies ist kei­nes­falls ein rühr­se­li­ges Kitschdrama. Im Gegenteil: Der Reiz die­ses schwie­ri­gen, aber schö­nen Filmes ent­fal­tet sich vor allem beim Hinschauen. Zu Beginn hat Felice vie­les ver­ges­sen, doch je län­ger er in Neapel bleibt, des­to stär­ker wer­den die Erinnerungen und des­to mehr fällt ihm wie­der ein von dem, was er 40 Jahre lang ver­drängt hat. Und was als Mutter-Sohn-Geschichte begann, wird zu einem Thriller, in dem es um Schuld und Unschuld geht, um Freundschaft und Verrat.

Pierfrancesco Favino spielt den Felice als ruhi­gen, schwer durch­schau­ba­ren Mann, der offen­bar eini­ges hin­ter sich hat. Er strahlt viel Gelassenheit aus, lässt sich kaum aus der Ruhe brin­gen, lächelt sel­ten. Er lässt sich durch die Stadt trei­ben und ist doch kein Getriebener. Nebenbei erfährt man, dass er mitt­ler­wei­le als rei­cher Mann im Libanon lebt, eine Ärztin gehei­ra­tet hat und Moslem wur­de. Doch sei­ne Rückkehr nach Neapel löst offen­bar etwas in ihm aus, was er nur schwer kon­trol­lie­ren kann. Er will sich der Vergangenheit stel­len, will Klarheit – tabu­la rasa für sich selbst. Dafür braucht er die Mitwirkung des Malommo, sei­nes alten Freundes Oreste. Nur mit sei­ner Hilfe kann Felice sich sei­nen Traum erfül­len, sei­ne Frau zu sich holen und in Neapel blei­ben. Ein Hoffnungsschimmer …

Gaby Sikorski | programmkino.de

Credits:

IT / FR 2022, 118 Min., ital. OmU
Regie: Mario Martone
Kamera: Carmine Guarino
Schnitt: Jacopo Quadri
mit: Pierfrancesco Favino, Francesco Di Leva, Tommaso Ragno

Trailer:
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