Memory

Ein Film von Michel Franco. Ab 3.10. im fsk.

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Eine über­vor­sich­ti­ge Frau will noch nicht ein­mal den von ihr bestell­ten Handwerker in die eige­ne Wohnung las­sen. Nach einer Party wird die allein­er­zie­hen­de Mutter auf dem nächt­li­chen Heimweg ver­folgt und ver­rie­gelt zu Hause panisch die Tür. Der Verfolger lau­ert unbe­ein­druckt bis zum nächs­ten Morgen vor dem Hauseingang. Mit weni­gen Pinselstrichen zeich­net der mexi­ka­ni­sche Autorenfilmer Michel Franco effekt­voll die Ouvertüre zu sei­nem Psychodrama, einer Lovestory der etwas ande­ren Art. Zunächst wirkt vie­les rät­sel­haft und unver­ständ­lich. Je mehr sich all­mäh­lich die Story-Nebel lich­ten, des­to ein­drucks­vol­ler ent­hüllt sich ein raf­fi­nier­tes Beziehungs-Drama um Schuld und Sühne. Um ver­ges­sen, ver­drän­gen und verzeihen.

Oscarpreisträgerin Jessica Chastain spielt die unschein­ba­re Sozialarbeiterin Sylvia, die in New York in einer Einrichtung für psy­chisch labi­le Menschen arbei­tet und sich in der klei­nen Wohnung lie­be­voll um ihre jugend­li­che Tochter küm­mert. Hinter der gedie­ge­nen Fassade frei­lich lau­ern Traumata. Ein ers­ter Hinweis ist zum Auftakt Sylvias Auftritt bei den Anonymen Alkoholikern, wo sie stolz 13 Jahre Nüchternheit fei­ert. Was zur Sucht führ­te, das wird erst spä­ter dra­ma­tisch deut­lich. Das Rätsel des nächt­li­chen Verfolgers wird gleich­falls nur scheib­chen­wei­se gelüf­tet. Peter Sarsgaard gibt den mys­te­riö­sen Saul, der wie ein ver­wirr­ter Stalker wirkt. Doch in die­sem Film ist nur wenig so, wie es auf den ers­ten Blick scheint. Nie kann der Zuschauer sicher sein, wel­chen Figuren er ver­trau­en kann. Souverän wer­den neue Spuren und fal­sche Fährten aus­ge­legt. Kennen sich Saul und Sylvia bereits? An wen erin­nert sie jener geheim­nis­vol­le Fremde, der zuneh­mend ver­trau­ter wirkt. Was hat es mit den offen­sicht­lich gra­vie­ren­den Gedächtnislücken von Saul auf sich? Sehr viel mehr lässt sich von der raf­fi­niert kon­stru­ier­ten Story-Achterbahn nicht ver­ra­ten ohne Spoiler-Alarm aus­zu­lö­sen. Gleichsam ein dra­ma­tur­gi­sches Pilzgeflecht, das stän­dig neue Puzzleteile sprie­ßen lässt.

Zur unge­wöhn­li­chen Erzählweise gesellt sich ein fas­zi­nie­ren­des Figurenkabinett, des­sen schil­lern­de Ambivalenz immer wie­der ver­blüfft und für aller­lei Wow-Effekte sorgt. Visuell ver­mag das unge­wöhn­li­che Drama gleich­falls zu punk­ten. Als küh­ler Beobachter ver­harrt die Kamera gern sta­tisch in der Ferne und hält das Publikum auf Distanz. Derweil die Bilder von New York vor­wie­gend trist und grau gehal­ten sind, mei­len­weit ent­fernt von der gän­gi­gen Darstellung des Big Apple auf der Leinwand.

Um sol­che zunächst sper­rig anmu­ten­den Figuren zum Leuchten zu brin­gen und Empathie-Potenziale auf­zu­bau­en, bedarf es erst­klas­si­ger Akteure. Jessica Chastain und Peter Sarsgaard beherr­schen die emo­tio­na­le Balance zwi­schen Liebe und Lüge, zwi­schen Mut und Wut mit schein­bar mühe­lo­ser Leichtigkeit. Beide set­zen bei ihrer Gratwanderung auf maxi­ma­len Minimalismus, was für zusätz­li­che Intensität sorgt. Die Chemie zwi­schen den cha­ris­ma­ti­schen Darstellern ist spür­bar stim­mig, was die Glaubwürdigkeit die­ser unge­wöhn­li­chen Lovestory enorm erhöht. Wenn als trau­ri­ge Hymne des Paares „A Whiter Shade of Pale“ von Procol Harum in Dauerschleife auf dem Handy erklingt, hat das emo­tio­na­le Qualitäten ohne die gemein­hin übli­chen Sentimentalitäten des nost­al­gi­schen Stehblues-Klassikers.

Wie die­se Geschichte aus­geht? Auf jeden Fall endet sie ein­fach ganz unver­mit­telt. Mittlerweile gehört das schon zum Markenzeichen des mexi­ka­ni­schen Autorenfilmers Michel Franco. Auserzählte Lovestorys gibt es schließ­lich wie Sand am Meer.

Dieter Oßwald | programmkino.de

Credits:


US, MX 2023, 103 Min., engl. OmU
Regie: Michel Franco
Kamera: Yves Cape
Schnitt: Oscar Figueroa Jara, Michel Franco
mit: Jessica Chastain, Peter Sarsgaard, Merritt Wever, Brooke Timber, Josh Charles

Trailer:
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