Archiv des Autors: Christian Suhren

Silent Friend

Ein Film von Ildikó Enyedi. Ab 15.1. im fsk.

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Ein alter Ginkgobaum im bota­ni­schen Garten in Marburg steht im Mittelpunkt die­ses poe­tisch ange­hauch­ten fil­mi­schen Essays. Der Baum ist stil­ler Zeuge drei­er Lebensgeschichten zu unter­schied­li­chen Zeiten. Im Jahr 1908 ver­sucht die ers­te Studentin der Uni Marburg, Grete (Luna Wedler), mit ihrer Kamera ver­bor­ge­ne Naturmuster zu ent­de­cken. 1972 erfährt der Student Hannes (Enzo Brumm) durch die stil­le Begegnung mit einer Geranie eine inne­re Wandlung. Und 2020 reist ein Neurowissenschaftler (Tony Leung Chiu-wai) aus Hongkong an, um ein unge­wöhn­li­ches Experiment an und mit dem Ginkgobaum vor­zu­neh­men. Sein Ziel: Tiefere Einblicke in die mensch­li­che Seele zu erlangen.

In „Silent Friend“ ist es kein mensch­li­cher Charakter, der die ein­zel­nen Elemente mit­ein­an­der ver­bin­det. Es sind die Pflanzen und vor allem der majes­tä­tisch anmu­ten­de, fast 25 Meter hohe Ginkgobaum, der als Bindeglied der drei Episoden fun­giert. Allein die­ser Umstand macht „Silent Friend“ schon rein inhalt­lich unge­wöhn­lich. Der Baum ist stum­mer Zeuge der Zeit, die unauf­hör­lich vor­bei­rinnt und der Leben, die sich vor ihm abspielen.

Überhaupt nimmt Ildikó Enyedi das „Silent“ im Filmtitel mehr als wört­lich. Der ers­te abend­fül­len­de Film der unga­ri­schen Regisseurin und Drehbuchautorin seit vier Jahren ist geprägt von Ruhe, Entschleunigung und einer andäch­ti­gen Aura. Sie erzählt lang­sam und beson­nen. Ergänzend kom­men, pas­send dazu, lan­ge Einstellungen und Kamerafahrten sowie außer­ge­wöhn­li­che Blickwinkel und Perspektiven hin­zu. Wenn Enyedi zwi­schen den Ästen hin­durch­filmt, regel­recht in die Blätter hin­ein­zoomt und ver­schie­de­ner Pflanzen mal aus der Ferne, mal in Close-Ups zeigt, dann kom­men wir der Natur (optisch) auf beson­de­re Weise nah.

Die Kameraarbeit von Gergely Pálos und der gesam­te visu­el­le Stil zäh­len ohne­hin zu den gro­ßen Stärken. Das Besondere: Jede Episode ist in einem ande­ren Filmmaterial (16mm, 35mm, digi­tal) gehal­ten und die Optiken der jewei­li­gen Zeitebenen vari­ie­ren stark. So unter­schei­den sich die Episoden nicht nur inhalt­lich und the­ma­tisch, son­dern eben­so in ihrer Wirkung und sorg­fäl­tig durch­kom­po­nier­ten Ästhetik.

Einige Gemeinsamkeiten zwi­schen den Figuren der lose mit­ein­an­der ver­knüpf­ten Einzelgeschichten gibt es aller­dings durch­aus. Sie alle, von Grete über den Studenten bis hin zum Neurowissenschaftler, stel­len sich fol­gen­de Fragen: Was neh­men Pflanzen wahr? Und wie kann man mit ihnen in Kontakt tre­ten bzw. kom­mu­ni­zie­ren? Die Kernfrage, die Enyedi antreibt, geht noch­mals wei­ter und tie­fer. Sie erforscht in „Silent Friend“ zuvor­derst die Aspekte der (mensch­li­chen) Verbundenheit mit der Natur und wie sich die Wechselwirkungen zwi­schen den Lebewesen genau mani­fes­tie­ren. Die Pflanze als beein­dru­cken­des, sen­si­ti­ves Geschöpf, das dem Menschen Kraft und Halt geben kann – nach der Betrachtung von „Silent Friend“ hallt vor allem die­se Botschaft lan­ge nach.

