Der letzte der Ungerechten

ein Film von Claude Lanzmann, noch ein­mal am 14.6 im fsk

Der Rabbiner Benjamin Murmelstein war der letz­te Vorsitzende des Judenrates von Theresienstadt. 1975 film­te ich ihn eine Woche lang in Rom. Der Fall Theresienstadt war in mei­nen Augen zugleich Nebenprodukt und zen­tra­ler Faktor der Entstehung und Abwicklung der Endlösung. Diese lan­gen Interviewstunden, die vie­le Enthüllungen aus ers­ter Hand brach­ten, haben mich seit­her nicht los­ge­las­sen. Ich wuss­te, ich ver­wah­re etwas Einzigartiges, schreck­te jedoch vor der schwie­ri­gen Aufgabe zurück, dar­aus einen Film zu kon­stru­ie­ren. Ich brauch­te lan­ge für die Einsicht, dass ich nicht das Recht hat­te, etwas Derartiges für mich zu behalten.
60 Kilometer nord­öst­lich von Prag liegt Theresienstadt. Die Ende des 18. Jahrhunderts erbau­te Festungsanlage erko­ren die Nazis zum Ort des­sen aus, was Adolf Eichmann als „Modell Ghetto” bezeich­ne­te – als Vorzeige-Ghetto. Wie in allen Ghettos in Polen nach Oktober 1939 wur­de ein Altenrat ein­ge­setzt, bestehend aus zwölf Mitgliedern plus dem Ältesten, dem so genann­ten „Judenältesten” – die Wortwahl ist abwer­tend und eine Anspielung auf Stammesverhältnisse. Es gab in Theresienstadt zwi­schen November 1941 und Frühling 1945, wäh­rend des vier­jäh­ri­gen Bestehens des Ghettos, auf­ein­an­der fol­gend drei Judenälteste. Der ers­te, Jakob Edelstein, war aus Prag, Zionist und für die Jugend. Nach zwei Jahren in der Nazi-Hölle, wo den Juden abso­lut alles ver­bo­ten war, hieß er die Schaffung Theresienstadts mit blin­dem Optimismus will­kom­men und hoff­te dar­auf, dass das schwe­re Leben, das sie erwar­te­te, eine Vorbereitung für ihr zukünf­ti­ges Leben in Palästina sein möge. Die Nazis ver­haf­te­ten ihn im November 1943, depor­tier­ten ihn nach Auschwitz und töte­ten ihn sechs Monate spä­ter durch einen Genickschuss, nach­dem sie vor sei­nen Augen und auf die­sel­be Weise sei­ne Frau und sei­nen Sohn ermor­de­tet hatten.
Der zwei­te Älteste hieß Paul Eppstein, er war aus Berlin und starb eben­falls durch einen
Genickschuss in Theresienstadt am 27. September 1944. Benjamin Murmelstein, der drit­te und letz­te, ein Rabbiner aus Wien, wur­de im Dezember 1944 zum Ältesten ernannt.
Murmelstein war von beein­dru­cken­dem Äußeren, ein bril­lan­ter Kopf, der Intelligenteste der drei und, viel­leicht, der Mutigste.
Anders als Jakob Edelstein konn­te er sich mit dem Leid der Alten nicht abfin­den. Obwohl es
ihm gelang, das Ghetto bis in die letz­ten Kriegstage zu erhal­ten und des­sen Bewohnern die von Hitler ange­ord­ne­ten Todesmärsche zu erspa­ren, zog er sich den Hass einer Reihe Überlebender zu.
Es wäre ihm ein Leichtes gewe­sen, zu flie­hen. Er tat es nicht und ließ sich lie­ber von den
Tschechen ver­haf­ten und ein­sper­ren, nach­dem man ihn der Kollaboration mit dem Feind bezich­tigt hat­te. Er saß acht­zehn Monate im Gefängnis, bevor er in allen Punkten der Anklage frei­ge­spro­chen wurde.
Er ging ins römi­sche Exil, wo er ein har­tes Leben führ­te. Er reis­te nie nach Israel, obwohl er
den tie­fen Wunsch dazu heg­te und die­ses Land auf­rich­tig liebte.
Alle Judenältesten fan­den ein tra­gi­sches Ende. Benjamin Murmelstein ist der ein­zi­ge Vorsit-
zen­de des Judenrates, der über­leb­te. Das macht sein Zeugnis so unend­lich wert­voll. Er lügt
nicht, er ist iro­nisch, sar­do­nisch, hart gegen­über ande­ren und sich selbst.
Bezug neh­mend auf den Titel von André Schwarz-Barts Meisterwerk Der Letzte der Gerechten nennt er sich selbst „Der Letzte der Ungerechten”. Somit hat er die­sem Film den Namen gege­ben. Vor unse­ren Gesprächen im Jahr 1975 hat­te er auf Italienisch ein Buch geschrie­ben mit dem Titel Terezin. Il ghet­to model­lo di Eichmann, erschie­nen 1961.
Bei sei­ner ers­ten Erwähnung im Film sind wir im Jahr 1943, bei der Ankunft eines „Transports” deut­scher Juden aus Hamburg. Seit 1941 aber hat­ten sich in Theresienstadt vor allem tsche­chi­sche und öster­rei­chi­sche Juden befun­den. Dank ers­te­rer, Mitglieder des Technischen Büros, die Baupläne erstel­len muss­ten und her­vor­ra­gen­de Zeichner waren, ver­fü­gen wir über eine unver­gleich­li­che Sammlung von Kunstwerken, die Zeugnis dar­über ablie­fern, wie das Leben im „Vorzeige-Ghetto” wirk­lich war: Gebaut für maxi­mal 7.000 Soldaten fing Theresienstadt zu Spitzenzeiten 50.000 Juden auf. Die meis­ten die­ser genia­len Künstler, die in tiefs­ter Nacht auf­stan­den, um heim­lich ihre Bilder und Zeichnungen zu schaf­fen, die sie dann in der Erde ver­gru­ben, wur­den in den Gaskammern der Vernichtungslager ermordet.”
Claude Lanzmann

derletztederungerechten

Claude Lanzmann & Benjamin Murmelstein

Frankreich/Österreich 2013, Farbe,
218 Minuten

deutsch, fran­zö­si­sche Teile
mit deut­schen Untertiteln

Regie: Claude Lanzmann
Drebbuch: Claude Lanzmann
Kamera: Caroline Champetier,
William Lubtchansky

Schnitt: Chantal Hymans

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