Elle

Ein Film von Paul Verhoeven.

Ursprünglich woll­te Paul Verhoeven sei­ne Adaption von Philippe Dijans Roman „Oh…“ in Amerika ansie­deln, doch kei­ne bekann­te ame­ri­ka­ni­sche Schauspielerin wag­te sich an die Rolle. Zum Glück muss man sagen, denn nach den 130 spek­ta­ku­lä­ren, bril­lan­ten Minuten von „Elle“, mag man sich nie­mand ande­ren als Isabelle Huppert in der Hauptrolle vorstellen.

Huppert spielt Michèle, eine erfolg­rei­che Geschäftsfrau, die zusam­men mit ihrer Geschäftspartnerin und bes­ten Freundin Anna (Anne Consigny) ein Softwareunternehmen lei­tet, das mit bru­ta­len, sexu­ell auf­ge­la­de­nen Ego-Shootern viel Geld ver­dient. Zudem hat sie einen an sich selbst zwei­feln­den Ex-Mann (Charles Berling), einen Sohn (Jonas Bloquet), der sein Leben nicht in den Griff bekommt und sich von sei­ner Freundin ein Kind anhän­gen lässt, einen Liebhaber (Christian Berkel), der dum­mer­wei­se auch Annas Ehemann ist und eine Mutter (Judith Marge), die sich einen sehr jun­gen Lover hält. Zudem ist Michèle die Tochter eines Serienkillers, der seit Jahrzehnten wegen des Mordes aller Kinder der Nachbarschaft im Gefängnis sitzt und auch Michèle immer wie­der zum Opfer von Anfeindungen wer­den lässt.

Vielleicht des­we­gen ruft sie nicht die Polizei, als sie in der ers­ten Szene des Films von einem mas­kier­ten Mann ver­ge­wal­tigt wird. Stattdessen fegt sie die Scherben zusam­men, duscht und bestellt sich Sushi. Am nächs­ten Tag geht sie ganz nor­mal zur Arbeit und erzählt ihren Freunden beim gemein­sa­men Essen von der Tat. Als merk­wür­dig, als unty­pisch neh­men auch ihre Freunde Michèles Verhalten wahr und so geht es wohl auch vie­len Zuschauern. Dass Michèle nicht zusam­men­bricht, nicht weint, nicht gebro­chen ist, ent­spricht nicht dem Bild, das im Allgemeinen von einem Vergewaltigungsopfer gezeich­net wird. Dass Michèle ande­res reagiert, sich zwar mit Pfefferspray bewaff­net, in ihrer Firma und ihrem Umfeld nach dem Täter forscht, aber nicht in Angst erstarrt, darf man nun wie­der­um nicht so auf­fas­sen, dass Verhoeven die phy­si­schen und vor allem psy­chi­schen Folgen einer Vergewaltigung baga­tel­li­sie­ren würde.

Oft wur­de Verhoeven vor­ge­wor­fen, frau­en­feind­lich zu sein, Filme zu dre­hen, in denen Frauen aus­ge­beu­tet, benutzt und miss­braucht wer­den. Dass die­se oft dras­ti­schen Darstellungen in Filmen wie „Türkische Früchte“, „Spetters“, „Basic Instinct“ oder „Showgirls“ nicht etwa Verhoevens per­sön­li­che Ansichten wie­der­ga­ben, son­dern sei­ne Wahrnehmung einer von Männern und männ­li­chem Begehren domi­nier­ten Welt, wur­de oft igno­riert. Dabei gibt es kaum einen Regisseur, der glei­cher­ma­ßen so star­ke Frauenfiguren insze­niert und einen so skep­ti­schen, ja oft zyni­schen Blick auf sei­ne männ­li­chen Geschlechtsgenossen hat.

In „Elle“ geht Verhoeven so weit wie sel­ten: Keine der Männerfiguren kommt gut weg, alle­samt sind es nur schein­ba­re Vertreter des star­ken Geschlechts, die sich meist hin­ter offen­siv zur Schau gestell­ten Männlichkeit – und Sexualität – ver­ste­cken, in Wirklichkeit aber von Selbstzweifeln und Schwäche geplagt sind. Umso pas­sen­der, dass am Ende des Films zwei Frauen gemein­sam in den Horizont gehen, in gewis­ser Weise die Männer hin­ter sich lassend.

Eine bril­lan­te, poin­tier­te Gesellschafts-Satire ist Paul Verhoeven mit „Elle“ gelun­gen. Er erzählt eine bewusst über­zeich­ne­te, über­dreh­te, kon­stru­ier­te Geschichte, die auf dem Papier voll­kom­men unglaub­wür­dig ist. Doch genau das ist Verhoevens Kunst, das genia­li­sche an einem Film, der erst durch sei­ne zuge­spitz­te Darstellung so wahr­haf­tig von Frauen- und Männerbeziehungen erzäh­len kann.

Michael Meyns

Frankreich 2016, 130 Min., frz. OmU
Regie: Paul Verhoeven
Buch: David Birke, nach dem Roman von Philippe Dijan
Kamera: Stéphane Fontaine
Schnitt: Job ter Burg
Darsteller: Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny, Charles Berling, Virginie Efira, Judith Magre, Christian Berkel, Jonas Bloquet