Ebenso blei­ben die über­zeu­gen­den dar­stel­le­ri­schen Leistungen im Gedächtnis. Allen vor­an Luna Wedler im his­to­ri­schen Erzählstrang und Tony Leung Chiu-wai fas­zi­nie­ren mit fein­füh­li­gen, nuan­cier­ten Performances. Mit wür­de­vol­ler Zurückhaltung agie­ren sie in ihren Rollen und las­sen den Pflanzen Raum für Entfaltung und, im wahrs­ten Sinne, Wachstum.
Björn Schneider | programmkino.de

Credits:

DE/HU/FR 2025, 147 Min., deutsch, eng­li­sche OmU
Regie: Ildikó Enyedi
Kamera: Gergely Pálos
Schnitt: Károly Szala
mit: Tony Leung Chiu-wai, Luna Wedler, Enzo Brumm, Sylvester Groth, Martin Wuttke, Johannes Hegemann, Rainer Bock, Marlene Burow, Léa Seydoux

Trailer:
SILENT FRIEND I HD-Trailer I Ab 22.01.2026 im Kino
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Ein einfacher Unfall

Ein Film von Jafar Panahi. Ab 8.1. im fsk.

[Credits] [Tickets & Termine] [Trailer]

Ein ein­fa­cher Unfall, Gewinner der Goldenen Palme von Cannes, ist eine furcht­lo­se Leistung des Filmemachers Jafar Panahi – zugleich hoch­po­li­tisch und zutiefst mensch­lich. Mit uner­bitt­li­cher Klarheit stellt der Film mora­li­sche Fragen nach Wahrheit und Ungewissheit, Rache und Gnade.
Als der Automechaniker Vahid zufäl­lig auf den Mann trifft, der ihn mut­maß­lich im Gefängnis gefol­tert hat, ent­führt er ihn, um Vergeltung zu üben. Doch der ein­zi­ge Hinweis auf Eghbals Identität ist das unver­kenn­ba­re Quietschen sei­ner Beinprothese. Auf der Suche nach Gewissheit wen­det sich Vahid an einen zer­streu­ten Kreis ande­rer, inzwi­schen frei­ge­las­se­ner Opfer. Doch je tie­fer sie in ihre Vergangenheit ein­tau­chen und je mehr ihre unter­schied­li­chen Weltanschauungen auf­ein­an­der­pral­len, des­to grö­ßer wer­den die Zweifel: Ist er es wirk­lich? Und was hie­ße Vergeltung überhaupt?

Die Figuren des Films sind zwar fik­tiv, doch die Geschichten, die sie erzäh­len, basie­ren auf rea­len Ereignissen, die von ech­ten Gefangenen erlebt wur­den. Echt ist auch die Vielfalt die­ser Figuren und ihrer Reaktionen. Einige wer­den sehr gewalt­tä­tig und von Rachegelüsten getrie­ben. Andere wie­der­um ver­su­chen, einen Schritt zurück­zu­tre­ten und über lang­fris­ti­ge Strategien nach­zu­den­ken. Einige waren stark poli­ti­siert – oder wur­den es. Andere waren es über­haupt nicht und wur­den fast zufäl­lig ver­haf­tet. Letzteres trifft auf Vahid, die Hauptfigur, zu: Er war ein Arbeiter, der ein­fach nur sei­nen Lohn ein­for­der­te. Das Regime macht kei­nen Unterschied zwi­schen die­sen Menschen. Jede der ande­ren Figuren reprä­sen­tiert eine der vie­len, mehr oder weni­ger fest orga­ni­sier­ten Oppositionsgruppen. Diese Gruppen gera­ten oft anein­an­der, sogar
hin­ter Gittern. Sie alle sind sich einig, dass sie das Regime ableh­nen, aber dar­über hin­aus gehen die Meinungen aus­ein­an­der. Seit dem Tod von Mahsa Amini und dem Aufkommen von „Frau, Leben, Freiheit” hat sich die Ablehnung des Regimes weit ver­brei­tet. Oft wis­sen die Menschen jedoch nicht, womit sie es erset­zen sol­len. Das sieht man heu­te deut­lich: Zum Beispiel zei­gen sich vie­le Frauen nun ohne Hidschab in der Öffentlichkeit. Eine sol­che Form des mas­si­ven zivi­len Ungehorsams war vor weni­gen Jahren noch undenk­bar. Die Szenen im Film, die mit unver­schlei­er­ten Schauspielerinnen auf der Straße gedreht wur­den, spie­geln jedoch die heu­ti­ge Realität wider. Es sind die ira­ni­schen Frauen, die die­sen Wandel her­bei­ge­führt haben.„
Jafar Panahi

Credits:

Yek tasa­def sadeh یک تصادف ساده,
IR/FR/LU 2025, 102 Min., far­si OmU
Regie: Jafar Panahi
Kamera: Amin Jafari
Schnitt: Amir Etminan
mit: Vahid Mobasseri, Maryam Afshari, Ebrahim Azizi, Hadis Pakbaten

Trailer:
EIN EINFACHER UNFALL Trailer OmU German | Deutsch
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